„Coaching bei Stress-Belastung“ von Renate Dehner

Stress-Belastungen gibt es nicht erst seit Corona, doch sie haben im vergangenen Jahr deutlich zugenommen – Personalabteilungen, Coaches, Krankenkassen und auch Psychotherapeuten wissen ein Lied davon zu singen.

Gelegentlichen Stress verkraften die meisten Menschen problemlos. Schwierig wird es, wenn man sich einem permanenten Stress ausgesetzt sieht, weil man vielleicht nicht nur im Beruf, sondern auch im Privatleben unter großem Druck steht. Dann hat man auch keine Möglichkeit mehr, die Stress-Hormone, die der Körper unentwegt ausschüttet, wieder abzubauen. Gelegentlichen Stress kann man kompensieren, indem man sich bewegt, joggt, tanzt, schwimmt, Rad fährt, Krafttraining macht, was auch immer, und zusätzlich vielleicht noch Achtsamkeitstechniken wie Meditation oder ähnliches einsetzt. Diese Mechanismen versagen bei Dauerstress und die Folge davon kann ein Burnout sein. Burn-Out entsteht dann, wenn es zu einer länger andauernden Überschüttung mit Stress-Hormonen kommt.

Wie kommt es zu einem Burn-Out?

Verantwortlich für das Ausschütten von Stress-Hormonen ist die Amygdala. Hat man es mit Dauerstress zu tun, weil die Amygdala durch schwierige Situationen im Beruf und zu Hause permanent angeregt wird, den Körper mit Kortisol und Adrenalin zu überschwemmen, fehlen meist auch die Kraft und der Wille, sich durch Bewegung abzureagieren und zu regenerieren.

Die Erfahrung zeigt, dass bei einem Burn-Out für gewöhnlich das Zusammentreffen mehrerer belastender Faktoren gegeben ist. Es handelt sich nicht nur um eine Überlastung durch berufliche Anforderungen, sondern meist spielen auch starke Belastungen aus dem privaten Bereich eine Rolle. Wenn jemand zum Beispiel ein stark forderndes Projekt zu stemmen hat, während er gleichzeitig ein familiäres Problem bewältigen muss und vielleicht noch Geldsorgen hat, so bringt ihn das an die Grenze der psychischen Belastbarkeit.

Zu dieser ohnehin schwierigen Ausgangslage addieren sich oft noch psychologische Faktoren, zum Beispiel der Perfektionismus, der bei etlichen Führungskräften zu finden ist: Man hat den Anspruch, alles perfekt zu machen, am besten überhaupt alles selbst zu machen, denn nur dann ist man ja wirklich sicher, dass es gut gemacht ist. Trotzdem ist man nie zufrieden. Alle Verhaltensweisen, die mit dem beschrieben werden können, was die Transaktionsanalyse Antreiber nennt, also „Sei perfekt“, „Mach’s anderen Recht“, „Sei stark“, „Streng dich an“ und „Beeil dich“, bergen ein enormes Stress-Potenzial. Kann man seinem Antreiber nicht gerecht werden, löst das einen „inneren Alarm“ aus – ein Alarm, der signalisiert, „Achtung – Gefahr! Du verhältst dich nicht so, wie du sollst, die Dinge laufen schief, das gibt eine Katastrophe!“ Dieser innere Alarm bringt die Amygdala in einem Bruchteil von Millisekunden dazu, Stress-Hormone auszuschütten – denn das ist ihr Job: Den Körper durch Stress-Hormone zu außergewöhnlichen Leistungen zu befähigen, um Krisen zu bewältigen.

Auch sogenannte Skript-Probleme, wie sie die Transaktionsanalyse beschreibt, die entstanden sind durch negative oder destruktive Botschaften, die man als Kind oder Jugendlicher empfangen oder zumindest so interpretiert und schließlich verinnerlicht hat, tragen durch den inneren Stress, den sie verursachen, zum Entstehen eines Burn-Out bei. Wurde jemand als Kind beispielsweise für die eigenen Leistungen ständig nur entmutigt, kann daraus der innere Zwang erwachsen, als Erwachsener permanent seine Fähigkeiten unter Beweis stellen zu müssen. Dieser innere Zwang zum permanenten „Gegenbeweis“ gegen die Botschaft „Du kannst nichts“ ist schon für sich genommen ein enormer Druck. Solange der „Gegenbeweis“ gelingt, d.h., solange man ausreichend äußere Erfolge vorweisen kann, ist das noch auszuhalten. Doch sobald derjenige sich überfordert fühlt und seine Strategie des Leistungsbeweises nicht mehr greift, kommt es zu einem Absturz. Das Gefühl der Überforderung löst immer mehr innere Alarme aus, was dazu führt, dass die Amygdala mehr und mehr Stress-Hormone ausschüttet.

Das allein muss nicht in einen Burn-Out münden, jeder gute Coach hat sich wahrscheinlich schon mit solchen Themen befasst, die im Coaching ohnehin häufig eine Rolle spielen: Also der Perfektionismus, das Beweisen-Müssen, wie gut man ist, oder das sogenannte Hochstapler-Syndrom, bei dem fähige und kompetente Menschen fürchten, bald würde der ganzen Welt offenbar werden, dass sie in Wirklichkeit gar nichts können. Kommen dann noch äußere Stress-Faktoren wie erhöhte Arbeitsbelastung oder anhaltende Verunsicherung wie durch die Pandemie und die damit verursachten unabsehbaren Veränderungen im Arbeitsleben dazu, wird der innere Druck immer größer.

Wenn jemand mit solchen Problemen zu kämpfen hat, so bedeutet zunächst einmal, dass man es mit einem gesunden Menschen zu tun hat, der an bestimmten Stellen wunde Punkte besitzt, die in der Amygdala Alarme auslösen. Es bedeutet nicht automatisch, dass er oder sie psychisch krank ist! Doch Menschen, die gerade einen Burn-Out erleiden oder akut davon gefährdet sind, bekommen häufig genau das als indirekt vermittelte Botschaft. Denn wenn eine Personal-Abteilung, Vorgesetzte oder nahestehende Personen den Eindruck gewinnen, dass jemand entweder schon an Burn-Out leidet oder erste Symptome anzeigen, dass dieser Fall bald eintreten könnte, ist das übliche Vorgehen, demjenigen eine Psychotherapie zu empfehlen. Also landen die Betroffenen häufig in einer psychotherapeutischen Praxis – oder noch häufiger zunächst auf der Warteliste einer solchen Praxis, denn Psychotherapeuten sind im Großen und Ganzen auf Monate hin ausgebucht. Das bedeutet eine unnötige Verlängerung ihrer Leidenszeit. Solche Probleme allein rechtfertigen auch keineswegs, einen Psychotherapeuten in Anspruch zu nehmen, der seine Zeit besser Menschen widmet, deren Symptome tatsächlich Krankheitswert besitzen. Es bedeutet einfach, dass die Menschen keinen Weg kennen, mit den inneren Alarmzuständen fertig zu werden.

Die Empfehlung, eine Therapie zu machen ist auch deshalb problematisch, weil eine Psychotherapie ihnen meistens nicht die Hilfe und Unterstützung bietet, die sie wirklich brauchen. Denn was sich im Coaching immer wieder gezeigt hat: Wenn jemandem ein Burn-Out droht, mangelt es oft auch an den richtigen Projektmanagement- und Selbstmanagement-Tools, weshalb sich ausschließlich auf der psychologischen Ebene ein Burn-Out meist nicht bewältigen lässt, jedenfalls, wenn man nachhaltige Ergebnisse erzielen will. Denn häufig tritt das Gefühl der Überforderung im beruflichen Bereich deswegen ein, oder geht auf jeden Fall damit einher, weil der- oder diejenige spürt oder fürchtet, dass wegen der großen Menge an Aufgaben der Überblick verloren geht. Dahinter steckt meist ganz einfach, dass er oder sie nicht mit den Tools arbeitet, die ein gutes Selbst-Management und ein erfolgreiches Projekt-Management ermöglichen. Solche Tools zu vermitteln dürfte wiederum die Psychotherapeuten überfordern, dafür sind sie für gewöhnlich nicht ausgebildet. Doch ohne die Klienten zu befähigen, ein hilfreiches Selbst- und Projektmanagement zu betreiben, hat man sie nach kurzer Zeit wieder vor sich. Sie kommen relativ schnell wieder in die gleiche Bredouille, wenn sie die Art und Weise, wie sie selbst und ihren Job organisieren, nicht ändern.

Was übrigens auch überhaupt nicht hilft, sind gute Ratschläge, die so manche selbsternannte „Burn-Out-Spezialisten“ von sich geben, zum Beispiel den „Die Dinge einfach nicht so an sich rankommen zu lassen“. „Na wunderbar“, denkt sich da der Burn-Out-Kandidat, „warum hat man mir das nicht schon früher gesagt! So ein Schrott, wenn ich wüsste, wie das geht, würde ich es freiwillig schon längst gemacht haben!“ Auch der väterliche Rat: „Sie müssen nicht perfekt sein!“ dürfte noch keinem einzigen Perfektionisten kurz vorm Burn-Out weitergeholfen haben. Es handelt sich schließlich selten um ein kognitives Problem – vom Verstand her ist wohl jedem klar, dass mehr innerer Abstand und weniger Perfektionismus guttun.

Kombination aus Selbstmanagement und Introvision Coaching

Es ist im Coaching ein empfehlenswerter Weg, bei Menschen, die unter starkem Stress stehen oder schon Burn-Out gefährdet sind, zuerst das Selbstmanagement zu erfragen. In manchen Fällen hat sich gezeigt, dass es genügte, mit den Klienten vernünftige Wege der Selbst- und Arbeitsorganisation zu erarbeiten, um ihnen den Druck zu nehmen. In einem Fall zum Beispiel war ein Manager schon auf dem Sprung, seinen Job hinzuschmeißen, was seine Firma in eine sehr schwierige Lage gebracht hätte, weshalb man ihm das Coaching ans Herz legte. Er hatte als anerkannter Spezialist die drei strategisch wichtigsten Projekte des Unternehmens zu verantworten und fühlte sich hoffnungslos überfordert. Er schlief nicht mehr, kam nicht mehr zur Ruhe, war kaum noch entscheidungsfähig und hatte den Spaß an der Arbeit verloren. Nach einer gründlichen Problemanalyse war klar, dass er seine Arbeitsorganisation verändern musste. Im Coaching erlernte er den Umgang mit einer Selbstmanagement-Software und wie er seine Projekte dort integrieren konnte. Schon nach der dritten Coaching-Sitzung fühlte er sich wieder gut in seinem Job, hatte die Projekte und Aufgaben im Griff, besaß den nötigen Überblick und hatte wieder Freude an der Arbeit. Laut eigener Aussage hatte der Coach ihm das Berufsleben gerettet.

Zu den ganz einfachen Selbstmanagement-Maßnahmen gehört zum Beispiel sich den Versuch des Multi-Taskings abzugewöhnen – schließlich ist es eine inzwischen anerkannte Tatsache, dass lediglich Mütter kleiner Kinder Multi-Tasking beherrschen. Beim Hin- und Herspringen zwischen Aufgaben, gehen Konzentration, Koordination und Überblick verloren – der Alarm springt an, der innere Druck steigt.

Das nächste ist der Umgang mit E-Mails. Wer dauernd seine Mails checkt, wird ständig in seiner Konzentration gestört und braucht deshalb mehr Zeit, um Aufgaben zu erledigen. Zweimal täglich Mails abzurufen genügt für gewöhnlich durchaus. Auch „Stille Stunden“, noch erstaunlich wenig weit verbreitet in deutschen Büros, sind sehr hilfreich, um zügig und konzentriert etwas abzuarbeiten.

Rückdelegationen zu erkennen und konsequent abzulehnen sollte für Führungskräfte selbstverständlich sein, ist es aber nicht… Rückdelegationen bewirken, dass Führungskräfte während ihrer Arbeitszeit mit den falschen Problemen beschäftigt sind. Statt nur ihrer eigenen, lösen sie auch noch die Probleme ihrer Mitarbeiter. Das führt zu zahllosen Überstunden, zu mehr Verantwortung, mehr Druck, mehr Stress.

Und last but not least fällt es vielen Führungskräften schwer, ihre Prioritäten richtig zu setzen. Besonders die berühmte 80/20-Regel fällt zu oft unter den Tisch. Die besagt, dass man mit 20% der Aufgaben 80% seines Erfolges sicherstellt. Deshalb ist es so wichtig, die Aufgaben herauszufinden, die wirklich wesentlich zur Zielerreichung beitragen.

Dass man gar nicht nach psychologischen Faktoren suchen muss, wie im oben angeführten Fall, ist allerdings eher die Ausnahme. Oft genug stecken innere Glaubenssätze oder Befürchtungen dahinter, die jemanden etwa veranlassen, sich viel zu viel Arbeit aufzuhalsen, die Mitarbeiter zu Rückdelegationen quasi zu ermutigen, oder sich auf irgendeine Art und Weise so viel inneren Druck zu machen, dass es, zusammen mit dem äußeren Druck, zu einer Überforderung und schlimmstenfalls zum Zusammenbruch kommt. Dann ist es für einen guten Coach unerlässlich, auf die psychologische Seite einzugehen. Dazu braucht man jedoch nicht auf eine tiefenpsychologische Reise in die Lebensgeschichte der Klienten zu gehen. Im Coaching hat sich nach unserer Erfahrung am besten die Introvision bewährt, um Klienten schnell und dauerhaft von ihrem Stress zu befreien.

Introvision wurde als Methode an der Uni Hamburg im Fachbereich Pädagogische Psychologie entwickelt, um den Stress von Lehrern zu reduzieren. Das war als eher langwieriges Verfahren jedoch nicht geeignet fürs Coaching. Doch in dem Format, wie es von der dehner academy als Introvision Coaching weiterentwickelt wurde, lässt es sich hervorragend im Coaching einsetzen und führt fast immer schon nach ein bis zwei Sitzungen zu spürbaren Ergebnissen, die die Klienten erleichtern und ihnen ihre Handlungsfähigkeit zurückgeben.

Während der Forschung, die zu Introvision gemacht wurde, hat sich gezeigt, dass Alarme und damit Stress durch das Zusammenwirken von „Imperativ“ und „Befürchtung“ ausgelöst werden. Ein innerer „Imperativ“ fordert entweder, dass etwas entweder auf jeden Fall zu geschehen hat („Ich muss diesen Auftrag bekommen!“ / „Ich muss für Harmonie sorgen!“ / „Ich muss gemocht werden!“ u. ä.) oder aber, dass etwas auf gar keinen Fall passieren darf („Ich darf dieses Projekt unter keinen Umständen vermasseln!“ „Ich darf nicht scheitern!“ „Ich darf die Anerkennung der anderen nicht verlieren!“ „Ich darf nicht abgelehnt werden!“ u.ä.) und dass zu diesem Imperativ, der den Menschen selten spontan so bewusst ist, als erster innerer Stimme eine zweite hinzukommt, die suggeriert, dass genau das eintreten könnte, was nicht sein darf. Wie ein leises Hintergrundraunen ist ständig die Befürchtung da: „Es könnte sein, dass ich den Auftrag nicht kriege“ oder „Es könnte sein, dass ich mit diesem Projekt scheitere“, „Es könnte sein, dass mich die anderen ablehnen“. Und meist geht das weiter mit „…Wenn ich nicht … tue“ Dieses „wenn ich nicht“ beschreibt die „Lösungs-Strategie“ die man sich irgendwann, häufig, aber nicht zwingend, schon als Kind angeeignet hat: „Wenn ich mich nicht wahnsinnig anstrenge“ / „Immer perfekt bin“ / „Es den Anderen Recht mache“.

Es lässt sich leicht vorstellen, dass jemand, der beispielsweise ein schwieriges Projekt zu bewältigen hat, bei dem einiges nicht funktioniert, weil der Kunde immer mal wieder unzufrieden ist, weil Termine nicht eingehalten werden können, weil es zu Fehlern kommt, zunehmend stärker unter Druck gerät, weil sein Imperativ „Ich darf bei diesem Projekt nicht scheitern!“ immer mehr von seiner Befürchtung, doch noch zu scheitern, konterkariert wird.

Ist der Imperativ durch solche Befürchtungen bedroht, wird in der Amygdala in Sekundenbruchteilen ein Alarm ausgelöst: „Achtung, höchste Gefahrenstufe, es muss was getan werden!“ Also wird die Stresshormon-Ausschüttung ausgelöst, weil Adrenalin und Kortisol Menschen sofort zu Höchstleistungen befähigen. Leider ist einem Projektmanager mit dem, wozu ihn Stresshormone am besten befähigen, nämlich verdammt schnell zu rennen, nicht gedient. Und weil er vor lauter Stress auch in seiner Freizeit nicht mehr rennt, lagern sich die Stresshormone im Körper an und sorgen für Schlaflosigkeit, Unruhe, Nervosität, Mangel an Konzentration, was im schlimmsten Fall zum Burn-Out führt.

Die Amygdala reagiert auf das, was sie als Gefahrensignal wahrnimmt, unvergleichlich schnell, etwa zweihundert Mal schneller als das Großhirn, in dem die Ratio beheimatet ist. Diese blitzartige Alarmfunktion ist für uns Menschen im Großen und Ganzen ein Segen – in diesem besonderen Fall allerdings eher ein Fluch. Hat jemand in einer guten psychosomatischen Klinik in einem mehrwöchigen Aufenthalt durch den physischen Abstand zu seiner Arbeit auch inneren Abstand gefunden, wird er oder sie nach der Rückkehr in den Alltag unter Umständen sehr bald wieder mit den gleichen Problemen und Symptomen wie vorher konfrontiert sein. Wie gesagt, die Amygdala reagiert auf die auslösenden Reize um ein Vielfaches schneller als das kognitive Bewusstsein. Das heißt, bevor man sich auch nur den ersten Halbsatz der Stress-Bewältigungs-Strategien, die man gelernt und verstanden hat, vorsagen kann, ist die Stresshormon-Ausschüttung schon passiert.

Was jedoch wirklich hilft: Die Alarme zu löschen! Dafür hat sich Introvision Coaching bislang am besten bewährt. Sind die Alarme gelöscht, kehrt auch die Gelassenheit zurück. Durch kognitive Erkenntnisse, wie sie mit psychotherapeutischen Methoden erzielt werden, lassen sich zwar Verbesserungen erzielen, doch sie löschen die Alarme nicht, weshalb die alten Probleme wiederkehren, wenn die Trigger nur stark genug sind. Deshalb nützen auch die vernünftigen Überlegungen, die man sich in ruhigen Momenten macht, nichts, wenn man sich wieder in einer Situation befindet, die einen Alarm auslöst – sie kommen einfach zu spät. Für die Amygdala genügt schon eine Übereinstimmung von nur 10- 15 % Prozent mit alten Erfahrungen, dass die Situation sich genauso entwickeln könnte, wie sie es keinesfalls darf, um alarmiert zu sein und die Stresshormone abzufeuern.

Auch wenn man über die lebensgeschichtlichen Zusammenhänge Bescheid weiß, also dass etwa der strenge Vater, der inkompetente Lehrer, der schreckliche erste Chef oder ein sonstiger Umstand dazu geführt hat, dass man jetzt Herzklopfen bekommt, weil man Angst hat, man könnte versagen, hilft das nicht weiter, ohne Stress mit der Situation umzugehen. Denn die lebensgeschichtlichen Zusammenhänge, die es selbstverständlich gibt, sind zwar ganz interessant, tauchen in der Arbeit mit Introvision Coaching auch auf, doch sie sind nicht entscheidend für das Löschen der Alarme. Statt also nach lebensgeschichtlichen Zusammenhängen zu forschen, weshalb sich jemand unter Druck setzt, ist es viel wichtiger, direkt an die Alarme heranzukommen, und die zu bearbeiten.

Die Logik dahinter, ist folgende: Alarme dienen dazu, Handlungen auszulösen! Sie haben keinen Sinn an sich, sondern nur den Zweck, etwas anderes zu bewirken. Die Sirenen der Feuerwehr sollen alle anderen zum Platzmachen bewegen, der Alarm bei einem Einbruch ruft die Polizei, der Feueralarm in einem Gebäude bedeutet „Alle schnellstmöglich raus hier!“ Ein Alarm, der keine Handlung auslöst, ist sinnlos, man kann ihn auch bleibenlassen.

Für die Alarme, von denen wir sprechen, bedeutet das, solange der Alarm noch eine Reaktion bewirkt, man hektisch wird, aufgeregt, nach Lösungen oder Scheinlösungen sucht, sein Gedankenkarussell kreiseln lässt usw., solange scheint er „sinnvoll“ zu sein. Deshalb war es ein Geniestreich von Professor Angelika Wagner an der Uni Hamburg, sich zu fragen „Was passiert eigentlich, wenn man die Menschen den Alarm einfach mal nur beobachten lässt? Wenn man sie anleitet, den Alarm über sich ergehen zu lassen, ohne den geringsten Versuch, irgendetwas dagegen zu tun?“

Wenn sie mit der richtigen Technik angeleitet werden, erleben Menschen dabei etwas Verblüffendes: Der Alarm legt sich peu á peu, wird schwächer, bis er schließlich ganz verschwindet. Das liegt an seiner Natur: Er soll ja Handlungen auslösen. Wenn keine „Handlungen“ mehr erfolgen, wird auch der Alarm, der jedes Mal eine Menge Energie kostet, überflüssig. Das menschliche Gehirn, seinem Wesen nach ein „Energiespar-Modell“, unterlässt den Alarm schließlich, wenn der Mensch mit der Situation konfrontiert wird, die ihn früher so gestresst hat. Ohne Stress kann er oder sie wieder klar denken, bessere Entscheidungen treffen, hat seine Souveränität und Gelassenheit zurück.

Das konkrete Vorgehen in Kürze

Im Introvision Coaching muss zunächst der genaue Imperativ herausgearbeitet werden. Von entscheidender Bedeutung ist, den Imperativ mit der haargenauen Wortwahl des Klienten zu ermitteln. Im nächsten Schritt wird daraus der Satz formuliert, der diesen Imperativ am treffendsten bedroht, der also genau die Befürchtung, was nicht sein darf, zum Ausdruck bringt. Auf diesen Satz kommt es in der Arbeit entscheidend an, denn er muss den inneren Alarm auslösen. Da kann es einen großen Unterschied machen, ob der Imperativ lautet „Ich darf nicht versagen“ oder „Ich darf nicht scheitern“ – auch wenn es der Sache nach auf das Gleiche hinausläuft.

Bevor die Arbeit mit dem Alarm beginnen kann, müssen Klienten jedoch erst den wichtigen Schritt erlernen, ohne den Introvision Coaching nicht funktioniert. Der Coach muss den Klienten beibringen, wie sie die Haltung der weiten Wahrnehmung einnehmen können, die es ihnen erst ermöglicht, den Alarm einfach ablaufen zu lassen, rein beobachtend, ohne irgendwie gedanklich einzugreifen. Mit Hilfe der weiten Wahrnehmung sind Klienten in der Lage, das was Alarme alles bewirken – auf der Körperebene z.B. Spannung, Druck in der Brust, Verkrampfungen, im mentalen Bereich etwa Gedankenkreiseln oder fieberhaftes Überlegen, und emotionales Geschehen, etwa Angst, Trauer, Wut oder Zorn – einfach nur zu beobachten. Es geht darum nichts zu bewerten, nichts verändern, nichts lösen zu wollen, denn das alles ist ein „Eingreifen“ und gibt dem Alarm neue Nahrung. Die Klienten lernen zunächst das, was im Mindfulness Based Stress Reduction Programm „Achtsamkeit“ genannt wird. Mit der richtigen Anleitung gelingt das meist sehr schnell.

Wenn die Klienten die Haltung der weiten Wahrnehmung einnehmen können, konfrontiert der Coach sie mit dem Satz, der ihren Alarm auslöst. Der Alarm muss ausgelöst und er muss erlebt werden, sonst ist die Arbeit mit Introvision Coaching nicht möglich. Die Klienten bleiben so lange in der Haltung der weiten Wahrnehmung, wie es ihnen möglich ist, aber nicht länger als zehn Minuten. Sie bewerten die Höhe des Alarms auf einer Skala von eins bis zehn – und beobachten dann ihre Reaktionen auf den Satz. In diesem ersten Setting erleben die meisten Klienten schon eine Verringerung des Alarms. Bei einem zweiten Setting reduziert sich der Alarm für gewöhnlich noch weiter.

Damit ist die Arbeit aber noch nicht zu Ende. Die Klienten erhalten als Hausaufgabe, täglich selbst weiter zu üben. Dazu erhalten sie vom Coach die Aufnahme, die während des ersten Settings gemacht wurde. Die Arbeit muss so lange wiederholt werden, bis der Alarm bei null ist, oder bis zur nächsten Coaching-Sitzung, bei der man mit dem Coach weiter arbeitet. Der Alarm muss bei null ankommen, sonst ist er nicht dauerhaft gelöscht und baut sich womöglich wieder auf.

Klienten berichten nach der Arbeit mit Introvision Coaching immer wieder, wie erstaunlich und verblüffend für sie die Erfahrung ist, eine vorher so stressige Situation plötzlich souverän und rational bewältigen zu können.

Ganz allein mit sich selbst Introvision Coaching zu machen, wenn man noch nie eine Anleitung erhalten hat, funktioniert leider meist nicht besonders gut. Es scheint vor allen Dingen nicht leicht zu sein, tatsächlich den oder die richtigen Imperative zu identifizieren. Eine hilfreiche Möglichkeit, mit einer stressigen Situation umzugehen, ist jedoch, sich ein wenig Zeit und Ruhe zu nehmen und die Frage „Was ist das, was mich daran wirklich stresst?“ nach innen sinken zu lassen und, ohne aktiv danach zu suchen, zu warten, welche Antworten auftauchen. Also nicht überlegen oder grübeln, sondern einfach die Antworten kommen lassen – vielleicht ist eine Überraschung dabei.

Renate Dehner

Literaturhinweise:

  • Renate Dehner & Ulrich Dehner (2019). Steh dir nicht im Weg – Wie Sie mentale Blockaden überwinden und sich das Leben leichter machen (3. komplett überarbeitete und ergänzte Auflage). Campus Verlag. → Rezension
  • Ulrich Dehner & Renate Dehner (2016). IntrovisionCoaching. managerSeminare Verlags GmbH. → Rezension
  • Ulrich Dehner & Renate Dehner (2013). Transaktionsanalyse im Coaching. managerSeminare Verlags GmbH, Bonn. → Rezension

Seit mehr als 30 Jahren unterstützt die dehner academy mit Leidenschaft, Expertise und Erfahrung Menschen dabei, sich weiterzuentwickeln. Hervorgegangen aus den Konstanzer Seminaren, die Dipl.-Psych. Ulrich Dehner 1986 gründete, ist die dehner academy heute Experte für Organisationsentwicklung und Changemanagement, Beratung, Führungs- und Vertriebs-Trainings, Business- und Life-Coachings und in Ausbildungsreihen für Coaches, Führungskräfte und Personaler.

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Dunkle Gedanken

„Haben Sie sich auch schon einmal die Frage gestellt, was mit Ihnen passieren würde, wenn Sie eines Tages krank werden und – warum auch immer – finanziell nicht außerordentlich gut abgesichert oder entsprechend versichert wären? Wie ginge man dann wohl mit Ihnen um? Würden Sie noch die Zuwendung und Aufmerksamkeit erwarten können, die Sie eigentlich bräuchten? Gäbe es noch Menschen, die sich wirklich um Ihr Wohlbefinden kümmern? Wenn Sie Glück haben, gibt es Menschen in Ihrem Umfeld, die sich auch dann noch um Sie bemühen. Wenn Sie hingegen Pech haben, gibt es die nicht. Und sollten Sie genug Geld haben, könnte es sein, dass Sie (vielleicht vollkommen fremde) Personen motivieren können, sich um Sie zu kümmern. Inwieweit diese Zuwendungen dann allerdings aufrichtig sind, können Sie vermutlich – wenn überhaupt – erst dann einschätzen, wenn es soweit ist. Nicht immer ist das m. E. jedenfalls selbstverständlich. Und was wäre dann? Sollten wir uns so aus unserem Leben verabschieden müssen?“

Das ging mir gestern durch den Kopf. Es lag ein langer und anstrengender Tag hinter mir, an dem ich mich mit vielen schwierigen Themen beschäftigt hatte. Mit den meisten von ihnen hätte ich mich eigentlich gar nicht befassen müssen, habe es aber dennoch getan. Als mir am frühen Abend die Decke wieder einmal auf den Kopf zu fallen schien, haben mich diese dunklen Gedanken plötzlich „überfallen“, woraufhin ich sie verschriftlicht und öffentlich gemacht habe.

Was war da mit mir geschehen?

Der Psychotherapeut Aaron T. Beck hat bereits in den 1960er Jahren über derartige Phänomene berichtet und Techniken entwickelt, mit denen sich die betroffenen Menschen von solchen Gedanken lösen können. Er nannte das, was ich gestern getan habe, „Katastrophisieren“, das neben dem dichotomen Denken, der Übergeneralisierung, dem willkürlichen Schlussfolgern, dem Personalisieren etc. zu den sogenannten Denkfehlern bzw. -fallen zählt. Ein Kollege bezeichnete meine gestrigen Aussagen als „Trugschluss“, worin ihm m. E. zuzustimmen ist. Wenn ich in Seminaren darüber spreche, versuche ich stets darauf hinzuweisen, dass nicht nur Menschen mit einer psychischen Erkrankung dazu neigen, sondern bestimmt jeder hier und da mal in eine dieser Fallen hineintappt. Solange solche Gedanken nicht überhand nehmen, ist das nicht weiter bedenklich. Der Psychiater Daniel G. Amen verwendet hierfür das Gleichnis eines Picknicks, in dem eine Ameise auftaucht. Eine Ameise verdirbt einem noch nicht unbedingt die Freude am Essen. Werden es aber hunderte, sieht die Sache schon ganz anders aus. Im schlimmsten Fall kann sich dann nämlich eine Depression daraus entwickeln, die – wenn es nicht gelingt, sich aus der negativen Gedankenspirale zu befreien, in ihrer letzten Konsequenz vielleicht sogar in einem Suizid mündet.

Was kann man also tun, sollte man bemerken, dass man selbst zu solchen dysfunktionalen Gedanken neigt? Am einfachsten ist es gewiss, sich irgendwie abzulenken und an etwas wohltuenderes zu denken. Gelingt das nicht, kann es hilfreich sein, die Gedanken aufzuschreiben, so wie ich es bspw. gestern getan habe. Dadurch schafft man eine gewisse Distanz zu ihnen und kann sie anschließend hinterfragen oder auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen. In meinem Beispiel würde es sich m. E. anbieten, einmal zu schauen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein solches Katastropenszenario – oder „Horrorvorstellung, wie eine Leserin es nannte – vermutlich zutreffen wird? Wovon hängt es ab, ob jemand sich „so aus seinem Leben verabschieden muss“? Was kann die betreffende Person dafür tun, dass es nicht so kommen muss? Wie kann ihr das (vielleicht) gelingen?

Eine andere Leserin schrieb mir, dass wir eigentlich (Über-)Lebenskünstler seien und deshalb auch in der Lage sein müssten, „bestimmte Ressourcen in uns zu aktivieren“. Diese Erfahrung habe ich schon oft gemacht. In den Gesprächen mit jenen Patienten/-innen, die des Lebens müde geworden sind, frage ich deshalb nach einer Weile des (aktiven) Zuhörens bspw. danach, welche sinnstiftenden Beziehungen es in ihrem Leben vielleicht noch gibt oder gab? Was hat ihnen Freude bereitet und an welche Erlebnisse erinnern sie sich gern? Gibt es irgendwelche Dinge, die ihnen (auch jetzt noch) guttun? Manchmal gelingt es mit diesen oder ähnlichen Fragen, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken und die Stimmung meines Gegenübers (zumindest) ein Stück weit aufzuhellen.

Neben einigen wohltuenden Kommentaren, in denen ich Anteilnahme und Mitgefühl spürte, worüber ich mich sehr gefreut habe, erreichten mich auch persönliche Nachrichten. So wurde ich zum Beispiel gefragt, ob ich „ein Spiel spielen würde“? Nun, meine Gedanken waren echt. Allerdings habe ich inzwischen gelernt, sie nicht mehr allzu ernst zu nehmen bzw. sie nicht mehr so nah an mich heranzulassen, wie ich es noch getan habe, als ich jünger war. Dennoch überfallen sie mich manchmal noch, inbesondere wenn ich erschöpft und in nicht allzu guter Stimmung bin. Dann lege ich mich nach einer Weile in der Regel einfach ins Bett und schlafe. Am nächsten Morgen kann ich die Dinge dann meist schon wieder mit ganz anderen Augen sehen. Leider scheint das aber nicht jedem Menschen zu gelingen. Vor Kurzem habe ich bspw. mitbekommen, wie sich ein Bekannter von mir das Leben nahm. Hätte er die Kraft und den Mut aufbringen können, mit einer ihm vertrauten Person offen über das zu sprechen, was in ihm vorging, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen. Aber wer weiß das schon?

Heute fühlen sich meine gestrigen Gedanken jedenfalls nicht mehr so bedrohlich an. Mir hat es tatsächlich geholfen, sie zu Papier zu bringen und – auch wenn man darüber streiten kann, ob das wirklich gut oder sinnvoll ist – sie in die Welt hinauszuposaunen. Aufgrund der zahlreichen Rückmeldungen konnte ich mich heute früh, als ich ausgeruht war, nochmals mit ihnen befassen und sie daraufhin ad acta legen. Ich bin überzeugt davon, dass es wichtig ist, im Falle eines Falles das Gespräch zu suchen, insbesondere dann, wenn man es allein nicht schafft, sich von seinen trüben Gedanken zu befreien. Sollte man nicht wissen, mit wem man sprechen kann, empfehle ich, sich an die TelefonSeelsorge (https://www.telefonseelsorge.de/) zu wenden, deren Mitarbeiter/-innen rund um die Uhr ein offenes Ohr haben und hervorragend darin geschult sind, Menschen mit Nöten oder Sorgen in der Krise zu unterstützen bzw. aufzufangen.

Herzliche Grüße, Rainer Müller

Literaturhinweise:

  • Daniel G. Amen (2010). Das glückliche Gehirn. Goldmann Verlag.
  • Aaron T. Beck, A. John Rush, Brian F. Shaw & Gary Emery (2010). Kognitive Therapie der Depressionen (5. Auflage). Julius Beltz GmbH & Co. KG

Bild: Manfred Evertz, www.manfred-evertz-art.com

Das Ende vom Lied

Nicht jede Lebensgeschichte hat ein schönes Ende.

Im Februar 2021 habe ich eine Tätigkeit als Psychologe in einem Krankenhaus (Geriatrie) aufgenommen. Darüber habe ich vor Kurzem in dem Artikel Auf neuem Terrain berichtet. Seither wurde ich mehrfach gefragt, ob es gut für meine Psyche sei, mich mit dem Leid älterer, zum Teil schwer erkrankter Menschen zu befassen? Warum ich mir das überhaupt antue? Okay, die Probleme, über die man mit ihnen spricht, sind schon recht „speziell“ und in gewisser Hinsicht gravierender als jene, um die es in anderen Beratungskontexten geht. Aber was sollte ich dazu sagen? Ich habe mich jedenfalls nicht davon abhalten lassen, mich in einem solchen Arbeitsfeld zu betätigen.

Als ich im Dezember angesprochen wurde, ob ich noch Kapazitäten dafür hätte, mich für ca. zehn Stunden in der Woche mit geriatrischen Patienten/-innen zu befassen, ging ich davon aus, dem, was mich erwarten würde, gewachsen zu sein. Obwohl ich mich bereits intensiv mit meiner eigenen Endlichkeit auseinandergesetzt habe und weiß, was es bedeuten kann, schwer erkrankt zu sein, war ich doch überrascht, wie wenig ich tatsächlich auf das vorbereitet war, was ich dort nun erlebe. So habe ich zum Beispiel noch nie so häufig über Suizidalität reden müssen, wie ich es momentan tue.

Manchmal ist es im Leben wohl leider so, dass man sich wünscht, es wäre (endlich) vorbei. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie es war, als ich das am Ende meiner Pubertät so empfunden habe. Doch der Tunnelblick war nicht von Dauer. Auch bei anderen Menschen nicht. In den vielen Gesprächen mit jenen, die davor standen, sich etwas anzutun, oder es – wie ich damals – versucht haben, wurde mir immer wieder vor Augen geführt, dass der Lebensmut und auch die Freude am Sein bei fast allen eines Tages wieder zurückkehrte und sie sich von diesen destruktiven Gedanken befreien konnten. Diejenigen, die bei der Umsetzung ihrer Absicht erfolgreich waren, haben sich dieser Erfahrung entzogen und oftmals leidvolle Spuren hinterlassen. Gewiss gibt es besondere Umstände, in denen es m. E. durchaus verständlich ist, sich für ein selbstbestimmtes Sterben zu entscheiden. Welche genau das aber sind, ist eine Frage, die ich kaum beantworten kann und deshalb hier auch nicht thematisieren möchte. Für mich ist zunächst einmal jedes Leben wertvoll.

Quelle: pexels.com

Was es mit mir macht, wenn ich so häufig über Suizidgedanken und die ihnen zugrundeliegenden Motive oder Sorgen spreche, kann ich kaum in Worte fassen. Natürlich passiert es gelegentlich, dass ich dabei mit meinen eigenen Ängsten in Kontakt komme. Auch ich möchte gewiss niemandem zur Last fallen oder beim Toillettengang auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen sein. Körperlich beeinträchtigt zu sein und starke oder chronische Schmerzen zu haben, stelle ich mir ebenfalls nicht schön vor. Auch möchte ich keine Sauerstoffflasche solange mit mir herumtragen müssen, bis ich eines Tages trotzdem ersticke. Und das sind nur einige der Themen, um die es in den Gesprächen immer wieder geht.

Die momentane Situation erlaubt es leider nur sehr begrenzt, die gewohnte Zerstreuung oder Ablenkung zu finden, wodurch ich viel Zeit hatte, mich mit meinen Gedanken zu beschäftigen. Innerhalb weniger Wochen hat sich mein Blick auf meine eigene Zukunft so sehr verändert, dass ich nach neuen Möglichkeiten suchen musste, irgendwie damit umzugehen. Besonders deutlich wurde mir das, als ich an einem meiner freien Tage beschloss, die anderthalb stündige Anfahrtszeit nach Eutin auf mich zu nehmen, nur um nach einer Patientin zu schauen, deren Geschichte mich offensichtlich so sehr berührt hat, dass sie mich nicht mehr losließ.

Wie möchte ich künftig damit umgehen? Jene Verdrängungsstrategien und Abwehrmechanismen, die mich bislang davor bewahrten, mich mit derartigen Problemen auseinanderzusetzen, scheinen jedenfalls nicht mehr oder zumindest zurzeit nicht zu funktionieren. Mir ist klar geworden, wie wenig ich mich in der Vergangenheit um meine eigene Zukunft bemüht habe und wie unachtsam ich eigentlich mit meinem Körper umgehe. Kaum jemand weiß, wann und wie das eigene Leben zu Ende geht. Wir können aber natürlich etwas dafür tun, dass es nicht zum Schlimmsten kommen muss.

In den ersten Wochen habe ich fast in jeder Nacht unruhig geschlafen, träumte dabei unglaublichen Mist und dachte tagsüber immer wieder über das nach, worüber ich mit meinen Patienten/-innen gesprochen habe. Gelegentlich schienen meine Gedanken Amok zu laufen und sich mein Blick auf meine eigene Zukunft zu sehr auf das Leidvolle zu verengen. Es war also an der Zeit, etwas zu tun!

Als Psychologe sollte ich ja wissen, was zu machen ist, wenn die eigene Stressampel auf Rot umspringt. Dafür habe ich mir also Zeit genommen und mir zunächst die Frage gestellt, was ich mir für mein weiteres Leben wünsche? So kam ich auf die Idee, mir einen Zielkorridor – im Sinne eines konstruktiven Gegenentwurfs für die besagten Katastrophenszenarien – zu entwickeln. Damit bin ich zwar noch nicht fertig, arbeite aber daran. Hilfreich war es auch, mir meine Ängste genauer anzuschauen, also die vage Horrorvorstellung, ich würde eines Tages schwer erkrankt, verarmt und vollkommen hilflos sein, zu konkretisieren. Woran könnte ich erkranken? Wo wohne bzw. wie lebe ich dann vermutlich? Was würde realistischerweise geschehen, wenn ich „hilflos“ bzw. auf Pflege angewiesen wäre? Im nächsten Schritt habe ich mir die Frage gestellt, wie es mit mir wohl weiterginge, wenn ich an dieser Vorstellung festhielte? Gäbe es auch andere mögliche Zukünfte? Wie viele (in etwa)? Welche genau? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, genau die zu erleben, die mir gerade Angst macht? Kenne ich Menschen, die auch im hohen Alter ein Leben führen, dass ich für erstrebenswert halte? Im Grunde genommen habe ich also einen sokratischen Monolog geführt, der das Ziel hatte, meine irrationalen Überzeugungen aufzuweichen oder sie sogar aufzulösen. Das hat überraschend gut funktioniert. Jetzt fühle ich mich zumindest nicht mehr so aufgewühlt, wie ich es in den vergangenen Tagen getan habe.

Mein Verhalten habe ich schon jetzt ein Stück weit verändert: Da mir u. a. das COPD-Gespenst im Kopf herumgespukte, habe ich meinen Zigarettenkonsum deutlich reduziert und achte nun noch mehr darauf, wie ich mich ernähre. Ob das alles von Dauer ist, wird sich natürlich erst zeigen. Zudem habe ich das Gespräch mit einem erfahrenen Kollegen gesucht, also eine Art Supervision in Anspruch genommen.

Seinen Ängsten ist man nicht hilflos ausgeliefert. Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, aber äußerst wohltuend! Das Handtuch werfen wollte ich nämlich nicht. Ich fände es schade, wenn ich meine Entscheidung, mich mit den Problemstellungen des höheren Alters zu beschäftigen, eines Tages bereuen würde. Denn auf eine seltsame Art und Weise bereitet mir die Arbeit mit den hochbetagten Menschen sogar Freude. An die Schwere der Themen muss ich mich zwar wohl erst noch gewöhnen, ich denke aber, dass mir das gelingen wird. Inzwischen schlafe ich jedenfalls wieder wesentlich besser.

Mein Fazit? Achten Sie gut auf sich!

PS: Sollten Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie bitte mit jemandem darüber! Sie können zum Beispiel jederzeit kostenfrei bei der TelefonSeelsorge anrufen (0800/1110111 oder 0800/1110222). Die Inhalte der Gespräche werden selbstverständlich vertraulich behandelt.

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Das Nadelöhr subjektiver Sinndeutungen – Interview mit Prof. Dr. Jürgen Kriz

Dr. Jürgen Kriz ist approbierter Psychologischer Psychotherapeut und emeritierter Professor für Psychotherapie und Klinische Psychologie an der Universität Osnabrück, hatte aber auch an zahlreichen Universitäten Gastprofessuren. Er erhielt u. a. den Viktor-Frankl-Preis (2005), den AGHPT-Award (2014) und den Ehrenpreis der Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung (2016). Im Jahr 2020 wurde ihm für seinen Einsatz für die Förderung der Humanistischen Psychotherapie in Deutschland sowie für die konsequente Umsetzung humanistischer Werte das Bundesverdienstkreuz verliehen. In diesem Interview beantwortet er einige Fragen zur Personzentrierten Systemtheorie sowie zur Psychotherapie im Allgemeinen.

Warum wollten Sie damals eigentlich Psychologe werden?

„Psychologe“ – im heutigen Verständnis – wollte ich gar nicht werden; denn damals gab es noch gar kein Berufsbild „Psychologe“. Auch hatte ich sehr unklare Vorstellungen darüber, wie ein Psychologiestudium aussehen würde, als ich damit begann. Die letzten Jahre vor dem Abitur war für mich und meine Umwelt klar, dass ich Musik studieren würde. Das habe ich dann aber wenige Wochen vor Semesterbeginn in einer überraschenden Bauch-Entscheidung verworfen – was im Nachhinein sehr klug war, weil ich dann bestenfalls am 5. Pult eines drittklassigen Orchesters gelandet und versauert wäre. Meine eher begrenzten Fähigkeiten und Möglichkeiten wurden mir schlagartig klar, als es mit dem Musikstudium Ernst werden sollte.

Da ich als Kind einer Kriegerwitwe aber kein Geld für Bedenkzeit hatte, musste ich mich innerhalb weniger Wochen entscheiden. Vom Psychologiestudium hatte ich gehört, dass man damit später sehr viel Unterschiedliches machen kann. Das gab den Ausschlag. Und so bin ich in ein Studium gestolpert, das sich für mich als Glücksfall erweisen sollte.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Personzentrierte Systemtheorie zu konzipieren?

Als ich Anfang der 1980er mein Lehrbuch „Grundkonzepte der Psychotherapie“ schrieb – das heute in 7. Auflage vorliegt – habe ich ein Kapitel jeweils nur dann abgeschlossen, wenn ich so viel von einem Ansatz gelesen hatte, dass ich davon überzeugt war. Am Ende standen dann dort weit mehr als ein Dutzend Ansätze in den vier Grundorientierungen psychodynamisch, verhaltenstherapeutisch, humanistisch und systemisch. Von jedem Ansatz war ich überzeugt, dass er seine Berechtigung hat und wirkt – aber damit stellte sich die Frage: wie passt das alles zusammen?

Auf der Suche nach einer befriedigenden Antwort habe ich vieles Interessante gefunden. Aber irgendwie schien mir immer irgendetwas überbetont und anderes ausgeblendet zu sein. Ich selbst hatte zunächst eine Ausbildung in Personzentrierter Psychotherapie bzw. „Gesprächspsychotherapie“ absolviert und war durch einen klugen Mitarbeiter – und heutigen Freund und Kollegen –, Arist von Schlippe, mit dem damals noch neuen systemischen Ansatz in Kontakt gekommen. Das waren zwei Schwerpunkte – aber auch hier fehlte mir bald etwas: nämlich beim personzentrierten Ansatz die strukturelle Perspektive der Systemiker, die Systemiker hingegen waren auf Interaktionen fokussiert und blendeten die persönlichen Sinndeutungen und deren affektive Basis aus. Berücksichtigt man beides – und ignoriert auch einige weitere Erkenntnisse etwa aus der Säuglingsforschung oder der Evolutionspsychologie nicht beharrlich – so kommt man schnell zu einer Konzeption, die dann irgendwann „Personzentrierte Systemtheorie“ genannt wurde.

Es stand somit immer mein Wunsch im Zentrum, meine Klienten, Mitmenschen und mich selbst hinlänglich zu verstehen und dabei möglichst wenige zentrale Erkenntnisse auszublenden, welche die vier therapeutischen Grundorientierungen und die Psychologie auszeichneten. Meinen Ansatz nenne ich daher auch nicht integrativ – denn da kommt nicht Unterschiedliches zusammen. Sondern es ist genau andersherum: Ich versuche von dem, was in jedem Augenblick zusammenwirkt, möglichst wenig systematisch auszublenden.

Was bedeuten die 4 Systemebenen der PZS? Wo und wie spielen die in der Praxis eine Rolle?

Nehmen wir eine alltägliche Situation – etwa unser Gespräch jetzt. Wie kann ich meine Gedanken, Gefühle und mein Handeln verstehen, und wie das Ihre und unsere Interaktion?

Nun zunächst würde ich vielleicht – typisch personzentriert – darauf schauen, mit welchen Erwartungen und Vorstellungen ich in unser Gespräch gegangen bin, ob ich den Eindruck habe, dass wir uns tatsächlich unterhalten können (trotz der Einseitigkeiten eines Interviews) oder nur eine „Show“ abgezogen werden soll. Mir geht also durch den Kopf: was will mein Gegenüber – und dann die LeserInnen – wirklich wissen, was ist relevant, und wie kann ich das vermitteln. All diese Aspekte haben mit dem zu tun, was man „psychische Prozesse“ nennt. Und ich komme gar nicht umhin, mir auch mehr oder weniger Gedanken um Ihre psychischen Prozesse zu machen.

Genauso kann ich aber – typisch Systemiker – auf die Interaktionsstrukturen blicken. Läuft unser „turn-taking“, d.h. der Gesprächswechsel, reibungslos? Wird dies der Struktur eines Interviews gerecht? Haben sich vielleicht schon nach kurzer Zeit bestimmte Regeln in unserem Miteinander eingeschlichen – die es sicher geben würde, wenn wir länger und öfter zusammen wären. Erinnert mich unsere Interaktion an typische Situationen und Strukturen in meiner Familien, oder meiner Freundes- oder Kollegengruppe? Nehme ich bei Ihnen (unterstellt) so etwas wahr? All diese Aspekte haben mit dem zu tun, was man „interpersonelle Prozesse“ nennt. Dazu gehört nicht nur das, was gerade kommunikativ zwischen uns abläuft, sondern auch die Erfahrungsstrukturen beispielsweise aus meiner und Ihrer Herkunftsfamilie sowie aus anderen Kleingruppen.

Fraglos finden nun nicht entweder psychische oder interpersonelle Prozesse statt, sondern in jedem Augenblick beide. Und sie beeinflussen sich zudem gegenseitig. Denn unsere Interaktionsstruktur ist mit davon beeinflusst, wie ich mich fühle und welche Gedanken mir kommen und dies ist, andersherum, mit davon abhängig, wie unsere Interaktion so „läuft“.

Die bisher skizzierten Prozessebenen, die psychische und die interpersonelle, sowie deren gegenseitige Beeinflussung ist etwas, worauf jeder gute Therapeut, Berater und Coach heute schaut. Da sage ich also zunächst wenig Neues.

Aber die interpersonellen Strukturen – besonders die inneren und realisierten Bilder von Beziehung, Echtheit, Dominanz, Begegnung, familiären Erwartungen etc. – und auch viele der Gedanken kommen ja nicht einfach aus uns heraus oder werden in diesem Augenblick und in dieser Konstellation völlig neu von uns erfunden. Vielmehr sind wir beide eingebettet in unsere Kultur – wenn auch in mehr oder weniger unterschiedliche Teilbereiche davon. Diese stellt nicht nur die Worte und Begriffe, mit denen wir uns unterhalten zur Verfügung. Sondern mit der Sprache sind auch Metaphern, Verstehens- und Erklärungsprinzipien, Vorstellungen über Gut und Böse, richtig und falsch, krank und gesund usw. verbunden. Kurz: In jedem Augenblick sind auch die Einflüsse dieser kulturellen Verstehens- und Deutungsprozesse vorhanden.

Und letztlich wirken in jedem Augenblick auch Einflüsse aus meinem und Ihrem Körper mit ein: Dies beginnt schon bei den Affekten – die ja unsere Gedanken und unsere Interaktion nicht unbeträchtlich beeinflussen. Aber auch vieles, was wir in den modernen Diskursen als Verkörperungen unserer Biographie bezeichnen. Etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, unsere verkörperten frühen Erfahrungen über die Sicherheit von Beziehungen in Form von Bindungsstrukturen.

Nun habe ich noch gar nicht spezielle Fragen und Perspektiven aufgeworfen, die beispielsweise dann bedeutsam werden, wenn ich z.B. mit einem zerstrittenen Team eines Unternehmens arbeite. Es wird also oft noch weitere Prozesse und Prozessebenen geben, die beachtenswert sind.

Was man aber sagen kann, ist, dass zumindest die vier genannten Prozessebenen – die psychische und die interpersonelle und deren Einbettung in kulturelle und körperliche Prozesse – berücksichtigt werden müssen, wenn man nicht systematisch etwas Relevantes ausblenden will. „Berücksichtigen“ heißt nicht, dass man alles in jedem Augenblick „auf dem Schirm“ haben muss – das wäre eine Überforderung. Aber es muss klar sein, dass in jedem Augenblick Prozesse auf mindestens diesen vier Ebenen das Geschehen beeinflussen, auch wenn ich mich kurzfristig auf weniger fokussiere. Aber langfristig und/oder systematisch eine oder mehr Prozessebenen auszublenden wäre sicher ein Fehler. Für mich ist das so selbstverständlich, dass ich mich wundere, wie viele Ansätze ohne diese vier Ebenen auskommen.

Nun ist die Aufzählung und Beschreibung von relevanten Prozesseben zwar wichtig, aber natürlich noch keine Theorie. Ohne jetzt zu lang zu werden, sei zumindest darauf verwiesen, dass die Personzentrierte Systemtheorie hier bei einer interdisziplinären, strukturwissenschaftlichen Konzeption unter dem Begriff „Synergetik“ quasi andockt. Daher gibt es recht präzise Vorstellungen darüber, wie sich die Prozesse auf diesen Ebenen zu solchen Mustern stabilisieren, die wir „Probleme“ oder „Symptome“ nennen, und wie diese verändert werden können. Das macht den Kern der Personzentrierten Systemtheorie aus.

Warum ist das Subjekt so wichtig? Was bedeutet das konkret? Und wie ist das mit dem Begriff der Lebenswelt verbunden?

Systemiker reden ja von Systemen – und dazu gehört natürlich auch zu klären, was jeweils nicht zum System gehört. Das nennen sie „System-Umgebung“. Und natürlich hat eine spezifische Umgebung bzw. deren Veränderung Einfluss auf das System. Nehmen wir eine Familie oder ein Team als System. Dann gehört beispielsweise die Schule der Kinder oder die ganze Abteilung zur Umgebung. So weit scheint alles ganz klar und einfach zu sein.

Denken wir nun aber einmal etwas genauer darüber nach, welchen Einfluss die Umgebung auf die Dynamik des Systems hat. So merken wir, dass plötzlich die Frage auftaucht: Meinen wir jene Umgebung, welche Beobachter, Wissenschaftler oder Berater beschreiben? Oder meinen wir jene Umgebung, wie sie die beteiligten Subjekte selbst beschreiben? Meinen wir also die „Schule“, wie sie „im Buche“ steht, oder wie sie die Sozialarbeiter beschreiben. Oder meinen wir mit „Schule“ das, was die Kinder und die Eltern – und sicher jeder nochmals unterschiedlich – wahrnehmen und darunter verstehen?

Ich denke, dass wir allzu sehr die Perspektive der konsensuell erzeugten, abstrakten akademischen Realität, die wir „objektiv“ nennen, beachten und dagegen die Perspektive der Menschen als Subjekte vernachlässigen wenn nicht ganz ausblenden. Dies wird an dem Begriffspaar „Befunde“ und „Befindlichkeiten“ deutlich: Befunde sind die „objektiven“ Daten medizinischer oder therapeutischer Diagnostik – oft genug mit Apparaten und Tests erbracht. Diese sind keineswegs identisch mit den Befindlichkeiten der Subjekte. Nicht selten laufen beide Perspektiven sogar auseinander: Dann gibt es gute Befunde aber schlechte Befindlichkeiten oder umgekehrt. Es ist also klar, dass das eine nicht einfach das andere ersetzen kann sondern beides wichtig ist: Schlechte Befunde können auch bei guter Befindlichkeit darauf hinweisen, dass hier möglicherweise eine Entwicklung stattfindet, die bald auch die Befindlichkeiten verschlechtert, wenn man nicht reagiert. Umgekehrt kann es aber auch nicht befriedigen, wenn die Befunde zwar gut sind, die Befindlichkeiten aber miserabel.

Ich betone daher die Komplementarität beider Perspektiven: Beide gehören zusammen und sind wichtig. Mir scheint aber, dass wir einseitig die „objektive“ Perspektive der Befunde fokussieren und die Perspektive der Subjekte zu wenig berücksichtigen. Das wird auch an Begriffspaaren wie Bedarf und Bedürftigkeit deutlich. Oder an Begriffen wie „Ressourcen“: Oft meinen wir damit einseitig jene Ressourcen, die wir als Berater, oder die ein „objektiver“ Beobachter, beschreiben würde. Für die beteiligten Menschen aber können ganz andere Dinge und Aspekte eine Ressource sein, und manches von dem „objektiv“ Beschriebenen ist recht irrelevant.

Wenn man sich auf diese Komplementarität einlässt, wird deutlich, dass es einen Unterschied macht, ob wir von der „objektiven“ Umgebung eines Systems reden – so wie neutrale Beobachter sie beschreiben würden – oder eben von dem, wie die beteiligten Subjekte das sehen und empfinden und was für sie wichtig ist. Bei letzterem spricht man nicht von „Umgebung“ sondern es gibt eine lange Tradition, dies als „Lebenswelt“ zu bezeichnen.

Sie betonen, alle Kommunikation müsse durch das Nadelöhr persönlicher Sinndeutungen gehen. Warum ist es Ihnen so wichtig, das so deutlich hervorzuheben?

In der Geschichte der Familientherapie und der systemischen Ansätze gab es eine Zeit – der Höhepunkt war in den 1990er Jahren – wo fast ausschließlich auf die Interaktionsstrukturen geschaut wurde. Wenn aber A zu B etwas sagt und B darauf antwortet, so spielt eben nicht nur die Interaktionsstruktur eine Rolle, wie ich vorhin sagte. Sondern es hängt auch davon ab, was B gehört und verstanden hat. Denn Sinn und Bedeutung findet immer nur auf der Ebene der Personen statt – auch wenn man sich auf eine gemeinsame Sichtweise einigen kann oder im Verhalten Regeln etabliert, denen man unterworfen ist, obwohl man sie nicht einmal durchschaut. Und es ist, wie ich sagte, wichtig, auch zu berücksichtigen, dass bei der Art und Weise, wie die Kommunikation durch die Nadelöhre geht, die affektiven Befindlichkeiten, die Bedürfnisse, die biographischen Erfahrungen und die spezifischen subkulturellen Verstehensweisen, Erklärungsprinzipien, Geschichten usw. eine Rolle spielen. Womit wir wieder bei den vier Prozessebenen wären.

Ich habe das kürzlich intensiv mit Fritz Simon diskutiert, der ja vielen als Vertreter einer auf Luhmann zurückgehenden soziologischen Kommunikationstheorie – der Autopoiese – bekannt ist. Diese Diskussion fand unter Moderation von Matthias Ohler statt, und das Ganze wurde 2019 als Buch im Carl-Auer-Verlag publiziert.

Was bedeuten konkret Begriffe/Konzepte wie Nicht-linearität, (Sinn- und Interaktions-)Attraktoren, Synlogisation, Komplettierungsdynamik?

Unser Denken wird immer noch von einfachen Ursache-Wirkungs-Modellen beherrscht. Möglicherweise sogar als evolutionäres Erbe – denn wenn ich bei einem vierstöckigen Haus unten klingle und oben springt ein Fenster auf und ein Blumentopf fällt herunter, ist mein unmittelbares Erleben: „Oh je, das habe ich verursacht!“. Erst danach setzt mein Denken ein: „Quatsch, da gibt es gar keinen kausalen Zusammenhang“. Auch unsere Analyseinstrumente der akademischen Psychologie sind von solchen linearen Kausalmodellen durchzogen.

Dagegen steht aber die Erfahrung, dass bei komplexeren Prozessen eher Nichtlinearitäten typisch sind. Wenn ich 3-stellige Zahlen addiere und ich schaffe in 30 Minuten 600 Additionen, so macht es Sinn davon auszugehen, dass ich nach 15 Minuten etwa 300 – also die Hälfte – oder nach 10 Minuten etwa 200 – also ein Drittel – geschafft habe. Wenn ich aber über ein schwieriges Problem nachdenke und ich schnippe nach 30 Minuten mit den Finger und sage: „Aha! Ich hab´s!“ so ist es recht unsinnig anzunehmen, dass ich nach 15 Minuten dieses Problem halb oder nach 10 Minuten zu einem Drittel gelöst hatte. Ein Kind, das mit 14 Monaten anfängt zu laufen und dies dann innerhalb weniger Tage recht sicher beherrscht, konnte nicht nach 7 Monaten „halb laufen“. Und ein Beratungsprozess, der nach 5 Sitzungen als „erfolgreich“ eingestuft wird, war nicht nach 1 Stunde 20% erfolgreich.

Die meisten Prozesse im Bereich des Lebendigen laufen also nichtlinear ab und sie sind, wie ich schon bei den Prozessebenen betonte, miteinander vernetzt. Das wiederum bedeutet, dass statt Input-Output-Beziehungen Rückkopplungen typisch sind. Schon unser Gehirn oder unser Organismus ist als ein komplexes, rückgekoppeltes System zu verstehen. Ebenso Teams oder Familien, wo das, was jemand tut und sagt, nicht nur auf andere wirkt, sondern dies irgendwie über viele weitere Schritte auf ihn zurückwirkt.

Für solche nichtlinearen dynamischen Systeme ist nun wiederum typisch – wie die interdisziplinäre Systemforschung an tausenden Beispielen und Untersuchungen belegen kann –, dass selbstorganisiert Ordnungen entstehen. Diese nennt man allgemein „Attraktoren“. In unserem Bereich der Beratung geht es nun aber nicht um die Essentials der Naturwissenschaften, Materie und Energie, sondern um Sinn und Bedeutung. Daher spreche ich von Sinn-Attraktoren. Man kann zeigen und experimentell untersuchen, dass Prozesse, in denen Information rückgekoppelt wird, ebenfalls Ordnungen generieren. So entstehen beispielsweise im Gespräch zweier Menschen aus tausenden Worten und Themen schnell wenige Bedeutungskerne, die es uns ermöglichen, die letzten tausend Worte unseres Gegenüber zu einigen wenigen Aussagen zusammenzufassen. Diese allerdings beeinflussen in einer Rückkopplung das, worauf im weiteren Gespräch geachtet und wie es verstanden wird.

Diese gemeinsame Abstimmung der Themen und Bedeutungen habe ich „Synlogisation“ genannt – das ist analog zu „Synchronisation“, aber es geht ja nicht um Zeit, d.h. „Chronos“, sondern um Bedeutung d.h. „Logos“.

Und mit „Komplettierungsdynamik“ ist letztlich das Phänomen gemeint, dass eine sich bereits abzeichnende Ordnung im weiteren Verlauf komplettiert wird. Bei einem alten Ehepaar auf der Couch reichen wenige Worte und der Partner meint schon zu wissen, wie es weitergeht – ohne überhaupt noch zuzuhören. In seinem „inneren Film“ komplettiert er automatisch eine ganze Szene. Wenn, um ein anderes Beispiel zu nennen, nach einem Konzert aus dem Rauschen des Beifalls ein rhythmischen Klatschen von nur 10 oder 20 Leuten wahrnehmbar ist, komplettiert schnell der ganze Saal mit tausend oder mehr Menschen diesen Rhythmus. Auch dieses Phänomen ist interdisziplinär gut untersucht und genau beschreibbar.

Ist das nicht teilweise eine recht „technische“ Begrifflichkeit?

Ich finde die genannten Beispiele eigentlich sehr anschaulich und nicht untypisch für den menschlichen bzw. beraterischen Alltag. Und in dem 2017 erschienenen umfassenden Werk dazu – Subjekt und Lebenswelt – habe ich viele weitere Beispiele an- und im Detail ausgeführt. Aber es ist schon richtig: Begriffe wie „Attraktor“ usw. sind für viele noch gewöhnungsbedürftig, selbst wenn sie in der systemischen Szene zuhause sind.

Aber es geht eben nicht primär um die Begriffe selbst, sondern dass damit sehr präzise Vorstellungen verbunden sind, die interdisziplinär im Rahmen der Synergetik entwickelt wurden und auf welche die Personzentrierte Systemtheorie zurückgreift.

Da die Synergetik von Hermann Haken zunächst in der Physik und dann allgemeiner in den Naturwissenschaften entwickelt wurde, haben früher einige Kritiker angeführt, dass es sich um eine naturwissenschaftliche Theorie handle, die für beraterisches Geschehen inadäquat sei. Aber dieses Argument ist falsch. Denn die Synergetik ist eine strukturwissenschaftliche Theorie, die eben zuerst und auch auf Phänomene in den Naturwissenschaften angewendet wurde. Aber das ist 50 Jahre her. Inzwischen hat dieser Ansatz längst Einzug in Disziplinen wie Psychologie, Pädagogik, Soziologie usw. gehalten. Und ich glaube, dieses Missverständnis ist inzwischen weitgehend geklärt und die Kritik damit auch weitgehend verstummt.

Gibt es vergleichbare Ansätze, und wie grenzen Sie Ihr Modell davon ab?

In dem Anliegen – einen eher schulenübergreifenden Ansatz zu formulieren, der zudem weitere Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung nutzt – sehe ich Ähnlichkeiten mit dem Ansatz einer „allgemeinen Psychotherapie“ von Klaus Grawe. Das geht sogar über das reine Anliegen hinaus, weil es auch strukturelle Ähnlichkeiten gibt, die hier jetzt zu weit führen würden. Der große Unterschied ist allerdings, dass Grawe eine eigene Therapierichtung kreieren wollte, während ich mich hier völlig zurückhalte und eher ein Erklärungswerk liefern möchte, an das dann Therapeuten, Berater und Coaches mit ihren Ansätzen andocken und diese erweitern können. In den letzten hundert Jahren sind so viele kluge Vorgehensweisen entwickelt worden, da muss ich nicht einen weiteren offiziellen Therapieansatz erfinden. Mir geht es eher darum zu beschreiben und zu erklären, wie die unterschiedlichen Ansätze zusammenpassen. Es zeigt sich allerdings, dass dies eine gute Basis ist, um kreativ passende Vorgehensweisen zu gestalten, weil man nicht einen übervollen Kasten mit vorgefertigtem und verfahrensspezifischem Werkzeug im Kopf haben muss, sondern allgemeine Prinzipien situationsgerecht entfalten kann.

Warum haben Sie das Bundesverdienstkreuz erhalten?

Soweit ich weiß, steht grundsätzlich in der Urkunde des Bundespräsidenten nie explizit, wofür das verliehen wurde. Aber man kann natürlich einerseits nachsehen, wer die Verleihung angeregt hat, und was dann bei der Übergabe durch ein Staatsorgan aus den umfangreichen Unterlagen der Staatskanzlei in die Laudatio einfließt.

Bei mir war dies so, dass die Anregung von der AGHPT – der Arbeitsgemeinschaft Humanistische Psychotherapie – ausging. In der AGHPT sind zehn Verbänden der Humanistischen Psychotherapie mit insgesamt rund 10.000 Mitgliedern vertreten, zu deren Zusammenschluss vor zehn Jahren ich wesentlich beigetragen und auch den Antrag auf die „wissenschaftliche Anerkennung“ an den „Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie“ federführend übernommen hatte. Darüber hinaus setze ich mich seit mindestens dreißig Jahren dafür ein, dass die Humanistische Psychotherapie auch in Deutschland einen angemessenen Platz im Spektrum von psychodynamischen, behavioralen und systemischen Verfahren bekommt. Wir sind ja leider das einzige Land der Welt, wo Patienten dieser Ansatz – mit dem viele tausend Patienten und Patientinnen bis 1999, vor dem Psychotherapeutengesetz, sehr erfolgreich behandelt wurden – vorenthalten wird und eine Psychotherapieausbildung wie bei den anderen Verfahren nicht mehr möglich ist. Das betrifft allerdings gottlob nicht den Beratungs- und den Coachingbereich, wo nach wie vor viele dieser humanistische Konzepte zu finden sind.

Wenn man es also kurz sagen will, habe ich diese Auszeichnung für meinen Einsatz für die Humanistische Psychotherapie erhalten. Und ich freue mich, dass damit indirekt auch viele weitere Menschen, die sich seit langer Zeit für die Humanistische Psychotherapie in Deutschland eingesetzt haben, gewürdigt wurden.

Wie schätzen Sie die aktuellen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Studienfach „Psychotherapie“ ein?

Da ist noch vieles im Umbruch. Die wichtigste Verbesserung liegt vielleicht darin, dass die unhaltbare Situation einer oft unbezahlten Arbeit in Kliniken während der Ausbildung nun beendet ist. Wie weit die Universitäten ihre Zusage allerdings realisieren, eine verhaltenstherapeutische Monokultur im Studium durch eine wissenschaftlich angemessene Pluralität in den vier Grundorientierungen zu ersetzen, muss sich noch zeigen. Immerhin sind ja fast alle klinischen Professuren in der Psychologie mit Verhaltenstherapeuten besetzt – was nicht einmal der Verhaltenstherapie geschweige denn der Psychotherapie oder den Patienten in Deutschland insgesamt gut tut. Ebenso muss man sehen, wie und wie weit im Studium und danach wirklich eine qualifizierte Praxis möglich ist. Therapie lernt man nicht primär aus Lehrbüchern – ebenso wenig wie Beratung und Coaching –, so wichtig auch theoretische und grundlegende Kenntnisse sind.

Ich bin gottlob alt genug, dass ich mir diese umfassende und sicher länger dauernde Entwicklung ein wenig aus dem Lehnstuhl ansehen und mich auf Dinge konzentrieren darf, wo ich vielleicht noch etwas bewirken kann. Und da freue ich mich sehr, wenn mir Menschen rückmelden, dass die Personzentrierten Systemtheorie ihre Sicht bereichert und das Verständnis für das komplexe Geschehen im therapeutischen und beraterischen Raum vertieft hat – und dass sie auch konkret etwas damit anfangen können.

Vielen Dank für das Interview!

Literaturhinweise:

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Im Bann der Verschwörung

Obwohl sich sogenannte Verschwörungstheorien im Nachhinein manchmal als „wahr“ erweisen, sind sie in der Regel nicht Ausdruck von kritischem Denken, sondern weisen auf einen entsprechenden Mangel hin. Ihren Anhängern unterstellt man eine tendenziell geringere Komplexitäts- und/oder Ambiguitätstoleranz. Das habe ich jedenfalls schon oft gehört und gelesen. Die Tendenz, an Verschwörungserzählungen zu glauben, wird von Wissenschaftlern „Verschwörungsmentalität“ genannt. Menschen, die an eine Verschwörungserzählung glauben, neigen eher als andere Personen dazu, auch weiteren anheimzufallen. Das lässt doch vermuten, dass mit ihrem Geisteszustand grundsätzlich etwas nicht stimmt, oder? Die Hypothese, dass Verschwörungstheorien bzw. entsprechende Überzeugungen Symptome von psychischen Erkrankungen seien, konnte jedoch bislang nicht bestätigt werden. Eine grundsätzliche Psychopathologisierung der Anhänger solcher Theorien ist also eigentlich unzulässig. Woran liegt es nun aber, dass manche Menschen eine sogenannte Verschwörungsmentalität aufweisen? Alter, Intelligenz, Geschlecht, Religion und Bildungsstand spielen in diesem Zusammenhang vermutlich höchstens eine untergeordnete Rolle. Probleme – wie Diskriminierung oder finanziellen Schwierigkeiten – befeuern den Glauben an realitätsferne Theorien hingegen. Verschwörungstheorien stiften Sinn und sie vermitteln Sicherheit, da sie Zusammenhänge zwischen Ereignissen konstruieren, entsprechende Erklärungsmodelle anbieten und somit vermeintlich vor potenziellen Schäden oder Gefahren schützen.

Was unterscheidet Verschwörungstheorien eigentlich von Verschwörungserzählungen? Theorien basieren bekanntlich auf Fakten, die man überprüfen kann. Wird man auf etwas aufmerksam, das einer Theorie widerspricht, kann man diese anpassen oder verwerfen. Verschwörungserzählungen basieren zwar ebenfalls auf Tatsachen, die Verbindungen zwischen ihnen und die Schlussfolgerungen daraus sind aber wohl häufig frei erfunden.

Verschwörungstheorien werden nach dem Zwiebelprinzip aufgebaut: Über die Wahrheit, also dem wahren Kern, legen Verschwörungstheoretiker schichtweise ihre eigenen Thesen, von deren Wahrheitsgehalt sie durchaus überzeugt sein können. Wohingegen Fake News dazu dienen, andere bewusst zu täuschen. Sie werden in der Regel gezielt „gestreut“, um (politische) Interessen zu verfolgen. Diejenigen, die sie (unbedarft) weiterleiten, müssen von diesen (bösen) Absichten allerdings nicht zwangsläufig etwas wissen. Je häufiger man eine Unwahrheit jedoch liest oder hört, desto wahrscheinlicher wird es, dass man eines Tages glaubt, sie würde stimmen. Man nennt dieses Phänomen „Illusory-Truth-Effekt,“. Wer von uns ist nicht selbst schon (mindestens) einmal auf eine solche Falschmeldung hereingefallen? Da das leicht geschehen kann, ist es m. E. wichtig, bei jedem Artikel, den man teilt, sei es auch lediglich in einem Kommentar, die Seriostität der Quelle zu überprüfen und sich zu fragen, wie glaubwürdig die darin enthaltenen Informationen sind? Insbesondere in strittigen Diskussionen besteht die Gefahr, sich im Eifer des Gefechts einfach auf das eigene Bauchgefühl zu verlassen und spontan einen Link zu posten, der die eigene Argumentation bekräftigen soll.

„Jeder meint, dass seine Wirklichkeit die richtige Wirklichkeit ist.“ Hilde Domin

Unsere Wahrnehmung ist selektiv und sie wird beeinflusst von unseren Bedürfnissen. Das ist kein Geheimnis. Bekannt ist auch, dass das Internet uns nahezu unendlich viele Möglichkeiten bietet, uns über Themen zu informieren. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass wir uns zunehmend eigene Echokammern oder Filterblasen erschaffen und unsere Wirklichkeit verzerrt wird.

  • „Echokammern beschreiben in der Kommunikationswissenschaft eine Hypothese (vgl. Rau/Stier 2019): Sie besagt zunächst, dass sich die öffentliche Kommunikation in voneinander isolierte ,Kammern‘ verlagert – ein Prozess, der als Fragmentierung bezeichnet wird. Eine solche Fragmentierung verläuft dabei nicht zufällig, sondern entlang von Einstellungen und Meinungen: Auf der Mikroebene geht die Echokammer-Hypothese also davon aus, dass sich Menschen mit ähnlichen Ansichten zunehmend in geschützten Räumen austauschen. Eine solche Fragmentierung ist dabei nicht per se als negativ zu beurteilen, im Gegenteil: Meinungsvielfalt gilt als vitales Merkmal einer funktionierenden Demokratie und die sichtbare Ausdifferenzierung politischer Ansichten ist mitunter imstande, die politische Beteiligung Einzelner zu stärken.“ (http://journalistikon.de/echokammer/)
  • Die Filterblase oder Informationsblase ist ein Begriff, der seit dem gleichnamigen Buch von Eli Pariser aus dem Jahr 2011 in aller Munde ist. Ihm zufolge entsteht eine Filterblase, weil Webseiten versuchen, algorithmisch vorauszusagen, welche Informationen eine Person auffinden möchte, basierend auf den verfügbaren Informationen, die über sie gesammelt wurden. Menschen neigen tendenziell dazu, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie mit den eigenen Erwartungen korrespondieren. Das wird in der Psychologie „confirmation bias“ genannt. Die Algorithmen von Google, Facebook und Co sorgen nun über Empfehlungen dafür, eine individuelle Filterblase zu erzeugen.

Wie dem aber auch sei. Damit ist noch längst nicht erklärt, warum einige Menschen dazu neigen, an Verschwörungsheorien zu glauben. Ist es eine bestimmte Art zu denken, die dafür empfänglich macht? Auf der Webseite quarks.de wurde ich auf ein Modell aufmerksam, das diese Vermutung zu bestätigen scheint:

Die sieben Merkmale des konspirativen Denkens (CONSPIR)

  • Contradictory = Widersprüchlichkeit: Menschen können an Ideen glauben, die sich gegenseitig widersprechen. Einer Umfrage der Universität Erfurt zufolge glaubten zehn Prozent der Befragten sowohl, dass das Coronavirus nicht existiere, als auch, dass es eine Biowaffe aus dem Labor sei.
  • Overriding Suspicion = Generalverdacht: Der Glaube an Verschwörungstheorien geht oftmals über „gesunde“ Skepsis hinaus. Extremes Misstrauen kann zu einer prinzipiellen Ablehnung gegenüber offiziellen Erklärungen führen.
  • Nefarious intent = Üble Absichten: Anhänger von Verschwörungstheorien gehen immer davon aus, dass der Gesellschaft geschadet werden soll. Es gibt keine Verschwörungserzählung, die positive Beweggründe unterstellt.
  • Something must be wrong = Etwas stimmt nicht: Verschwörungstheoretiker sind sich sicher, dass die gängige Erklärung auf jeden Fall falsch ist – selbst wenn sie Einzelheiten ihrer eigenen Erzählung mal fallen lassen, ändern oder neu bewerten, bleiben sie dabei, dass “die da oben” etwas im Schilde führen.
  • Persecuted Victim = Opferrolle: Verschwörungsgläubige nehmen sich gleichzeitig als Opfer der Gesellschaft und als mutige Helden im Kampf gegen den Mainstream wahr.
  • Immune to Evidence = Immun gegen Beweise: Gegenbeweise oder Widerlegungen prallen in der Regel an Verschwörungserzählungen ab. Kritik kann sogar dazu führen, dass Anhänger noch stärker an ihre Theorie glauben.
  • Re-interpreting Randomness = Zufälligkeiten uminterpretieren: Zufällige, eigentlich unwichtige und nebensächliche Ereignisse […] werden stets so interpretiert, dass sie zur Verschwörungserzählung und einem vermeintlich zusammenhängenden Muster passen.

Logische Inkonsistenzen im Denken lassen sich zwar nicht komplett vermeiden, aber in der Regel doch (relativ leicht) aufdecken und korrigieren. Vor einer solchen “Widersprüchlichkeit” ist wohl niemand gänzlich gefeit, das gilt auch für mich. Gelegentlich interpretiere ich gewiss auch mal etwas in Geschehnisse hinein, was sich im Nachhinein als Irrtum erweist. Unser Gehirn ist darauf aus, Muster und Zusammenhänge zu erkennen, was dazu führt, dass wir diese manchmal auch dort zu finden glauben, wo es eigentlich keine gibt. Ich nenne das Hypothetisieren, wobei ich jedoch jene Hypothesen, die eine gewisse Relevanz für mich haben, normalerweise zeitnah überprüfe und gegebenenfalls auch schnell wieder verwerfe. In zwei der sieben Punkte finde auch ich mich also auch selbst ein Stück weit wieder.

“Man hört in der Welt leichter ein Echo als eine Antwort.” Johann Paul Friedrich Richter

Verschwörungstheorien erfüllen ganz unterschiedliche persönliche und soziale Funktionen. Das macht sie vermutlich so attraktiv. Sie bieten eine Erklärung für bedrohliche und außergewöhnliche Situationen an und können eine Strategie sein, die dabei hilft, mit Gefühlen von Unsicherheit, Angst oder Machtlosigkeit umzugehen. Viele Menschen erleben die heutige Welt als bedrohlich, chaotisch, nicht überschaubar und nicht beeinflussbar. Verschwörungstheorien bieten Orientierung und Halt, indem sie erklären, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und aus welchem Grund etwas geschieht. Zudem können Verschwörungstheorien dazu beitragen, das Selbstwertgefühl zu stabilisieren, da sie durch ihre Fokussierung auf „dunkle Mächte“ die Eigenverantwortlichkeit relativieren. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, Zusammenhänge zu verstehen und nach Ursachen zu fragen. Das verleiht den eigenen Erfahrungen Bedeutung. Verschwörungstheorien könnten demnach insbesondere für Menschen attraktiv sein, die ein Gefühl von Kontrollverlust erleben und die Ursachen für bestehende Probleme außerhalb ihres eigenen Einflussbereichs sehen. In der Psychologie unterscheidet man zwischen internalen und externalen Kontrollüberzeugungen, wobei wohl vor allem Letztere die Anfälligkeit erhöhen, in Verschwörungstheorien Halt zu suchen. Wenn es nicht so läuft, wie man es sich wünscht, können sie demnach Trost spenden, da man dank eines in ihnen benannten Sündenbocks keine Verantwortung für die Umstände übernehmen muss.

Verschwörungstheorien können das Bedürfnis nach Einzigartigkeit und den Wunsch, sich von der Masse abzuheben, befriedigen. Auch auf diese Weise können sie das Selbstwertgefühl von Menschen steigern. Prof. Dr. Julius Kuhl erwähnt in diesem Zusammenhang auch die narzisstischen Besserwisser. Bei ihnen ist – seinem Modell zufolge – der ehrgeizige Persönlichkeitsstil so stark ausgeprägt, dass übertriebene Rechthaberei und Selbstdarstellung die Folge sein können.

Zusätzlich kann das Bedürfnis nach ‚Bindung’ befriedigt werden, indem man sich einer Gruppe Gleichgesinnter zugehörig fühlt. Das sollte nicht unterschätzt werden! Wird man dafür, dass man anderen Menschen seine Ansichten mitteilt, angefeindet oder ausgegrenzt, sind Solidaritätsbekundungen unglaublich wohltuend. Menschen, die einem helfen, wie zum Beispiel bei einer Diskussion in den sozialen Netzwerken, vertraut man wohl auch künftig eher als solchen, die einen angreifen. So entstehen leicht Bündnisse und Koalitionen, die temporär emotional sabilisierend wirken, aber auch ein dichotomes Menschenbild begünstigen: Freund versus Feind.

Verschwörungsdenken können zudem ein probates Mittel sein, Kritik und Unzufriedenheit an Autoritäten Ausdruck zu verleihen. Geht damit der Wunsch einher, es ihnen zu zeigen bzw. es ihnen heimzuzahlen, ließe sich das mit „ohnmachtsgetriebener Rache“ vergleichen, die Klaus Eidenschink zufolge eines jener drei seelischen Muster ist, die Menschen dazu verleiten, Verschwörungstheorien anheimzufallen. In dem Artikel „Sagt die Wahrheit!“ erläutert er diese und noch zwei weitere, nämlich die „unbewussten Angstprojektionen“, also eine Variante, bei der eigene Ängste im Außen verortet bzw. externalisiert werden, sowie die „identitätsstiftende Demaskierung“.

Bild: Manfred Evertz

Aus den zahlreichen Artikeln (siehe unten), die ich über „Verschwörungstheorien“ gelesen habe, möchte ich noch einige Aussagen frei zitieren:

  • Eine Funktion solcher Theorien besteht in einer Sinnsuche sowie in einem Kontrollstreben in einer als chaotisch empfundenen Welt, bei gleichzeitig selbst erlebter Benachteiligung, mangelnder Kontrolle über das eigene Leben und dem Gefühl, gesellschaftlich abgehängt zu sein.
  • Ein starker Glaube an Verschwörungstheorien geht mit intuitivem nichtrationalem Denken und einem geringeren Maß an analytischem Denken einher.
  • Es besteht eine Neigung, bedeutsamen Ereignissen auch bedeutende Ursachen – also nicht dem Zufall oder Pech – zuzuschreiben.
  • Eine Verschwörungsmentalität geht einher mit Gefühlen von Misstrauen Autoritäten gegenüber, Unzufriedenheit, Kontrollverlust, was das eigene Leben betrifft und einem geringen Selbstwertgefühl, aber z. T. auch mit dem Gefühl, einzigartig zu sein, das heißt sich abzuheben aus der ‚naiven Schafherde’, die alles glaubt, und einer starken Identifikation mit einer bestimmten Gruppe, die soziale Identität stiftet.
  • Eine wichtige Rolle spielt die Wahrnehmung von Macht, wobei “die da oben” die Menschen in der Regel für dumm verkaufen und ausbeuten wollen. Diese Wahrnehmung kann dazu führen, dass […] machtlosen ‚Underdogs’ mehr Glauben geschenkt wird.
  • Die US-Psychologen Joshua Hart und Molly Graether schließen aus zwei Studien, dass Menschen eher dazu neigen, an Verschwörungstheorien zu glauben, wenn sie Eigenschaften aufweisen, die man unter dem Begriff „Schizotypie“ subsummiert: starkes Misstrauen und soziale Angst sowie die Neigung zu verzerrtem Wahrnehmen.
  • Manchmal reicht bereits das Gefühl, nicht als volles Mitglied der Mehrheitsgesellschaft anerkannt zu werden, um empfänglich für Verschwörungsdenken zu sein. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, vermutet demnach also mit besonderer Leichtigkeit finstere Mächte am Werk. Der eigene soziale Status spielt dabei offenbar keine Rolle.

Wie argumentieren Verschwörungstheoretiker?

Eine rhetorische Strategie, die wir im Alltag wohl alle gelegentlich einsetzen, ist das sogenannte “cherry picking”, womit gemeint ist, dass wir nur jene Fakten präsentieren, die unsere Geschichte vermeintlich beweisen, und Widersprüche sowie Unstimmiges einfach weglassen bzw. ignorieren. Bei einem so bedeutsamen Thema wie COVID-19 ist ein solches Vorgehen natürlich nicht zu empfehlen. Aufgrund der unüberschaubaren Vielzahl an Informationen, die es im Zusammenhang mit der Pandemie gibt, ist es allerdings kaum möglich, sämtliche Fakten, die in irgendeiner Hinsicht relevant sind, in die eigene Argumentation mit einzubinden. Wer hat schon die Zeit, sich bis ins letzte Detail mit allen Fragen auseinanderzusetzen und entsprechende Recherchen zu betreiben?

Eine andere Strategie ist es, “nur” Fragen zu stellen. Sie hat den Zweck, gezielt Zweifel an anerkannten Erklärungen und Misstrauen gegenüber offiziellen Institutionen zu streuen. Diese Technik hat den Vorteil, dass diejenigen, die sie anwenden, schwer angreifbar sind, weil man gegen Fragen kaum sinnvoll argumentieren kann. Die Kurzformel lautet: “Man wird ja wohl noch fragen dürfen, oder?”

Kann man über “Verschwörungstheorien” überhaupt vernünftig diskutieren?

Was habe ich aus den Diskussionen gelernt, die ich im Zusammenhang mit der Pandemie geführt habe? Zunächst wurde mir abermals bewusst, wie wichtig es ist, jeden Gesprächspartner ernstzunehmen und zu respektieren, auch wenn dieser eine andere Meinung hat. Nicht sinnvoll ist es m. E., verärgert zu reagieren, zu schimpfen, zu beleidigen oder sogar zu diffamieren. Dadurch verhärten sich die Fronten und die Überzeugungen eines Gegenübers festigen sich eher noch. Aussagen, die man für abwegig hält, sollten stets faktenbasiert widerlegt bzw. berichtigt werden. Regt man jene Menschen, die von ihnen überzeugt sind, zum rationalen Denken an, besteht immerhin die Möglichkeit, dass sie sich von ihren irrationalen Vorstellungen abbringen lassen. Je sachlicher man argumentiert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass hervorgebrachte Argumente auch ankommen und über sie nachgedacht wird. Ein ausgeräumtes oder widerlegtes Argument hinterlässt jedoch eine Lücke im entsprechenden Narrativ, die stimmig gefüllt werden sollte. Es ist also hilfreich, eine alternative Erklärung anzubieten. Überladen Sie ihre Gesprächspartner aber nicht mit Informationen, da das überfordern kann. Hier gilt wohl der Spruch: Weniger ist mehr. Erwähnt werden sollten vor allem die wichtigsten Argumente. Ich weiß zwar nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn mir zu viele Fakten auf einmal dargeboten werden und mein Informationsverarbeitungssystem ausgelastet bzw. überfordert ist, schalte ich einfach ab und höre nicht mehr richtig zu.

Da Verschwörungstheorien häufig einfache, leicht nachvollziehbare Erklärungen anbieten und bei Menschen verschiedene Bedürfnisse befriedigen können, ist es entscheidend, ihre Anhänger vor allem beim Umgang mit Unsicherheit zu unterstützen bzw. ihnen dabei zu helfen, Ambiguität auszuhalten.

“Alle Akteure verschiedener Lager können wieder zu einem konstruktiven Miteinander zusammenfinden, wenn sie Angstabwehr durch selbstkonfrontative Dialektik ersetzen. […] Das Erkennen der zugrundeliegenden Prozesse schützt vor einer Verwicklung, die durch ein engagiertes Sicheinlassen auf Diskussion oder Empathie passieren kann und man versteht, warum noch so engagiertes Argumentieren in die Sackgasse führen kann.” Prof. Dr. Julius Kuhl

Quellen:

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Das Hamburger Burnout-Inventar – Interview mit Prof. Dr. Matthias Burisch

Der Burnout-Test HBI misst 10 Dimensionen und genügt als einziges auf deutsch online verfügbares Instrument wissenschaftlichen Ansprüchen der Testkonstruktion: Seine Reliabilität und Validität wurden geprüft. Weltweit wurde er bislang von mehr als 300.000 Personen bearbeitet.

Das Burnout-Institut Norddeutschland (BIND) wurde 2008 von Prof. Dr. Matthias Burisch gegründet, der sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert wissenschaftlich und praktisch mit Burnout beschäftigt. Sein Buch Das Burnout-Syndrom. Theorie der inneren Erschöpfung (5. Auflage 2014) gilt als das deutschsprachige Standardwerk zum Thema. Heute arbeitet er als Berater, Trainer und Coach für Psychologen und Führungskräfte.

Ihr Hamburger Burnout-Inventar (HBI) kommt in den nächsten Tagen bei SpringerTest heraus. Stimmt es, dass das HBI schon 30 Jahre in Gebrauch ist? Was hat denn so lange gedauert?

M. B.: Erstmal: Das stimmt tatsächlich. Mein Buch Das Burnout-Syndrom war 1988 bei Springer untergekommen, es erschien dann ein Jahr später. Aber das war für mich noch nicht das Ende. Das Thema hatte mich gepackt; das hat sich bis heute nicht geändert. Es wurde mir dann aber schnell klar, dass fast die gesamte Burnout-Forschung auf tönernen Füßen stand, weil die verwendeten Tests so unzulänglich waren. Auch das hat sich bis heute nicht verändert. Also mussten wir selber ran. Drei Diplomandinnen halfen mir mit ihren Projekten. Eine erste Validierungsstudie verlief dann positiv, aber damit war es natürlich auch noch nicht getan. Weitere folgten um einiges später.

In all den Jahren hatte ich an eine formale Veröffentlichung eigentlich gar nicht gedacht. Ein Testmanual hatte ich ja geschrieben und auf unserer Website allgemein zugänglich gemacht. Der Fragebogen selbst wurde über die Jahre dutzendfach angefordert und in Forschungsprojekten eingesetzt; von den Ergebnissen hörten wir allerdings nur selten etwas.

Dann passierte etwas Neues. Mein Buchverlag gründete eine eigene Testabteilung, und die kam auf mich zu. Ich habe das Manual dann noch einmal überarbeitet und ergänzt, anschließend verging noch einmal ein Jahr. Aber jetzt, mit einer runden Jahreszahl, soll es erscheinen.

Und was misst das HBI?

M. B.: Wir haben zunächst die vier Merkmale übernommen, die auch in früheren Tests erfasst werden: Emotionale Erschöpfung, Leistungsunzufriedenheit, Distanziertheit und Überdruss. Dazu kamen sechs weitere, die sich als gut messbar erwiesen.

So ein Test wird ja nicht als Selbstzweck eingesetzt. Wo sehen Sie die Anwendungsmöglichkeiten?

M. B.: Zum einen natürlich weiterhin in der Burnout-Forschung. Die hat ja einen erstaunlichen Umfang angenommen. Zum anderen sorgen sich anscheinend viele, viele Menschen, vor allem die Jungen, es könnte sie „erwischt“ haben. So ein Test kann ja der Selbstvergewisserung dienen. Und schließlich kann das HBI im Einzelfall Klinikern bei der Klärung helfen, wo genau das Kernproblem des Patienten zu finden ist. Unter Umständen kann das Therapiestunden sparen, weil der Prozess abgekürzt wird.

Für Zwecke der Betrieblichen Gesundheitsförderung ließe sich das HBI zur Aufklärung von Handlungsbedarf nutzen. Natürlich ausschließlich anonym und unter strengstem Datenschutz. Oder zur Evaluation von Maßnahmen der Organisationsentwicklung. Das wird normalerweise mit Ad-hoc-Fragebögen gemacht, aber da hätte ein standardisiertes und validiertes Instrument Vorteile.

Noch eine Frage zum Stichwort “Selbstvergewisserung”: Kann man denn nach wie vor auch selbst eine HBI-Auswertung bestellen, oder muss das ab jetzt über Psychologen laufen?

M. B.: Ja, das HBI bleibt über die Website des Burnout-Instituts Norddeutschland weiterhin allgemein zugänglich. Wir haben mit dem Verlag vereinbart, dass dieser zweite Zugang offen bleibt.

Wenn man sich ein bisschen umsieht, gibt es ja Dutzende von Fragebögen zu Burnout. Was ist das Besondere an Ihrem, am HBI?

M. B.: Stimmt, das Angebot ist breit, und es ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass brauchbare Alternativen darunter sind. Bloß, man weiß es nicht. Nur in den seltensten Fällen haben sich Autoren den beiden arbeitsaufwendigen Aufgaben gestellt: Der Validierung und der Normierung. Beim HBI kann man für fast alle der 10 Skalen sagen, dass sie recht gut mit den Einschätzungen von Bekannten der Probanden übereinstimmen. Das ist in diesem Fall besonders bemerkenswert, weil Burnout ja etwas ist, was Betroffene gern unterm Deckel verstecken. Die Normen andererseits erlauben es, im Einzelfall abzuschätzen, wie auffällig ein konkreter Befund tatsächlich ist. Natürlich kann man auch bei Illustrierten-Tests immer sagen: Ab X Punkten sollten Sie aufpassen! Aber wenn X nur von Gefühl und Wellenschlag des Testautors abhängt, dann kann es sein, dass drei Viertel der Menschheit als gefährdet eingestuft werden. Oder nur 1 Prozent.

Sie haben ja große Datenmengen mit dem HBI gesammelt. Gibt es da eigentlich Geschlechtsunterschiede, wie so oft behauptet wird? Und wie steht es mit dem Alter?

M. B.: Das hat uns selbst erstaunt: Die Mittelwerte von Frauen und Männern sind auf allen Skalen so ähnlich, dass wir auf separate Normierung verzichten konnten. Und das Gleiche gilt für den Alterseffekt. Es ist möglich, dass sich das bei sehr fortgeschrittenem Alter ändern würde, aber aus dieser Gruppe haben wir noch zu wenig Daten.

Schon vor ein paar Jahren titelte die ZEIT „Noch jemand ohne Burnout?“. Wenn man die Pressemeldungen zum Thema verfolgt, könnte man auf die Idee kommen, dass die Häufigkeit ständig zunimmt. Ist das so?

M. B.: In Zeiten von COVID gibt es sicher Menschen, die unverhofft mit schweren Problemen zu kämpfen haben, beruflichen, finanziellen, gesundheitlichen. Denken wir auch an die Krankenpflege, die war schon immer besonders gefährdet. Aber das verursacht nicht zwangsläufig Burnout. Extravertierte leiden im Augenblick wahrscheinlich stärker als Introvertierte. Ganze Berufsgruppen, die jetzt sehr plötzlich vom Aussterben bedroht sind, etwa Musiker, Schauspieler, Gastronomen — da wird es sicher Krisen geben, die man unter den Begriff fassen muss. Von Entwicklungen außerhalb Deutschlands, wo es öfter um die Existenz geht, ganz zu schweigen. So weit die aktuelle Bedrohung, von der wir hoffen, dass sie vorbeigeht, sobald alle geimpft sind.

Ansonsten muss man sich Folgendes klar machen: In den Medien wird berichtet, was Journalisten in ihrem Umfeld erleben, was sie erzählt bekommen oder über andere Medien erfahren haben. Wenn man davon ausgeht, was man liest oder hört, müsste man überall Flächenbrände vermuten. Aber das muss nicht der Realität entsprechen. Die wenigen aussagefähigen Daten, die ich kenne, deuten darauf hin, dass Burnout in Deutschland eher seltener geworden ist, jedenfalls zwischen 2007 und 2014. In diese Zeit fiel immerhin die vorletzte große Wirtschaftskrise.

Wie wird es weitergehen mit Burnout? Was ist Ihre Prognose?

M. B.: Burnout hat es schon immer gegeben und wird uns auch erhalten bleiben. Ähnliches gibt es ja sogar bei manchen Tieren. Das dürfte bei uns als Reaktionsmöglichkeit auf Fallensituationen festverdrahtet sein. Es stimmt schon: Primär sollten wir die Ursachen bekämpfen. Aber wo das nicht hilft, oder besser: auf jeden Fall, müssen wir auch Resilienz aufbauen. Das Leben ist bekanntlich kein Ponyhof. Aber als Straflager ist es nun auch wieder nicht gedacht.

Vielen Dank für das Interview!

Kontakt:

Literaturhinweise:

  • Burisch, Matthias (2014). Das Burnout-Syndrom (5. Auflage). Springer Verlag.
  • Burisch, Matthias (2015). Dr. Burischs Burnout-Kur – für alle Fälle. Springer Verlag.

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“Warum in der Praxis der Personalauswahl die Forschung keine Rolle spielt” von Prof. Dr. Uwe Peter Kanning

Wer sich ein wenig in der sehr umfangreichen Forschung zur Personalauswahl auskennt und gleichzeitig Einblick in die Praxis der Personalauswahl hat, wird nicht umhinkommen, gewaltige Diskrepanzen festzustellen.

Es beginnt bereits beim Personalmarketing, das eigentlich selektiv auf den Markt der potentiellen Bewerber wirken sollte. Um den prozentualen Anteil geeigneter Bewerbungen zu erhöhen, müssen bestimmte Personengruppen zu einer Bewerbung animiert, und gleichzeitig andere Gruppen von einer Bewerbung abgehalten werden. Die Praxis sieht jedoch oft so aus, dass man nur versucht, die Menge der Bewerbungen insgesamt zu maximieren.

In der Vorauswahl orientieren sich Arbeitgeber immer noch gern am Anschreiben, obwohl etwa zwei Drittel der Bewerber heute mit Vorlagen aus dem Internet arbeiten, die sie nur noch geringfügig an die Stellenanzeige anpassen oder aber sie lassen das Anschreiben gleich von Profis verfassen. Große Aufmerksamkeit wird auf formale Kriterien wie etwa Tippfehler, die Strukturierung des Lebenslaufs oder die persönliche Ansprache gelegt, weil man hierin versteckte Hinweise auf Eigenschaften der Bewerber vermutet – eine Hypothese, die weder plausibel ist, noch empirisch bestätigt werden konnte.

Einstellungsinterviews laufen überwiegend unstrukturiert oder bestenfalls gering strukturiert ab. Verschiedenen Bewerbern für dieselbe Stelle werden dabei unterschiedliche Fragen gestellt, ohne zu berücksichtigen, dass sich die Bewerber, dann nicht mehr untereinander vergleichen lassen. Klare Kriterien zur Bewertung der einzelnen Antworten fehlen ebenso, wie ein direkter Bezug zu den realen Anforderungen der vakanten Stelle. Am Ende werden daher vor allem die Bewerber eingestellt, die dem Entscheidungsträger ein gutes Gefühl vermittelt haben und nicht diejenigen die tatsächlich die beste Eignung aufweisen.

Testverfahren werden ohne Prüfung teststatistischer Gütekriterien ausgewählt. Stattdessen vertraut man dem versierten Berater, der nicht viel mehr als Marketingsprüche für sein Produkt anzuführen weiß. Obwohl Intelligenztests insbesondere bei der Auswahl von (Spitzen-)Managern gute Dienste leisten würden, gibt es nur sehr wenige Unternehmen, die sich trauen, Bewerber für Geschäftsführungsposten, o. Ä. auf ihre Intelligenz hin zu überprüfen.

Die Zukunft wird zeigen, wie man mit der künstlichen Intelligenz umgehen wird. Bislang verhält man sich erstaunlich zurückhaltend aber wahrscheinlich ist dies nur eine Frage der Zeit. Je stärker sich solche Produkte auf dem Markt etablieren, desto eher knicken die Nächsten ein, weil sie sich nicht vorstellen können, dass Hunderte von Unternehmen permanente Fehlentscheidungen treffen.

Letztlich schaden die Verantwortlichen ihren Unternehmen ebenso sehr wie den Menschen, die sie (nicht) einstellen. Die Tatsache, dass man nicht alle eingestellten Bewerber nach einem Jahr wieder entlassen muss, wird dabei gern als Beleg für die Qualität des eigenen Vorgehens missverstanden. Ein Fehler in der Personalauswahl liegt aber bereits vor, wenn sich im Bewerberpool eine Person befand, die 10 % mehr leisten würde, als diejenige, die man eingestellt hat. Würde man in der Medizin ähnlich vorgehen, so würden Chirurgen darauf verzichten, ihre Bestecke zu sterilisieren und zwar mit der Begründung, dass ja viele Patienten auch so überleben. Obwohl man sich als Arbeitgeber in anderen Bereichen des Unternehmens ganz selbstverständlich wissenschaftlicher Erkenntnisse bedient, verharrt die Personalauswahl (und -entwicklung) bis heute in den meisten Unternehmen in einem voraufklärerischen Stadium. Meinungen zählen mehr als Fakten, Expertise wird nicht ernst genommen. Die Gründe hierfür sind vielfältig:

  • Gut ausgebildete Personaler verfügen im Unternehmen nicht über den notwendigen Einfluss im Unternehmen, um professionelle Personalauswahlmethoden durchsetzen zu können. Sie sind oft reine Dienstleister und müssen das umsetzen, was die jeweiligen Fachvorgesetzten einfordern, obwohl Letztere keinerlei diagnostische Ausbildung genossen haben. Ebenso gut könnte man in einem Automobilkonzern die Motoren nach den Vorgaben der Personaler bauen lassen.

  • Bei der Einstellung der Personaler wird mehr auf die Berufserfahrung als auf die fachliche Qualifikation geachtet, obwohl mehrere Studien zeigen, dass auch erfahrene Personaler bei konkreten Auswahlentscheidungen denselben Urteilsfehlern unterliegen wie Laien.

  • Wer selbst keine hohe Expertise aufweist, der schaut nach links und rechts, was die anderen machen. Wenn dort aber auch überwiegend diagnostische Laien stehen, gibt es hier leider nicht viel Gutes zu lernen. Am Ende sichert man im Zirkelschluss gegenseitig falsche Methoden ab und wähnt sich in trügerischer Sicherheit.

  • Menschen überschätzen ihre Fähigkeit, andere Menschen richtig einschätzen zu können. Da in den Unternehmen kaum professionelle Evaluationen durchgeführt werden, können sich die Verantwortlichen die Realität subjektiv immer so zurechtbiegen, dass jeder am Ende die Illusion aufrechterhält, selbst ein Menschenkenner zu sein. Handwerkern oder Ingenieuren würde dies sehr viel schwerer fallen, weil ihre Fehler offensichtlicher zutage treten.

  • Personalauswahl ist immer auch eine Frage von Macht und Einfluss. Mancher Entscheidungsträger mag die Rolle des Türstehers so sehr lieben, dass er den Einsatz professioneller Auswahlmethoden nicht nur als narzisstische Kränkung, sondern auch als handfeste Bedrohung seiner Position erlebt.

Eine Studie mit 600 Praktikern verdeutlicht tiefergehend das Problem mangelnder Fachexpertise. Befragt danach, zu wie viel Prozent sich die zukünftige Leistung von neuen Mitarbeitern über die Dauer der Berufserfahrung prognostizieren lässt, geben die befragten Praktiker im Mittelwert fast 55 % an. Der reale Wert liegt bei gerade einmal 7 %. Das unstrukturierte Interview wird auf 41 % geschätzt, während das hochstrukturierte Interview bei 47 % landet. Die tatsächlichen Werte bewegen sich zwischen 4 und 14 % für das unstrukturierte, und zwischen 19 und 49 % für das hochstrukturierte Interview. Wer glaubt, dass er durch die Kombination aus Dauer der Berufserfahrung und unstrukturiertem Interview die spätere berufliche Leistung der Bewerber fast vollständig prognostizieren kann, handelt in gewisser Weise rational, wenn er diesen beiden Methoden vertraut. Erst wenn er erkennen würde, wie sehr er mit seinen Einschätzungen daneben liegt, könnte er die Fehler einsehen und korrigieren. In sehr vielen Unternehmen fehlt es schlichtweg am notwendigen Fachwissen, um richtige Entscheidungen zur Gestaltung der Personalauswahl treffen zu können.

Die richtige Personalauswahl und auch die richtige Platzierung von Mitarbeitern innerhalb der Organisation gehört wahrscheinlich zu den wichtigsten Investitionsentscheidungen eines jeden Unternehmens. Erst wenn man dies erkannt hat, werden Arbeitgeber damit beginnen, ihre Auswahlprozesse zu professionalisieren. Das Know-how hierfür steht schon lange zur Verfügung und gut ausgebildete Eignungsdiagnostiker warten nur darauf, endlich ernst genommen zu werden.

Dr. Uwe Peter Kanning ist seit 2009 an der Hochschule Osnabrück Professor für Wirtschaftspsychologie. Als Personaldiagnostikexperte setzt er sich für evidenzbasiertes Personalmanagement ein und klärt über Pseudowissenschaften in der Personalauswahl und im Personalmanagement auf.

Kontakt: https://www.hs-osnabrueck.de/prof-dr-uwe-p-kanning/

Literaturempfehlungen:

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Persönlichkeit mit Stil?

Warum verhalten sich Menschen manchmal so eigenartig irrational oder seltsam? Wieso haben wir (vermutlich) alle irgendwelche Charakterzüge, die uns immer wieder mal in Schwierigkeiten bringen?

Bild: Manfred Evertz

Auf diese Fragen hat das Modell der Persönlichkeitsstile plausible Antworten parat. In diesem Modell, das von Prof. Dr. Julius Kuhl im Zusammenhang mit der PSI-Theorie entwickelt wurde, wird davon ausgegangen, dass die Umsetzung von Motiven durch Affekte moduliert wird, und zwar durch den Einfluss, den Affekte auf die Aktivierung jener kognitiven Systeme ausüben, die dafür gerade benötigt werden. Psychische Systeme konfigurieren sich – je nach situativen Anforderungen und in Abhängigkeit von der aktuellen Bedürfnislage eines Individuums – immer wieder neu. Diese Systemkonfigurationen werden als Formen der Motivumsetzung betrachtet, die mehr oder weniger adaptiv sein können. Affektive und kognitive Einseitigkeiten – wie sie bei den Persönlichkeitsstörungen unterstellt werden – können zu enormen Problemen führen. Demzufolge werden Persönlichkeitsstile und ihre pathologischen Übersteigerungen in der PSI-Theorie als stabile bzw. chronische Varianten entsprechender kurzfristig auftretender Systemkonfigurationen verstanden. Statt einseitiger Defizitorientierung ermöglicht das dimensionale Konzept der Persönlichkeitsstile nun aber zugleich einen ressourcenorientierten sowie einen problemorientierten, therapeutischen Zugang, indem jeder Persönlichkeitsstil in seinen Stärken und Schwächen dargestellt und als subjektiv sinnhafte Anpassungs- und Überlebensstrategie in spezifischen Sozialisationskontexten verstanden wird. Die durch den jeweils vorherrschenden Persönlichkeitsstil erklärbaren emotionalen (Erst-)Reaktionen treten zwar spontan auf (abhängig vom Temperament, den vorherrschenden Motiven, den konditionierten Reaktionsmustern etc.), sie lassen sich im Nachhinein aber durch selbstgesteuerte Affektregulation beeinflussen (emotionale Zweitreaktion). Je geübter eine Person darin ist, desto weniger ist sie einem Persönlichkeitsstil „ausgeliefert“.

„Das PSSI ist ein Selbstbeurteilungsinstrument, mit dem die relative Ausprägung von Persönlichkeitsstilen erfasst wird. Diese sind als nicht pathologische Entsprechungen der in den psychiatrischen diagnostischen Manualen DSM-IV und ICD-10 beschriebenen Persönlichkeitsstörungen konzipiert.“ (Quelle: Testmanual)

Mit dem PSSI werden die individuellen Ausprägungen der 14 Persönlichkeitsstile mit jeweils 10 Items ermittelt, d. h. dass der Fragebogen insgesamt 140 Aussagen beinhaltet (in der Kurzversion sind es 14 x 4, also 56 Items), denen im Rahmen einer Selbsteinschätzung jeweils ein Wert von 0 („trifft gar nicht zu“) bis 3 („trifft ausgesprochen zu“) zugeordnet wird. Addiert man die 10 Werte, die für einen Persönlichkeitsstil stehen, erhält man einen Rohwert, den man wiederum in ein statistisches Maß (T-Wert) umwandelt, um zu sehen, wie hoch dieser Wert im Vergleich zu einer bestimmten Population (Altersgruppe, Geschlecht) ausfällt.

Nachdem ich mich intensiver mit den verschiedenen Systemkonfigurationen, die den verschiedenen Persönlichkeitsstilen sowie den mit ihnen korrespondierenden Persönlichkeitsstörungen zugrunde liegen, wie es die PSI-Theorie postuliert, sowie mit den typischen Merkmalen der 8 Motivations- und 6 Temperamentstypen beschäftigt hatte, konnte ich relativ klar sagen, wo ich mich selbst sehe. Interessant war es für mich, dass meine Ergebnisse aus dem PSSI-K (also aus der Kurzversion) meine Annahmen tendenziell bestätigten und mich zugleich auf etwas aufmerksam machten, über das ich im Rahmen meiner (Lehr-)Therapie sehr häufig gesprochen habe. Durch die Lektüre des Buches „Motivation und Persönlichkeit“ ist es mir daraufhin gelungen, ein Phänomen, das ich bei mir seit Beginn meiner Pubertät beobachten konnte, das mir allerdings bis vor Kurzem äußerst rätselhaft zu sein schien, in Worte zu fassen und mittels des Modells sogar “funktionsanalytisch” erklären zu können. Damit – so würde ich sagen – habe ich endlich eine schlüssige Antwort auf eine Frage gefunden, die ich mir stelle, seitdem ich denken kann. Dass mich das begeistert hat, ist wohl nachvollziehbar.

Aufgrund dessen habe ich mir die vollständige Version des PSSI beim Hogrefe Verlag bestellt, was den Vorteil hatte, dass ich mir nun ein genaueres Bild von der Messung der 14 Persönlichkeitsstilen machen konnte. Also ich das PSSI daraufhin selbst ausfüllte und mir meine Ergebnisse anschaute, war ich allerdings enttäuscht. Zwar deuteten diese noch immer mit ganz leichter Tendenz darauf hin, dass meine erste Selbsteinschätzung nicht falsch war, allerdings lagen die T-Werte der 14 Persönlichkeitsstile fast alle in einem Bereich, der eigentlich keine entsprechende Interpretation (siehe oben) mehr zuließ. Meine T-Werte lagen (fast) alle zwischen 42 und 55, was ziemlich unspektakulär, aber nicht unbedingt überraschend ist.

Eine „gesunde“ Persönlichkeit sollte dazu in der Lage sein, verschiedene Persönlichkeitsstile flexibel einzusetzen bzw. die gezeigten Verhaltens- und Reaktionsmuster von ihrer aktuellen Bedürfnis- und Motivlage sowie von den situativen Gegebenheiten abhängig zu machen. Das bedeutet für mich übersetzt, dass ich manchmal einen eher ehrgeizigen (z. B. in Wettbewerbssituationen), manchmal einen liebenswürdigen (z. B. beim Flirten) und manchmal einen sorgfältigen Persönlichkeitsstil (z. B. bei der Bearbeitung meiner Steuererklärung) an den Tag legen kann. Je nachdem, worum es gerade geht, kann ich also in einen dazu passenden Modus wechseln. Bei „gesunden“ Menschen dürfte es in der Regel also unzählig viele Situationen geben, in denen sie typische Verhaltensweisen zeigen oder Einstellungen haben, die mit den verschiedenen Persönlichkeitsstilen korrespondieren. Sollte es dennoch häufiger zu einer (automatischen) emotionalen Erstreaktion kommen, im Zuge derer sich ein bestimmter Persönlichkeitsstil zeigt, der eigentlich unpassend ist, ist man dem ja nicht einfach ausgeliefert. Dem Modell zufolge haben Individuen verschiedene Möglichkeiten, in diesen Automatismus einzugreifen (z. B. über Selbstberuhigung oder Selbstmotivierung). Je ausgereifter die Fähigkeit zur Selbststeuerung bzw. -regulation eines Menschen ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich in den Auswertungsergebnissen eines Testverfahrens (wie z. B. dem PSSI) deutliche Auffälligkeiten zeigen.

Um bspw. in Seminaren einen ersten Überblick über die 14 Persönlichkeitsstile geben zu können und dabei zugleich ein wenig zur Selbstreflexion anzuregen, habe ich auf Grundlage des Tests, der Beschreibungen aus dem Buch „Motivation und Persönlichkeit“ und dem Testmanual für jeden Persönlichkeitsstil ein Kärtchen vorbereitet, auf dem jeweils sieben Aussagen zu finden sind, die diesen charakterisieren. Sie ermöglichen es, einen ersten Eindruck zu bekommen, wie die verschiedenen Stile sich typischerweise zeigen. Eine exakte Messung mit einem wissenschaftlichen Verfahren können und sollen diese Kärtchen natürlich nicht ersetzen. Meine beiden “Spitzenreiter” zeige ich Ihnen einmal:

Die funktionsanalytische Perspektive der PSI-Theorie bietet m. E. außerordentlich viele, ganz wunderbare Erklärungen für Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit den einzelnen Persönlichkeitsstilen ergeben, und Problematiken, die ein unflexibler Einsatz oder die starre „Bevorzugung“ eines jeden Stils mit sich bringen kann. Zudem zeigt sie zahlreiche Möglichkeiten auf, wie sich charakterliche “Schwächen”, die zu Problemen führen, in den Griff bekommen lassen.

Literaturhinweise:

  • Julius Kuhl & Miquel Kazén (2009). Persönlichkeits-Stil- und Störungs-Inventar (2. überarbeitete und neu normierte Auflage). Hogrefe Verlag, Göttingen.
  • Julius Kuhl (2001). Motivation und Persönlichkeit. Hogrefe Verlag, Göttingen. → Hier gelangen Sie zur Produktseite des Verlags.

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Mensch im Umbruch

Warum fällt es uns so schwer, die eigene Persönlichkeit zu verändern, und warum lassen sich schlechte Angewohnheiten i. d. R. nicht einfach ablegen? Unsere Persönlichkeit ist zwar durch relativ überdauernde Eigenschaften beschreibbar, dennoch verändert sie sich im Laufe unseres Lebens stetig.

Grundsätzlich stellt sich die Persönlichkeitspsychologie die Frage, worauf Unterschiede in der Ausprägung gewisser Merkmale bzw. Eigenschaften zwischen den Individuen beruhen, also inwieweit sie bspw. durch Veranlagung zustande kommen oder durch Erfahrung erworben und ausgebildet werden?

Mit diesem Thema befasse ich mich bereits seit meiner Studienzeit. Jetzt habe ich gerade ein Konzept entwickelt, mit dem ich andere Menschen dabei unterstützen möchte, ihre eigene Persönlichkeit und ihr Verhalten zu reflektieren, individuelle Entwicklungspotenziale zu identifizieren und erste Schritte in Richtung einer gewünschten Veränderung einzuleiten. Gestern habe ich nun vom Hogrefe Verlag die freundliche Genehmigung bekommen, im Rahmen meiner Seminare die Kurzform eines Tests einsetzen zu dürfen, mit dem die individuellen Ausprägungen der 14 Persönlichkeitsstile erfasst werden, den PSSI-K. Dieser basiert u. a. auf der PSI-Theorie von Prof. Dr. Julius Kuhl und ist angelehnt an das Modell der Persönlichkeitsstörungen nach dem DSM (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen). Es ermöglicht einen ressourcenorientierten (statt einseitig defizitorientierten) sowie einen problemorientierten therapeutischen Zugang zum Verständnis der Verschiedenartigkeit von Menschen, indem jeder Persönlichkeitsstil in seinen Stärken und in seinen Risiken bzw. Schwächen dargestellt wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass oftmals seltsam und befremdlich wirkendes Verhalten im Grunde genommen subjektiv sinnhafte Anpassungs- und Überlebensstrategien in spezifischen Sozialisationskontexten waren.

Menschen mit einem dominanten Persönlichkeitsstil bevorzugen – ebenso wie jene, die eine entsprechende Persönlichkeitsstörung aufweisen – eine damit korrespondierende Systemkonfiguration. Die Systemkonfigurationen stehen in einem direkten Zusammenhang mit den vier Makrosystemen der PSI-Theorie.

Die PSI-Theorie (siehe: Eine neue Persönlichkeitstheorie) geht davon aus, dass die Umsetzung von Motiven durch Affekte moduliert wird, und zwar durch den Einfluss, den Affekte auf die Aktivierung jener kognitiven Systeme ausüben, die für die Motivumsetzung wichtig sind (vgl. Modulationsannahmen). So werden unterschiedliche Systemkonfigurationen differenziert, mit denen sich jedes Motiv verbinden kann. Diese Systemkonfigurationen werden als Formen der Motivumsetzung interpretiert, die je nach den vorherrschenden Bedingungen mehr oder weniger adaptiv sein können.

  • Fühlen (Extensionsgedächtnis):  Das „Fühl-System“ ist adaptiv für alle Motive: Fühlen ermöglicht Flexibilität der Umsetzung (Bedürfnisbefriedigung) und aktive Bewältigung der mit Herausforderungen verbundenen negativen Gefühle.
  • Intuieren (Intuitive Verhaltenssteuerung): Intuieren ist besonders adaptiv für die Umsetzung des Bedürfnisses nach Anschluss: Der spontane Austausch mit anderen Menschen erfordert intuitive Programme der emotionalen Ansteckung, des Blickverhaltens u.v.m.
  • Denken (Intentionsgedächtnis): Die Denkfunktion ist maladaptiv im Bereich Anschluss; adaptiv im Bereich Leistung und evtl. Macht, also überall da, wo strategisches, planerisches Vorgehen erforderlich ist.
  • Empfinden (Objekterkennungssystem): Empfinden ist für kein Motiv besonders adaptiv, da diese Funktion die Perseveration (= Tendenz seelischer Erlebnisse und Inhalte, im Bewusstsein zu verharren) negativer Gefühle erfasst, die nicht durch das Fühlen integriert werden können. Das Empfinden ist mit einem “diskrepanz- und konfliktsensitiven” Aufmerksamkeitssystem verbunden: Unstimmigkeiten werden besonders stark beachtet und können u. U. gar nicht mehr ausgeblendet werden.

BIld: Manfred Evertz

Eine zentrale Annahme der PSI-Theorie besagt, dass sich psychische Systeme – je nach situativen Anforderungen – immer wieder neu konfigurieren. Verschiedene soziale Basisbedürfnisse verlangen unterschiedliche Systemkonfigurationen. Affektive und kognitive Einseitigkeiten, wie sie bei den Persönlichkeitsstörungen angenommen werden, können zu Schwierigkeiten bei der Befriedigung verschiedener Bedürfnisse führen. Eine Person kann sich in ihrem Verhalten und in ihrer Selbstwahrnehmung zunehmend von ihrem eigenen Selbst entfremden, wenn sie nicht gelernt hat, flexibel zu den jeweils passenden Systemkonfigurationen umzuschalten, sobald ein neues Bedürfnis auftaucht. Demzufolge werden Persönlichkeitsstile und ihre pathologischen Übersteigerungen in der PSI-Theorie als stabile bzw. chronische Varianten entsprechender kurzfristig auftretender Systemkonfigurationen verstanden.

“Bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer anderen Welt.“ Arthur Schopenhauer

Nun habe ich den PSSI-K natürlich selbst ausprobiert, da es mich interessierte, ob ich mit dem Ergebnis etwas anfangen kann? Vermutet habe ich, insbesondere bei hoher Belastung, einen selbstkritischen Persönlichkeitsstil zu zeigen. Dort hatte ich dann aber lediglich mit 7 die zweithöchste Punktzahl. Meinen höchsten Wert erreichte ich dabei beim „loyalen Persönlichkeitsstil“, der immerhin bei 9 von 12 möglichen Punkten lag. Wäre er etwas höher gewesen, würde er auf eine abhängige bzw. dependente Persönlichkeitsstörung hindeuten. Mein Testergebnis weist zwar noch längst nicht auf eine psychische Erkrankung hin, zeigt allerdings mit aller Deutlichkeit, wo meine „Baustellen“ verortet sind. Beide Stile haben nämlich etwas gemeinsam: Die Betroffenen neigen zum diskrepanzsensitiven Empfinden (ausgeprägte Empfänglichkeit für negative Affekte) und sie sind eher “kopflastig”, d. h. im Denk-Modus (gedämpfter positiver Affekt). Die Gefühle, die diese Stille am ehesten charakterisieren, sind Angst (loyaler PS) und Scham (selbstkritischer PS). Dass ich mich in schwierigen Lebensphasen oder unter Stress recht häufig im Objekterkennungssystem verheddere, war mir schon bewusst. Auch, dass ich in Zeiten, in denen ich einer hohen Belastung ausgesetzt bin, zur Anhedonie neige, wusste ich schon. Scham kenne ich ebenfalls recht gut. Das mit der “Angst” hat mich allerdings zunächst überrascht.

Manchmal ist die Wahrheit unbequem. Schon seit Beginn meiner Pubertät frage ich mich immer mal wieder, was mit mir eigentlich nicht stimmt? Obwohl ich seither nach Antworten suche, habe ich es irgendwie trotz eines Psychologiestudiums geschafft, über viele Jahre nahezu sämtliche relevante Informationen auszublenden, die mich zu einer tieferen Selbsterkenntnis hätten führen können. Dass ich gewisse Erfahrungen, die ich in meiner Kindheit machen musste, aus meinem Erleben abgespalten hatte, ist mir inzwischen bewusst, ebenso wie die Tatsache, dass ich manchmal dazu neige, „unerwünschte“ Lebenswirklichkeiten, die für andere Menschen vollkommen selbstverständlich sind, komplett auszublenden und ein selbstausbeuterisches Verhalten an den Tag zu legen. Und ja, ich suche tatsächlich nach Halt, wobei mir gar nicht so ganz klar ist, was genau ich eigentlich damit meine. Dennoch ist dieses diffuse Grundmotiv im hohen Maße charakteristisch für mich. Auch wenn ich – dank meiner sogenannten „gesunden Anteile“ – unter normalen Lebensbedingungen weit davon entfernt bin, mir eine Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, so weiß ich doch, dass ich insbesondere in kritischen Lebensphasen dazu neige, zumindest einen Teil jener diagnostischen Kriterien zu erfüllen, die eine dependente Persönlichkeit ausmachen.

In solchen Phasen ist es mir tatsächlich mehr oder weniger gleichgültig, wer mir den gewünschten Halt gibt, sofern es sich natürlich um einen Menschen handelt, von dem ich annehme, Halt “bekommen” zu können. Und es stimmt auch, dass viele meiner Beziehungen, die ich dann aufbaue, rasch instabil werden, da ich mich zu sehr mit mir selbst und meiner eigenen Unzulänglichkeit beschäftige, sodass ich kaum wirkliches Interesse für die Bedürfnisse und Befindlichkeiten eines Gegenübers aufbringen kann. Ich fühle mich dann wieder so, wie ich es als kleiner Junge getan habe, was dazu führt, dass meine emotionale Bindung zu „ausgewählten“ Personen über die eines Kindes tatsächlich kaum hinausreicht. Das Stichwort lautet „Bedürftigkeit“. Dabei neige ich vermutlich eher zu einem aktiv-dependenten Interaktionsmuster. Diese Variante ist mit Anstrengungen verknüpft, und die Betroffenen sind in der Regel lebhaft, sozial angepasst und charmant, mit dem Ziel, (bestimmten) anderen Menschen zu gefallen und deren Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ebenfalls bewusst bin ich mir meiner Neigung zur dramatischen Gefühlsbetonung. Wer meinen Blog kennt hat, dürfte das vielleicht bereits bemerkt haben, mein damaliger Therapeut hat es jedenfalls ganz gewiss, was bei ihm – meinem Empfinden zufolge – zu äußerst bedrohlichen Abwehrreaktionen geführt hat.

Wie kommt es dazu, dass ich mich insbesondere in jenen Situationen so seltsam verhalte, in denen ich extremen Belastungen ausgesetzt bin? Psychotherapeuten/-innen würden darauf vermutlich wie folgt antworten: „Dies weist deutlich auf einen Schock im Kindesalter hin, in dem sich das Subjekt einer Situation anpassen musste, der sie kognitiv nicht gewachsen war (z. B. sexueller, körperlicher oder seelischer Missbrauch, Übernahme von Erwachsenenrollen etc.). Oft ist es eine Form der anhaltenden Demütigung, welche die betroffene Person durch Abspaltung als Form der Ich-Abwehr versucht, zu meiden, oder besser zu ertragen.” (1) Ups… Es gibt sie allem Anschein nach auch bei mir, diese inneren Prozesse, die sich der Selbstaufmerksamkeit beharrlich entziehen und somit auch nur schwerlich artikulierbar sind.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass laut der Auswertung eines Tests, der sogenannte maladaptive Schemata erfasst, die „Trennungsangst“ wohl ein zentrales Thema in meinem Leben ist. Zwar erinnere ich mich an eine Situation aus meiner Kindheit, in der ich diese ganz intensiv gespürt habe, im weiteren Verlauf meines Lebens tauchte sie aber nie wieder auf. Warum sollte ich mich also heute damit beschäftigen? Gibt es da vielleicht einen Zusammenhang? Was geschieht eigentlich mit Gefühlen, die nicht mehr erlebbar oder abgespalten sind? Sind sie einfach weg? Oder wirken sie aus dem Unbewussten weiter? Wie verhält sich das bei mir?

Leider muss ich mir eingestehen, dass ich mich seit jeher schon bei den geringsten Anzeichen einer möglicherweise bevorstehenden Trennung oder Abweisung emotional aus einer Beziehung herausgezogen – d. h. mich umgehend getrennt – habe, vermutlich deshalb, um die Angst, verlassen zu werden, gar nicht erst ausstehen zu müssen. Inzwischen scheint es mir aus diesem Grund sogar fast unmöglich zu sein, mich überhaupt auf eine Liebesbeziehung einzulassen. Ich denke, dass die Angst vor dieser existenziellen Bedrohung, die ich als Kind wohl gespürt haben muss, ein wesentlicher Grund dafür ist. Daran arbeite ich aber schon eine ganze Weile mit recht gutem Erfolg. Dennoch finde ich es beachtlich, diesbezüglich abermals “entlarvt” worden zu sein.

Die gute Nachricht ist, dass ich mich in jenen Kriterien, anhand derer eine dependente Persönlichkeitsstörung dem ICD-10 nach diagnostiziert wird, nicht wiederfinde, und zwar in keinem von ihnen. Im DSM-5 gibt es jedoch ein Kriterium, mit dem ich mich im gewissen Maße durchaus identifizieren kann:

  • Betroffene haben Schwierigkeiten, Unternehmungen selbst zu beginnen oder Dinge unabhängig durchzuführen (eher aufgrund von mangelndem Vertrauen in die eigene Urteilskraft oder die eigenen Fähigkeiten als aus mangelnder Motivation oder Tatkraft).

Darüber habe ich im Rahmen meiner (Lehr-)Therapie sehr häufig gesprochen. Wie kann es mir gelingen, in allen Lebensbereichen Selbstverantwortung zu übernehmen bzw. mich damit abzufinden, selbst für mich sorgen zu müssen? Was genau bereitet mir eigentlich so große Schwierigkeiten dabei, Unternehmungen selbst zu beginnen oder Dinge unabhängig durchzuführen? Und was kann ich tun, damit es mir künftig leichter fällt? So hat der Entschluss, das Seminar „Persönlichkeit im Wandel“ eigenständig (d.h. nicht im Auftrag irgendeines renommierten Trainingsanbieters) durchzuführen, mich abermals mit einer meiner zentralen Entwicklungsaufgaben konfrontiert. Das fühlt sich überhaupt nicht gut an. Aushalten werde ich das jetzt aber trotzdem!

„Es kommt vieles auf ein richtiges Auffassen der eigenen Individualität an; wer sich falsch beurteilt, ist in Gefahr, sich selbst zu zerreiben.“ Johann Friedrich Herbart

Nun hat jeder Mensch natürlich seine eigene Geschichte und demzufolge auch ganz individuelle Themen, die es sich vielleicht lohnt, mal genauer anzuschauen. Dabei kann das Modell der Persönlichkeitsstile m. E. äußerst hilfreich sein. Im nächsten Schritt bietet es sich an, darüber nachzudenken, welche Veränderungen wünschenswert sind und wie sie sich realisieren lassen. Das tue ich, und das sollte eigentlich jeder tun.

Fußnote:

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Abhängige_Persönlichkeitsstörung

Literaturempfehlung:

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„Gütemerkmale der therapeutischen Allianz und Therapieerfolg“ von Dr. rer. medic. Hans-Jörg Lütgerhorst unter Mitarbeit von Nina Petermann

„Egal, was Therapeut und Patient miteinander anstellen, die Therapie ist erfolgreich, wenn sich beide wertschätzen.“ (Spitzer 2003) – Dann wäre es ja einfach, ein guter und erfolgreicher Psychotherapeut zu werden, ein akademisch-wissenschaftliches Studium und eine Psychotherapieausbildung wären sogar überflüssig.

Man stelle sich jedoch Folgendes vor: Der Psychotherapeut vermittelt Wertschätzung, Empathie, Wärme und Anteilnahme, aber er ist ungepflegt, das Zimmer ist in einem ungelüfteten und chaotischen Zustand, er weist Körper- und Mundgeruch auf, er versäumt Termine, vergisst wichtige Informationen oder nimmt Eigendokumentationen des Patienten nicht zur Kenntnis, raucht während der Sitzung, die Tür ist nicht geschlossen. Auch wenn man von diesem postmodernen Waldschratmodell eines Psychotherapeuten absieht und nur ein oder zwei seiner Merkmale erwartungswidrig sind, wird der Patient momentan in einen mentalen Zustand versetzt, in dem Wertschätzung, Empathie etc. möglicherweise nicht mehr wirken.

Nur in Einzelfällen können Abweichungen des Psychotherapeuten vom äußeren Habitus und Paradoxien in der Intervention zu einer Verblüffung und „Erfolg versprechenden Verstörung“ i. S. eines Weckrufs führen, wobei die Erwartungswidrigkeit ein Innehalten bewirken kann und vielleicht einen Neustart weg von eingefahrenen Kommunikationsmustern ermöglicht.

Bild: Manfred Evertz

Es stellt sich im Rahmen unseres Themas auch ein methodisches Problem, das die Vergleichbarkeit von Studien einschränkt: Wer schätzt die Güte bzw. Qualität der Allianz ein – der Psychotherapeut, der Patient oder ein unabhängiger Untersucher? Besonders komplex wird es bei multiplen Beurteilungen im Rahmen von Gruppentherapie. Und wie werden Therapieerfolg bzw. Stagnation oder Misserfolg gemessen – mittels Symptomreduktion, Verbesserung der Selbstwertschätzung, Verringerung der Symptomlast, Zunahme an Lebenszufriedenheit, Reduktion der Arbeitsunfähigkeitstage, Stabilität des Therapieerfolgs über Zeit hinweg, Anzahl der benötigten Therapiesitzungen etc.? Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Haltungen, Verhaltensweisen und Interventionsformen über Empathie und Wertschätzung hinaus die Güte der Allianz ausmachen. Interagiert die Güte oder Qualität der therapeutischen Allianz mit anderen Prädiktoren für den Therapieerfolg?

Studienlage in Auszügen

Nach Lambert (1992) beruhen 30 % des Therapieerfolgs auf der therapeutischen Allianz und nur 15 % auf der spezifischen Technik. Norcross und Wampold (2011) betonen die Bedeutung der therapeutischen Allianz in all ihren Aspekten für den Therapieerfolg, wozu auf Seiten des Therapeuten v.a. Empathie gehöre. Eine Metaanalyse der Studien über die Erfolgswirkung der Allianz liefert zwar eine mittlere Effektstärke von 0.57, dies lässt aber offen, in welchem Ausmaß die Allianzgüte mit der Behandlungskompetenz kovariiert bzw. davon abhängt (Horvath et al. 2011). Im Handbuch von Lambert (2013) werden ausführlich alle Einflussfaktoren für den Therapieerfolg dargestellt und diskutiert. In der umfangreichen Literatur zu diesem Thema ist es verwirrend, dass einige Autoren die Allianzgüte und die Therapeutenkompetenz unter „Therapeuteneffekt“ zusammenfassen, während andere (z.B. Wampold 2015) die therapeutische Allianz unter „gemeinsame Faktoren“ der verschiedenen Methoden subsummieren. Löffler et al. (2014) fanden in einer naturalistischen Studie, dass die Allianzgüte (in Patienteneinschätzung) eine signifikante Moderatorvariable für den erfolgreichen Einsatz von Techniken der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) bei der Depressionsbehandlung darstellt. Demnach ist die KVT umso besser, je mehr Therapeutenkompetenz zur Herstellung einer tragfähigen Allianz einschl. eines Arbeitsbündnisses vorhanden ist, was wiederum auch durch Patientenmerkmale wie deren Bindungsstil beeinflusst ist.

Sicher passen die folgenden Überlegungen und Vorschläge nicht so ganz in die gegenwärtige Wissenschaftslandschaft und sind provokativ. Die gesamte Fragestellung hat einen hohen Komplexitätsgrad. Eine Matrix unabhängiger (Psychotherapeut und Methode) und abhängiger Faktoren (Patient) würde sehr umfangreich ausfallen und keineswegs nur diese beiden Dimensionen umfassen. Dann stellt sich die Frage, was macht weitere Dimensionen aus? Handelt es sich um demografische soziokulturelle Faktoren oder um sogenannte Kontextfaktoren wie Geschlecht (s. Kap. 17.2), um Alter, Passung von Werthaltungen (Rosenthal 1955), Passung des Störungsmodells, Einbezug von Bezugspersonen, Einzel- versus Gruppentherapie, kompakte oder kontinuierliche Interventionsverteilung? Zu diesen Dimensionen gehört aber auch das Basisverhalten des Patienten wie z. B. Verlässlichkeit, soziale Verträglichkeit, Offenheit, Ausdauer, Veränderungsbereitschaft und aktive Anstrengungsbereitschaft.

Bei der Heranziehung von Daten aus dem deutschsprachigen Raum (Lohmann u. Mittag 1979) fällt auf, dass diejenigen Psychoanalytiker als besonders positiv vom Patienten eingeschätzt werden, die als empathisch erlebt werden. Diejenigen Gesprächspsychotherapeuten werden als besonders positiv eingeschätzt, die ab und zu auch einen Ratschlag gaben.

Freud wurde von seinen Schülern und Analysanden keineswegs als so beziehungsabstinent eingeschätzt, wie er es theoretisch vorgab, sondern vielmehr als anteilnehmend und empathisch. Wird damit die anfangs zitierte Bedeutung der Wertschätzung von Spitzer gestützt? Die gesamte gesprächspsychotherapeutische Forschung hat immer wieder die Bedeutung von Empathie, unbedingter Wertschätzung und Echtheit aufseiten des Therapeuten herausgestellt. Wir vermuten, dass auf „Echtheit“ des Psychotherapeuten nicht nur aus seiner verbalen Zuwendung geschlossen wird, sondern auch aus der Konkordanz von nonverbalen Botschaften und verbal geäußertem Inhalt. Placebo-Studien zeigen nämlich, dass der unzweideutig ausgestrahlte Optimismus entscheidend ist für die Bildung von Besserungserwartung, wobei Letztere der allgemeinste Prädiktor für Therapieerfolg aufseiten des Patienten zu sein scheint. Wir nehmen an, dass ein wesentlicher Aspekt der Resonanzfähigkeit des Psychotherapeuten darin besteht, dass er Mimik, Gestik, Stimmführung zu „deuten“ vermag sowie Diskordanzen zwischen den verbalen Äußerungen des Patienten einerseits und seinen nonverbalen Äußerungen andererseits richtig „deutet“ und in seinen Interventionen nutzt.

Klagen von Patienten über Psychotherapeuten (Mohr 1995) beziehen sich auf Distanziertheit, Empathiemangel und Ungeduld. Dies gilt unabhängig von der Therapierichtung. Auch Heim (2009) weist auf die Bedeutung der Dichotomie „freundlich versus unfreundlich“ hin. Er erwähnt aber auch die Dichotomie „dominant versus submissiv“ aufseiten des Psychotherapeuten; beide dieser Extremvarianten sind nicht hilfreich. Darüber hinaus gilt es auf möglichst ausgeglichene Redeanteile zu achten (Ausnahmen: Hypnose und Hypnotherapie).

Zusammenfassend weisen die Studien auf die Bedeutung der emotional-sozialen Kompetenz und Intelligenz des Psychotherapeuten hin. Schon 1961(!) wurde in einer Broschüre der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung über den Beruf des Psychotherapeuten auf folgende Voraussetzungen hingewiesen: natürliche Anlagen, Erwerb erlernbaren Wissens und erlernbarer Fähigkeiten (sic!), verstehende Güte und lebendiges Einfühlungsvermögen.

Zeichnet dieses zwischenmenschliche Geschick die Psychotherapeuten bereits vor ihrer Ausbildung aus und lässt es sich durch die Ausbildung verbessern? Emotional-soziale Intelligenz wird schließlich auch von Nicht-Professionellen erworben, z. B. durch Modelllernen, Übung, Rückmeldung und Reflexion (Lambert 2013). Umso mehr sollten diese übenden Aspekte in der Aus- und Weiterbildung systematische Berücksichtigung finden. Interessanterweise werden von Psychotherapeuten, die selbst Psychotherapie in Anspruch nehmen, nicht nur Wärme, Offenheit und Fürsorge geschätzt, sondern auch Berufserfahrung und -kompetenz (Norcross et al. 2009). […]

Zusammenfassung und Ausblick

Die therapeutische Allianz ist kein isolierter Faktor im Sinne von Orthogonalität. Es bestehen diverse Interkorrelationen zwischen Kontextmerkmalen einschließlich des Einflusses von relevanten Bezugspersonen, Patientenmerkmalen einschließlich der Art und des Ausprägungsgrades der Störung, der Veränderungsmotivation des Patienten und seines Beziehungsstils. Hinzu kommen folgende Therapeutenmerkmale: grundlegende emotional-soziale Intelligenz, Empathie in der Gestaltung der Allianz, die Beachtung formaler Regeln, Störungs- und Interventionswissen und vor allem aber Anwendungsfertigkeiten und -sicherheit im Rahmen fachlich-methodischer Behandlungskompetenz. Alles zusammen macht die Güte der therapeutischen Allianz aus und fördert den Therapieerfolg. Die bloße „kognitive“ Kenntnis der therapeutischen Handlungsregeln (Grawe 1999) reicht u. E. nicht aus, wenn nicht die Umsetzung der Regeln trainiert wird und Umsetzungskompetenz erworben wird. Hier klafft in der Aus- bzw. Weiterbildung eine zu schließende Lücke zwischen Wissen und Können. Es ist weder die Anwesenheit von Supervisoren bei Therapien von Ausbildungsteilnehmern vorgesehen noch die Anwesenheit von Teilnehmern bei Therapie von Supervisoren. Bisher geschieht Supervision nach vier Sitzungen stets verzögert und konterkariert das Wissen über die Wirksamkeit unmittelbarer Rückmeldung. […]

Das Training von Anwendungsfertigkeiten bzw. von Behandlungskompetenz halten wir im Rahmen der geplanten „Direktausbildung“ an Universitäten und Kliniken für gefährdet, und zwar sowohl wegen der geringen Erfahrung von Hochschullehrern in der praktischen Anwendung von Psychotherapie als auch wegen des Verzichts auf die Supervisions- und Selbsterfahrungsexpertise von in der Versorgungsrealität tätigen Psychotherapeuten während der Ausbildungsphase, die zur Approbation führen soll. Denn Psychotherapie ist nicht nur eine Wissenschaft, sondern bei deren Anwendung in der Versorgungsrealität auch eine Kunst (Sulz 2014, 2015). Dies gilt trotz der Unterschiedlichkeit in den Konzeptualisierungen der therapeutischen Allianz zwischen den Psychotherapierichtungen, wie sie in Bronisch und Sulz (2015) dargestellt werden.

Auf diesen Erkenntnissen, Überzeugungen und eigenen Erfahrungen aufbauend begrüßen wir einen Brückenschlag zwischen Behandlungsmethoden. Dieser integrative Ansatz wird auch von ehemals rein kognitiven Verhaltenstherapeuten favorisiert, welche die eher aus psychodynamischen und humanistischen Verfahren stammende Einbeziehung von frühen sozialen Erfahrungen und Prägungen (Bindungserfahrungen) nahelegen. Außerdem wird ein Eingehen auf die Vermeidung von emotionalem und somatischem Erleben sowie die Einbeziehung des Erlebens der gegenwärtigen therapeutischen Allianz empfohlen (Borkovec 2005; Newman et al. 2004). Wir schlagen daher eine maßgeschneiderte und Ressourcen berücksichtigende Psychotherapie mit Individuum bezogener „Feinsteuerung“ (Dick et al. 1999) vor, und zwar über Richtlinienverfahren hinaus. Die große Mehrzahl stationär und ambulant tätiger Psychotherapeuten behandelt trotz ihrer verfahrensspezifischen Ausbildung übrigens längst im Sinne einer integrativen Psychotherapie (s. Kap. 12). Systematisierte eklektische Ansätze sind bereits von Wachtel (1977), Beutler (1983) und von Orlinsky und Howard (1987) vorgelegt worden. Heim (2ooo) hat den Versuch unternommen, solche Modelle einem Ausbildungskonzept zu Grunde zu legen. Lazarus (1989) hatte sich mit seine Multimodalen Therapie von der klassischen Verhaltenstherapie zu Gunsten eines technischen Eklektizismus` entfernt. All diese seit langer Zeit bekannten Ansätze entsprechen im Kern unserer hier dargelegten Auffassung von einer Individuum bezogenen Maßschneiderung.

Seit Jahren mehren sich die Veröffentlichungen über Glück und Glücklichsein (z.B. Bormans 2011) und über Freude als Haltung dem Leben gegenüber i.S. einer spirituellen Lebensphilosophie (Dalai Lama und Tutu 2016). Diese Ansätze der Philosophischen Psychologie sind oft überlappend mit solchen der Positiven Psychologie (Seligman 2012). Tugenden, Resilienz- und Salutogenesefaktoren sind daraus zu entnehmen wie: Akzeptanz, Weisheit, Neugier, Echtheit, Tapferkeit, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Selbstdistanzierung, Besonnenheit, Dankbarkeit, Vergebung, Transzendenz, Humor, Sinnorientierung und -erleben. Insbesondere im Sinnerleben besteht eine Nähe zum Kohärenzkonzept von Antonovsky (1997). Was das nun für Psychotherapeuten und deren Allianz- und Interventionsgestaltung bedeutet, das mag jeder für sich entscheiden. Aber welchen Wert hat eine Haltung ohne entsprechendes Verhalten, denn: „Um die Menschen kennen zu lernen, muss man sie handeln sehen“ (J. J. Rousseau).

PS: In dem Buchartikel finden sich 43 Hinweise für die Ausbildung von Umsetzungs- und Behandlungskompetenz.

Dr. Hans-Jörg Lütgerhorst war 35 Jahre in psychiatrischen und psychotherapeutischen Kliniken in Vollzeit tätig, seit 2010 in ambulanter Praxis. Er verfügt über eine Approbation und zertifizierte über Aus- bzw. Weiterbildungen in Verhaltenstherapie und Kognitiver VT, Gesprächspsychotherapie und Focusing-Therapie sowie Hypnosetherapie. Er wurde 1993 von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung als Supervisor für Einzel- und Gruppen-VT anerkannt und ist akkreditierter Dozent, Supervisor, Selbsterfahrungsleiter und Approbationsprüfer an den Landesprüfungsämtern NRW u. RPL. Er unterrichtet in Südafrika sowie an 10 staatlich zugelassenen Aus- und Weiterbildungsinstituten im Bundesgebiet und hat 6 Fachartikel veröffentlicht. Weitere Informationen zum Werdegang finden Sie hier: Curriculum Vitae 2020. Kontakt: www.praxis-am-richterbusch.de/hans-joerg-luetgerhorst, E-Mail: hans-joerg@luetgerhorst.de

Quelle:

Bei diesem Text handelt es sich um Auszüge aus dem 9. Kapitel des folgenden Buches:

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