Seit Februar 2021 bin ich nun schon in einer Geriatrie tätig, wo ich für die psychologische Unterstützung der Patientinnen und Patienten sowie ggf. auch ihrer Angehörigen zuständig bin. Dort spreche ich mit all jenen, die entweder (a) um ein psychologisches Gespräch bitten, (b) psychisch auffällig sind, wobei es meistens darum geht, eine Depression abzuklären, oder (c) aufgrund ihrer Erkrankung(en) oder einer Trauerverarbeitung einen hohen Leidensdruck haben. Ein wesentlicher Arbeitsauftrag von mir ist es, diese Menschen im Rahmen meiner Möglichkeiten dabei zu unterstützen, ihre Therapieziele zu erreichen und/oder sich emotional zu stabilisieren. Schon mehrfach wurde ich gefragt, ob es eigentlich gut für meine Psyche sei, mich mit dem Leid älterer, zum Teil schwer erkrankter Menschen zu befassen? Warum ich mir das überhaupt antue? Was sollte ich dazu sagen?
Es wäre gewiss naiv, davon auszugehen, dass ein höheres Lebensalter zwangsläufig mit Attributen wie „Gebrechlichkeit“, „Demenz“ oder einer wie auch immer gearteten „Schrulligkeit“ assoziiert sein müsse. Ich habe zahlreiche Freunde und Bekannte im Rentenalter, von denen einige bereits ihr 80. Lebensjahr überschritten haben und die sich dennoch bester Gesundheit erfreuen, also körperlich vital sowie geistig rege sind und entsprechend am Leben teilnehmen. In dem Krankenhaus werden mir allerdings in der Regel jene Patienten und Patientinnen vorgestellt, die Symptome einer Depression aufweisen, über starke Ängste berichten oder einfach nicht wissen, wie es nun weitergehen soll, und daran verzweifeln. Mit denjenigen, die trotz ihrer körperlicher Beschwerden oder Einschränkungen emotional stabil sind, spreche ich dort seltener.
Eigentlich gibt es demzufolge gar keinen großen Unterschied zu dem, was ich sonst so getan habe oder tue: Ich spreche mit Menschen, die sich in einer wie auch immer gearteten seelischen Notlage befinden, stelle dabei Fragen, die mir sinnvoll zu sein scheinen, und erarbeite gemeinsam mit ihnen Lösungen für die dringlichsten Probleme. Auch die Themen, die dabei bislang zur Sprache gekommen sind, kenne ich schon aus anderen Beratungskontexten: Trauerbewältigung, Umgang mit gesundheitlichen Einschränkungen und/oder Überforderung, Konflikte mit anderen Menschen, Hoffnungslosigkeit, Verbitterung, Depressivität etc.
„Eigentlich“ bedeutet in diesem Zusammenhang aber, dass es – zumindest gefühlt – sehr wohl einen Unterschied für mich macht, dass die Menschen, mit denen ich dort spreche, sich in einer Phase ihres Lebens wiederfinden, in der sie mit Veränderungen konfrontiert werden, die nicht selten irreversibel sind (z. B. Verlust ihrer Mobilität). Und obwohl ich viele Menschen gekannt habe, die schon in jungen Jahren schwer erkrankt oder sogar verstorben sind, scheinen mir gewisse Themen (wie bspw. die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit) doch deutlich präsenter zu sein als in anderen Kontexten.
Natürlich passiert es gelegentlich, dass ich dabei mit meinen eigenen Ängsten in Kontakt komme. Auch ich möchte gewiss niemandem zur Last fallen oder beim Toillettengang auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen sein. Körperlich beeinträchtigt zu sein und starke oder chronische Schmerzen zu haben, stelle ich mir ebenfalls nicht schön vor. Auch möchte ich keine Sauerstoffflasche solange mit mir herumtragen müssen, bis ich eines Tages trotzdem ersticke. Und das sind nur einige der Themen, um die es in den Gesprächen immer wieder geht.
Kaum jemand weiß, wann und wie das eigene Leben zu Ende geht. Wir können aber natürlich etwas dafür tun, dass es nicht zum Schlimmsten kommen muss. Manchmal hilft es schon, wenn man mit jemandem sprechen kann. Ängsten und düsteren Stimmungen ist jedenfalls niemand zwangsläufig hilflos ausgeliefert. Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, aber äußerst wohltuend!
Bei jenen Patientinnen und Patienten, die zugewandt sind und ein Gesprächsangebot annehmen, hat sich übrigens – insbesondere in der Phase des Kennenlernens – eine non-direktive Gesprächsführung als hilfreich erwiesen, da diese Menschen i. d. R. von sich aus darüber sprechen, was sie bedrückt oder was ihnen im Moment wichtig ist. Das ist m. E. nicht anders, als in den meisten Gesprächen, die ich in anderen Zusammenhängen führe. Da es oftmals um gesundheitlichen Beschwerden und entsprechenden Beeinträchtigungen oder um Verlusterfahrungen geht, halte ich es für wichtig, nach nahestehenden Menschen zu fragen sowie über persönliche Ressourcen (wozu auch Erinnerungen an geliebte – vielleicht schon verstorbene – Personen und schöne Erlebnisse gehören) zu sprechen. Dem Ernst der jeweiligen Lage – bei allem Mitgefühl – mit einer wohldosierten Prise Humor zu begegnen, scheint mir ebenfalls hilfreich zu sein.
In den vergangenen Monaten durfte ich in dem Krankenhaus viele interessante und auch ungewöhnliche Erfahrungen machen. So hörte ich beispielsweise, als ich gerade nach einer Patientin schauen wollte, die Hilferufe eines 94’jährigen Mannes. Also ging ich zu ihm. Eigentlich wollte ich nur kurz fragen, ob ich ihm irgendwie helfen könne? Nachdem er mir erklärt hatte, warum er um Hilfe rief, begann er unvermittelt, über seine Jugendzeit zu sprechen. Obwohl es gar nicht vorgesehen war, verbrachte ich eine gute Stunde an seinem Bett und hörte ihm zu. Ich war fasziniert, wie offen er über das sprach, was er damals erlebte und was das mit ihm gemacht hat. Wir kannten uns ja schließlich nicht. Das war ihm aber vermutlich egal. Er vermittelte mir ein Gefühl von Vertrautheit, das ich selbst bei Menschen, die ich schon viele Jahre kenne, nur selten spüre. Aber auch er schien sich über unsere Unterhaltung zu freuen. Jedenfalls war ihm sein Problem, das mich ja zu ihm geführt hatte, anschließend nicht mehr so wichtig.
Einmal hatte ich den Auftrag, nach einer älteren Dame zu schauen. Als ich sie aufsuchte, saß sie allein im Aufenthaltsraum der Palliativ-Station. Ich setzte mich zu ihr und fragte sie, wie es ihr gehe? „Gut“, war ihre Antwort. Mehr sagte sie zunächst nicht. Da ich bemerkte, dass sie gerade einen Keks gegessen hatte, fragte ich sie, ob sie noch einen haben möchte, worauhin sie mit „ja“ antwortete. Also ging ich los und organisierte ihr ein paar verschiedene Kekse, die sie dann einen nach dem anderen langsam auspackte und verspeiste. Auch dabei sagte sie nichts. So saßen wir eine Weile schweigend da. Irgendwann fragte ich sie dann, ob ich noch bleiben oder sie lieber allein lassen solle? „Bleiben“, war ihre Antwort. Wieder verstrichen einige wortlose Minuten. Plötzlich fragte sie mich, woher ich denn käme? Ich sagte, dass ich in Hamburg wohne. Sie lächelte und entgegnete mir, dass sie auch schon in Hamburg war. Wieder folgten etliche Minuten des Schweigens. Als ich mich nach ca. einer dreiviertel Stunde von ihr verabschiedete und ihr anbot, in der kommenden Woche nochmals nach ihr zu schauen, lächelte sie erneut, nickte mit dem Kopf und sagte: „Bitte, ja.“ Für mich war auch diese Erfahrung recht ungewöhnlich, da ich mir unsicher war, inwieweit meine Anwesenheit überhaupt Sinn machte? Letztendlich wurde mir aber klar, dass es nicht unbedingt Worte sein müssen, die eine Begegnung bedeutsam machen. Manchmal reicht es wohl schon, einfach nur da zu sein.
Vor Kurzem hatte ich ein längeres Gespräch mit einer Patientin auf der Demenz-Station, die in dem Moment über Magenschmerzen und Übelkeit klagte. Dann wurde ihr Mittagessen gebracht. Während sie etwas davon zu sich nahm, sprach sie zunächst von ihrer Mutter, die sie schon in jungen Jahren auf tragische Weise verloren hat. Daraufhin berichtete sie von ihrem Ehemann, der leider so sehr zu mit seiner Arbeit beschäftigt sei, dass sie sich oft sehr allein und verloren fühle. Erst nach einer halben Stunde erfuhr ich von ihr, dass er bereits vor einiger Zeit gestorben ist. Sie zitterte während unserer Unterhaltung, obwohl es in dem Zimmer recht warm war, und weinte immer mal wieder. Nachdem sie am Ende sehr erschöpft war, habe ich sie in den Aufenthaltsraum begleitet, damit sie in Gesellschaft ist. Wir haben vereinbart, unser Gespräch in der darauffolgenden Woche fortzusetzen. Dabei lächelte sie mich an, als wäre sie glücklich.
Natürlich sind diese Beispiele keineswegs repräsentativ für das, was in den Gesprächen normalerweise geschieht. Vermutlich haben mich diese Begegnungen deshalb so beeindruckt, weil sie in gewisser Weise außergewönlich waren. Wie dem aber auch sei: Mir gefällt die Aufgabe, Menschen im höheren oder hohen Alter eine gewisse Zeit lang zu begleiten und ihnen der Bewältigung ihrer Probleme unterstützend zur Seite zu stehen! Deshalb habe ich den Entschluss gefasst, mich künftig noch stärker in diesem Bereich zu engagieren.