Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen – Interview mit Prof. Dr. Peter Richter

In Anbetracht der erschreckenden Statistiken bezüglich des Anstiegs psychischer Erkrankungen hat sich in den vergangenen Jahren ein riesiger Markt von Anbietern entwickelt, die Unternehmen darin beraten, wie man z. B. der gesetzlichen Bestimmung nachkommen könne, psychische Belastungen in der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen. Im Internet findet man zudem inzwischen immer mehr Handlungsempfehlungen zu diesem Thema.

Prof. Dr. Peter Richter

Ein Experte in diesem Bereich, der durch zahlreiche Publikationen bekannt wurde, ist Dr. Peter Richter, emeritierter Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie der TU Dresden.

Herr Prof. Dr. Richter, Sie beschäftigen sich im Rahmen Ihrer Arbeit u. a. mit Methoden zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen… Was hat Sie persönlich dazu motiviert, sich mit diesem Thema zu befassen?

Als Erstes eine Anmerkung zu dem von Ihnen zitierten “erschreckenden Anstieg psychischer Erkrankungen”:

Die Zunahme psychischer Erkrankungen in den letzten Jahren ist durchaus umstritten. Eher wird von einer Zunahme der Behandlungsprävalenz, nicht der Erkrankungsprävalenz gesprochen. Patienten sind, auch in Deutschland, mittlerweile eher bereit, psychische Krankheitsursachen zu akzeptieren und Ärzte sind viel besser in der Differentialdiagnostik psychischer Erkrankungen ausgebildet. Beides erhöht die Wahrscheinlichkeit psychischer Krankschreibungen. Viel besorgniserregender ist jedoch die gesicherte Zunahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit durch psychische Störungen. Diese haben im Zeitraum von 20 Jahren von 1993 bis 2013 bei Männern sich von 12,5 % aller Berentungen auf 36,5% erhöht, bei den Frauen von 20,3 % auf sogar 49,0 %.

Mein ganzes Berufsleben habe ich mich mit psychologischer Arbeitsgestaltung und Stressminderung beschäftigt. Dazu war es erforderlich, überhaupt erst einmal zuverlässige und gültige Messinstrumente zu entwickeln. Dazu hatten wir an der TU Dresden eine sehr lange Forschungstradition, in der ich aufgewachsen bin.

Was raten Sie mittelständischen Unternehmen, die sich bislang noch nicht hinreichend damit befasst haben?

In Industrie und Verwaltung trifft man vielfach auf Misstrauen, ob den psychische Belastungen überhaupt messbar seien, ob man sie mit der Gestaltung der Arbeit in Verbindung bringen kann und ob man überhaupt private Belastungen von beruflichen trennen könne. Diese Befürchtungen sind in mittelständigen und Kleinbetrieben stark ausgeprägt, die keine eigenen arbeitsmedizinischen und arbeitswissenschaftlichen Dienste haben. Dann wird sehr häufig mit selbstgestrickten Instrumenten gearbeitet, um den gesetzlichen Forderungen des Arbeitsschutzgesetzes nach einer Gefährdungsbeurteilung auch psychischer Belastungen nachzukommen. Das methodische Niveau ist dann oft sehr fragwürdig.

Meine dringende Empfehlung, besonders auch an die Betriebs-und Personalräte ist, sich Experten aus den Berufsgenossenschaften, staatlichen Gewebeaufsichten oder Hochschulen zu holen, sich beraten zu lassen, und die ersten Schritte in diesem Neuland gemeinsam zu gehen.

Welche Instrumente halten Sie für besonders hilfreich?

Von Fachleuten werden in den Leitlinien der gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (2012) drei große Klassen von Methoden empfohlen:

  • Beobachtungsinterviews durch geschultes Personal, indem vorhandene psychische und physische Belastungen erfasst werden nach einem wissenschaftlich entwickelten Erfassungsraster. Das setzt unbedingt eine sorgfältige Schulung der damit Beauftragten voraus und hat dann den Vorteil, dass Arbeitsgestaltungsmaßnahmen in der Regel direkt erfasst werden können.
  • Fragebogenmethoden, mit denen die Arbeitnehmer nach ihrem Erleben und Bewerten der Arbeitssituation gefragt werden. Hier gibt es eine kaum überschaubare Menge an Verfahren, die z.T. auch anforderungsspezifisch sind (z.B. für Pflegetätigkeiten, Führungsprozesse, Informationstechnologien). Obwohl es auf dem ersten Blick sehr leicht erscheint, einen Fragebogen zu entwickeln, sollte man sich hier besonders beraten lassen, um zuverlässige und gültige Instrumente einzusetzen. Auch hier können die Berufsgenossenschaften, aber auch präventiv tätig Krankenkassen gute Berater sein.
  • Gruppenprozeduren, die nach Möglichkeit extern moderiert werden (z.B. Gesundheitszirkel, Sicherheitszirkel), die den großen Vorteil haben, dass die Belegschaft partizipativ beteiligt ist und anstehende Probleme in Gruppen direkt bearbeitet werden können.

Methodisch wird eine Kombination dieser drei Methodenklassen empfohlen.

Entscheidend ist dabei, dass die Präventivmaßnahmen sowohl an der Verbesserung der Arbeitsorganisation und der Arbeitsinhalte ansetzen (Verhältnisprävention) und am gesundheitsbezogenen Verhalten (Verhaltensprävention). Lediglich Maßnahmen wie ein Stressmanagement, Autogenes Training, Rückenschulen, die also auf eine Anpassung des Menschen an frustrierende Arbeitsbedingungen abzielen, greifen zu kurz!

Können Sie Theorien oder Modelle benennen, die man auch als Nicht-Psychologe unbedingt kennen sollte?

Ich war vor kurzem sehr erstaunt und erfreut als der Chef meiner Autowerkstatt, davon sprach, bei seiner Führungstätigkeit das Job Demand-Control-Modell (Karasek) anzuwenden. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass dieses Belastungsmodell schon so weit an der Arbeitsbasis bekannt war. Dieses einfache Modell geht davon aus, das die Gestaltung von zwei Kern-Komponenten Risiken am Arbeitsplatz zu mindern vermag. Eine hohe Arbeitsintensität, großer Zeitdruck vermag in ihren negativen Auswirkungen vermindert zu werden, wenn gleichzeitig vergrößerte Handlungsspielräume vorhanden sind. Das kann beispielsweise durch die Reduzierung von getakteter Fließbandarbeit durch Pufferspeicher oder Gruppenarbeit geschehen. Oder auch z.B. in einem Call Center, wenn den Beschäftigten im Front Office Aufgaben aus dem Back Office übertragen werden, z.B. Gütekontrolle, Dispositionsaufgaben. Nachweislich kann dadurch die Arbeitszufriedenheit gesteigert und psychische Sättigung und Stresserleben vermindert werden.

Eine weiterführende Theorie ist das Gratifikationskrisen-Modell (Siegrist). Hier werden nicht nur die hohe Anforderungen erfasst, sondern auch die Belohnungen (Gratifikationen), die man durch die Arbeit erfährt. Das sind besonders: Entlohnung, soziale Anerkennung, Arbeitsplatzsicherheit. Entsprechen diese Anerkennungen nicht den Forderungen, sondern werden als zu gering erlebt, sind Gesundheitsprobleme, wie Depressionen oder Herzinfarkte wahrscheinlich. Diese beiden Modelle sind wissenschaftlich weltweit gesichert worden.

Um eine Integration dieser beiden Modell Ansätze bemüht sich das weiterführende niederländische Risikomodell Job Demand-Ressource-Modell (Bakker, Demerouti & Schaufeli). Dieses Modell dürfte gegenwärtig das weltweit am meisten genutzte sein.

Es geht davon aus, dass eine beliebig große Menge tätigkeitsspezifischer Anforderungen und psychischer Ressourcen erfasst werden, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Arbeitsressourcen (z.B. Handlungsspielräume, soziale Unterstützung, gute Führung) können die Risikn hoher Anforderungen (Zeitdruck, große Arbeitsmenge, Überstunden) abpuffern, so dass z.B. die Entstehung von Burnout vermindert wird.

Daraus erwächst eine entscheidende Konsequenz für die Gefährdungsbeurteilung nach dem Arbeitsschutzgesetz, dass es nicht genügt, nur die Arbeitsrisiken zu erfassen, sondern auch die schützenden Ressourcen am Arbeitsplatz. Das schafft zudem auch eine größere Akzeptanz solcher häufig sehr kritisch gesehenen Untersuchungen bei den Arbeitgebern.

Gibt es in diesem Zusammenhang auch Ansätze, von denen Sie nicht überzeugt sind?

Warnen möchte ich vor den vielen „selbstgestrickten“ Fragebogen-Methoden zur Erfassung von psychischen Belastungen, ohne hier einzelne nennen zu wollen. Bei der Entscheidung für eine Methodik im Unternehmen sollte man unbedingt Fachleute konsultieren, die die Verfahren nach den Kriterien der ISO EN. DIN 10 075 „Psychische Belastung“ am Arbeitsplatz bewerten.

In dieser DIN-Norm sind die wissenschaftlichen Kriterien für ausreichende Objektivität, Zuverlässigkeit, Gültigkeit und Nutzen von Messinstrumenten genau definiert. Es gibt mittlerweile ausreichend gute Methoden und dazu auch Schulungskurse für deren Einsatz. So führen z.B. frühere Mitarbeiter von mir Wochenkurse für Betriebsräte in einem Beobachtungsinstrument „Screening Gesunden Arbeitens“ (SGA) durch. Dieses Instrument kann dann unter externen Supervision in Unternehmen bei Gefährdungsbeurteilungen selbständig eingesetzt werden.

Der Deutsche Bundestag hat am 18.06.15 das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz) verabschiedet. Was steckt eigentlich genau dahinter? Welche Konsequenzen hat das für die Arbeitswelt?

Das Präventionsgesetz steckt endlich den rechtlichen Rahmen für die dritte wichtige Säule des Gesundheitswesens ab, neben der kurativen Medizin und Rehabilitationsmedizin nun endlich auch die Prävention von Gesundheitsrisiken zu stärken. Wenn auch die finanziellen Mittel dafür noch immer gering sind, so ist das doch als Fortschritt anzusehen. Für spezielle settings (Handlungsfelder) werden Maßnahmen benannt und vor allem Kooperationen zwischen bisherigen Einzelakteuren der Krankenkassen und Unfallkassen ermöglicht. Die Arbeitsgeber haben damit einen viel verbindlicheren Handlungsauftrag, vorsorgend die physische und psychische Gesundheit am Arbeitsplatz nicht nur zu schützen, sondern auch zu fördern!

Können Sie aus Ihrer bisherigen Forschungsarbeit ein (Zwischen-)Fazit ziehen?

In den letzten 20 Jahren hat es eine enorme Entwicklung von Kenntnissen über Risiken am .Arbeitsplatz und Messverfahren zu deren Erfassung und Gesundheitsprävention gegeben. Hierbei sind vor allem die skandinavischen Länder und die Niederlande führend gewesen So gibt es heute eine ganze Reihe epidemiologisch und psychologisch gut geprüfter Beobachtungs- und Befragungsinstrumente, die zum praktischen Einsatz zur Gesundheitsprävention zur Verfügung stehen. Die meisten werden inzwischen durch Fachverlage vertrieben, sind damit also kostenpflichtig. Jedoch sollte das kein Hindernisgrund sein, sie nicht zu nutzen und auf wissenschaftlich nicht gesicherte Verfahren zurückzugreifen. Der nachgewiesene Nutzen präventiver Arbeit übersteigt bei weitem die Kosten der Schutzmaßnahmen (Fritz & Richter 2011).

Es ist als großer Gewinn einzuschätzen, dass in der Überarbeitung des Arbeitsschutzgesetzes 2014 endlich auch die Erfassung psychischer Belastungen in der Gefährdungsbeurteilung explizit gefordert wird.

Welche Literatur empfehlen Sie?

Als gut lesbare Einführungen in Maßnahmen zur psychischen Gefährdungsbeurteilung und der Ableitung präventiver Maßnahmen sollen drei Arbeiten empfohlen werden, insbesondere für Leser mit arbeitswissenschaftlicher Grundausbildung:

  • Fritz, S. & Richter, P. (2011). Effektivität und Nutzen betrieblicher Gesundheitsförderung. Wie lässt sich beides sinnvoll messen? Präventive Gesundheitsforschung, 6, 124-130.
  • Ulich, E. & Wülser, M. (2015). Gesundheitsmanagement in Unternehmen. Arbeitspsychologische Perspektiven. Berlin: Springer
  • Zwingmann, I., Wolf, S., Nebel-Töpfer, C. & Richter, P. (2015). Gefährungsbeurteilung psychischer Belastung. Wissenschaftliche und praktische Erfahrungen in der Erfassung, Prävention und Intervention psychischer Belastungen im Rahmen von Gefährdungsuntersuchungen. Report Psychologie, 40, 444-455.

Vielen Dank für das Interview!

E-Mail-Kontakt zu Prof. Dr. Peter Richter: peter.richter@tu-dresden.de

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