Was hat es mit der Personzentrierten Systemtheorie auf sich? Im Klappentext heißt es dazu, sie sei eine Mehr-Ebenen-Konzeption, bei der das Zusammenwirken unterschiedlicher Systemebenen bei der Aufrechterhaltung und Veränderung von Problemen und Symptomen im Zentrum steht, und deren Bedeutung sich (einerseits) objektiv („von außen“) mit Hilfe der vier Prozessebenen beschreiben lässt, wobei zugleich (andererseits) jene Bedeutungen, welche das Subjekt diesen Aspekte seiner Lebenswelt zuweist, aber wohl mindestens genauso wichtig sind. Das hat mich vor allem deshalb neugierig gemacht, weil ich bei meinem allerersten Kontakt mit der Familientherapie davon erfuhr, dass zumindest in ihren Anfängen wohl so etwas wie ein „sozialsystemischer Reduktionismus“ vorherrschte, was mich – weil ich es eher gewohnt war und auch für sinnvoller hielt, individuenzentriert zu arbeiten – zunächst massiv irritierte und viele Jahre davon abhielt, mich intensiver mit den entsprechenden therapeutischen Konzepten zu befassen.
Da ich mich der Humanistischen Psychologie sehr verbunden fühle, hat es mich gefreut, dass der Autor diese Begeisterung offensichtlich mit mir teilt. Die Personzentrierte Systemtheorie nimmt nämlich eine humanistische Perspektive auf den Menschen ein, „der als „Person“ immer nur und immer schon im Zusammenwirken des Individuums mit seiner sozialen Mitwelt in einem Kontext evolutionärer, bio-psycho-sozialer und soziogenetisch-kultureller Entwicklungsdynamik gesehen werden kann und muss. Zentrale Aspekte wie Sinn, Bedeutung oder Kohärenz finden auf der Ebene personaler Prozesse statt – auch wenn diese ganz erheblich durch soziale Prozesse in ihrer biografischen und historischen Dynamik beeinflusst werden.“ „Systemtheorie“ verweist darauf, „dass die Beschreibung und Erklärung dieser hochkomplexen Interaktion vor allem Prinzipien folgt, wie sie heute für die interdisziplinäre Systemtheorie typisch sind. Im Gegensatz zu klassischen Ursache-Wirkungs-Modellen, die auf unabhängigen versus abhängigen Variablen, linearer Kausalität und instruktivem Interventionismus durch externe Ordnungen beruhen“, geht es in der Personzentrierten Systemtheorie „um vernetzte Variablen, die selbstorganisiert Strukturen bilden und verändern, wobei nichtlineare Entwicklungssprünge typisch sind. Im Zentrum steht die Förderung inhärenter Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, indem die Bedingungen verändert werden, welche die leidvollen Strukturen stabilisiert haben.“ Dabei werden vier Prozessebenen sowie die gegenseitigen Einflüsse zwischen Prozessen auf diesen Ebenen betrachtet: (1) die individualistisch-psychodynamisch-humanistische, (2) die interpersonell-systemdynamische, (3) die organismisch-körperliche sowie (4) die gesellschaftlich-kulturelle.
Das Buch gibt z. B. Antworten auf die folgenden Fragen: Wie und in welchem Ausmaß wirken sich individuelle Sinndeutungen der Kommunikanten auf kommunikativ-interaktionelle Muster aus? Warum sollte man die vier o. g. Prozessebenen stets im Blick haben? Wodurch entstehen Probleme oder Konflikte und wie tragen wir dazu bei, dass sie leidvoll aufrechterhalten werden oder sogar eskalieren? Welche Interventionen sind aus Sicht der Personzentrierten Systemtheorie zu empfehlen? Weil es m. E. wenig Sinn macht, das gesamte Werk zusammenfassend darzustellen, was mir aufgrund der Komplexität vermutlich auch nicht gelingen würde, möchte ich stattdessen auf das Inhaltsverzeichnis aufmerksam machen, das auf der Produktseite des Verlags (siehe „Leseprobe“) zu finden ist. Ein Beispiel für etwas, das ich aus diesem Buch für mich mitnehme, möchte ich dennoch anführen.
Dazu zunächst ein Zitat: „Im Kontrast zur vorherrschend naiv-realistischen, vermeintlich „objektiv“ richtigen Erfassung und Beschreibung des Geschehens im bio-psycho-sozialen Bereich, versucht die Personzentrierte Systemtheorie auch der Perspektive des Menschen als Subjekt Rechnung zu tragen, wozu auch die Berücksichtigung einer biosemiotischen Sicht gehört.“ (S. 16). Die Biosemiotik versteht „Leben“ grundsätzlich als biologische Zeichen- und Kommunikationsprozesse. Wechselbeziehungen und Anpassungsleistungen in der Natur lassen sich erst sinnvoll deuten, „wenn man Organismen als aktive Subjekte begreift, die nur eine ihren Sinnesleistungen, Bedürfnissen und Fähigkeiten entsprechende Umwelt wahrnehmen und gestalten“. Um das Verhalten eines Lebewesens verstehen zu können, sind nach von Uexküll die objektiven Gegebenheiten der Umgebung weniger relevant, als „das, was es davon überhaupt merken und auf was es einwirken kann“, was also dessen Umwelt ausmacht. Dabei umfasst die Merkwelt alles, was zur Art gehört, „wie das Lebewesen mit seinen spezifischen Rezeptoren des Merkorgans die Welt wahrnimmt“, während die Wirkwelt die Art und Möglichkeiten beinhaltet, „wie es mit seinen Effektoren des Wirkorgans in die Welt hineinwirkt“. Dieses Merken und Wirken bezieht sich folglich immer nur auf bestimmte Merkmale eines Objekts bzw. auf die Bedeutungen, die diese für den Organismus haben, und nicht auf das „Objekt an sich“. Ein und dasselbe Objekt kann also für verschiedene Lebewesen eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben, die wiederum von den jeweils vorherrschenden Trieben und Bedürfnissen abhängt. Evolutionär vorgegebene Verhaltensmuster lassen sich dabei in der Regel flexibel an die objektiven Gegebenheiten und Strukturen der aktuellen Umgebung anpassen, d. h. sie weisen eine hohe dynamische Adaptabilität auf. Kurzum: Organismen kommunizieren nicht nur afferent und efferent mit ihrer Umwelt, sondern auch reflektierend mit sich selbst. Das ist zwar gewiss keine spektakuläre Erkenntnis, aber eine, die m. E. dabei hilft, die komplexen Vorgänge, die in der Interaktion zweier Kommunikanten eine Rolle spielen, auf einfachste Weise darzustellen. Demzufolge nimmt eine Person an ihrer Umwelt über afferente Sinnesprozesse (Rezeptoren bzw. Merkorgan) teil und wirkt zugleich über efferente Wirkprozesse in diese hinein. Zwischen Merken und Wirken – bzw. zwischen afferenter und efferenter Kommunikation – findet zumeist so etwas wie eine selbstreferente Kommunikation statt. Damit gemeint ist jenes reflektierende Selbstgespräch, durch das sich ein Individuum seiner Lebenswelt bewusst wird. Diese Betrachtungsweise finde ich äußerst hilfreich, um die ein oder andere Eigenschaft (Zirkularität, Geschichtlichkeit etc.) sozialer Systeme (wie das zweier Kommunikanten) in Seminaren mit deutlich weniger verbalem Aufwand zu veranschaulichen.
Richtig spannend wurde es für mich persönlich dann nochmals im Schlussteil des Buches, da hier verschiedene Interventionen angesprochen und zum Teil auch erläutert wurden, die mir dabei geholfen haben, die praktische Relevanz einiger systemischer Begrifflichkeiten (noch) klarer zu erkennen.
Besonders gut hat es mir dabei gefallen, dass sich der Autor auch in den eher theorielastigen Kapiteln stets darum bemüht hat, die praktische Relevanz der verschiedenen Aspekte aufzuzeigen, die darin besprochen werden. Ich erinnere mich, irgendwann während meiner Ausbildung zum systemischen Coach mal ganz naiv danach gefragt zu haben, wie sich jene Konzepte, die charakteristisch für die Systemtheorie sind (z. B. „Autopoiese“ oder „Emergenz“) im Rahmen eines Coachings oder einer Beratung konkret nutzen lassen? Darauf habe ich damals keine brauchbare Antwort bekommen. Einfach jedoch nur dafür zu sorgen, Systeme irgendwie zu „verstören“, damit sich ein neuer Attraktor bzw. eine funktionalere Ordnung herausbildet, oder lediglich mittels zirkulärer Fragen den ein oder anderen Perspektivwechsel anzuregen, erschien mir jedenfalls nicht befriedigend zu sein. So habe ich mir damals zahlreiche Texte durchgelesen, um mir entsprechende Vorgehensweisen daraus entnehmen oder ableiten zu können, was recht mühsam war. Darunter war auch das Kapitel „Grundlagen systemischer Therapie“ aus dem Werk „Grundkonzepte der Psychotherapie“ von Jürgen Kriz, in dem die wesentlichen Begrifflichkeiten der Systemtheorie in aller Kürze erläutert werden. Daraus habe ich mir eine mehrere DIN-A4-Seiten umfassende Übersicht erstellt, die mir sehr dabei geholfen hat, mich in dem Wirrwarr der Theorien und Modelle zu orientieren. Dabei wurde ich (2013) erstmalig auf das Konzept der Personzentrierten Systemtheorie aufmerksam, das mit meiner bisherigen Arbeitsweise wohl am ehesten korrespondierte. Erst jetzt – also sieben Jahre später – habe ich mich mit dem hier vorgestellten Buch beschäftigt, das 2017 erschienen ist. Meine bis dahin eher auf Intuition als auf Fakten beruhende Befürwortung der damit einhergehenden Betrachtungs- und Herangehensweise wurde durch diese Lektüre nicht nur spürbar bekräftigt, sondern zu einer klar begründbaren fachlichen Position. Dafür bin ich dem Autor dankbar.
Mich hat die Lektüre darin bestätigt, dass es nicht nur möglich, sondern eigentlich sogar erforderlich ist, mit Klienten/-innen zugleich systemisch und personzentriert zu arbeiten. Zudem konnte ich einige Grundlagen der Systemtheorie sowie historisch bedeutsame Entwicklungen innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie (bspw. der Gestaltpsychologie), die mir bereits im Studium begegnet sind, nochmals auffrischen oder vertiefen. Es werden etliche relevante Studien besprochen und es wird immer wieder an konkreten (skizzierten) Fallbeispielen aufgezeigt, wie gewisse Aussagen zu verstehen sind. Dem Autor ist es m. E. gelungen, die manchmal sehr abstrakten oder komplexen Sachverhalte so anschaulich zu vermitteln, dass auch fachfremde Leser/-innen ohne Weiteres davon profitieren dürften. Mir hat das Buch jedenfalls außerordentlich gut gefallen!
- Jürgen Kriz (2017). Subjekt und Lebenswelt – Personzentrierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung und Coaching. Vandenhoeck & Ruprecht.
- Hier finden Sie das Buch auf der Seite des Verlags.
Dr. Jürgen Kriz ist approbierter Psychologischer Psychotherapeut und emeritierter Professor für Psychotherapie und Klinische Psychologie an der Universität Osnabrück. Er erhielt u. a. den Viktor-Frankl-Preis (2005), den AGHPT-Award (2014) und den Ehrenpreis der Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung (2016). In diesem Jahr (2020) wurde ihm für seinen Einsatz für die Förderung und die wissenschaftliche Anerkennung der Humanistischen Psychotherapie in Deutschland sowie die konsequente Umsetzung humanistischer Werte das Bundesverdienstkreuz verliehen.