„Der Körper als Integrator von Fühlen und Denken“ von Prof. Dr. Jürgen Kriz

Bereits 1982 hat Luc Ciompi mit seinem Konzept der „Affektlogik“, welches das Zusammenspiel von Fühlen und Denken ins Zentrum stellt, die psychotherapeutischen Diskurse befeuert. Indem Ciompi betont, dass in jedem Augenblick Affekte und Kognitionen gleichzeitig und in komplexer Wechselwirkung das menschliche Leben bestimmen, versteht er sowohl „Affekte“ wie auch „Kognitionen“ (oft kurz als „Logik“ gekennzeichnet) in einem weiten Sinn: Da es in der Fachliteratur keine einheitlichen Definitionen für Begriffe wie Gefühl, Emotion, Affekt, Stimmung, Befindlichkeit etc. gibt, verwendet er „Affekt“ als Oberbegriff über gefühlsartige Befindlichkeiten auf der Basis umfassender psycho-physischer Prozesse. Es geht um ganzheitliche, körperlich-seelische Gestimmtheiten von unterschiedlicher Dauer, Intensität, Qualität und Bewusstseinsnähe.

Auch „Kognition“ wird im Rahmen der Affektlogik als Sammelbegriff für eine Reihe von Einzelfunktionen verwendet, darunter insbesondere Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und kombinatorisches Denken.

Zwar nimmt Ciompi nicht explizit eine biosemiotische Perspektive ein. Aber er teilt implizit mit dieser die zentrale Einsicht, dass die affektiven Befindlichkeiten in hohem Maße die kognitiven Prozesse moderieren. Um zu betonen, wie stark der (systemische) Einfluss von affektiven Grundstimmungen auf Wahrnehmen, Denken und Verhalten gesehen werden muss, führt Ciompi aus: „[…] im Zustand der Angst zum Beispiel sehen wir die Welt vorwiegend im Rahmen einer (bewussten oder unbewussten) Angstlogik. Entsprechend gibt es eine Logik der Wut oder des Hasses, eine Logik der Freude, der Liebe, der Trauer usw.“ (Ciompi, 2016).

Andersherum betrachtet kommen affektive Stimmungen nicht einfach aus dem Nichts, sondern werden oft, in zirkulärer Dynamik, von situativen Gegebenheiten der Umwelt beeinflusst (was wir nicht selten in unserer Lebenswelt unter einseitigem Blickwinkel gar als „verursacht“ bezeichnen). Evolutionär ist die Bedeutsamkeit von Affekten sogar darin zu sehen, dass damit Organismen auf lebenswichtige Verhaltensweisen bei der Bewältigung situativer Gesamtgegebenheiten eingestellt werden. So werden beispielsweise bei der „Bedrohung“ durch einen „Feind“ die Verhaltenssequenzen von Flucht oder von Kampf ausgelöst – je nachdem, ob der Affekt „Angst“ oder „Wut“ zum Tragen kommt.

Die kognitiven und integrativen Leistungen des Organismus bei solchen kategoriellen Zuordnungen wurden bereits in Unterkapitel 2.3 angesprochen. Freilich – und daran wird die Zirkularität kognitiver und affektiver Prozesse deutlich – hängt die Bedeutungszuweisung „Feind“ und damit „Bedrohung“ eben auch wiederum von den Gestimmtheiten ab: Zumindest beim Paarungsverhalten oder beim Fütterinstinkt ist das augenfällig: Ohne entsprechende Gestimmtheit wird die Löwin vom Löwen eben gar nicht erst als „Sexualpartner“ oder ein geschlüpfter Vogel von einem Altvogel als „zu fütterndes Wesen“ wahrgenommen.

In der Lebenswelt des Menschen haben wir uns nun zwar von einer solchen instinktmäßigen Abstimmung mit den Sozialpartnern in hohem Maße befreit. Unzählige Affektnuancen und Verhaltensmöglichkeiten sind hinzugekommen. Dennoch sollten wir die in Unterkapitel 2,3 angesprochenen Kategorisierungen unserer Wahrnehmung und unseres Denkens aufgrund der evolutionär erworbenen Architektur unseres Organismus nicht unterschätzen. Und dies gilt eben nicht nur für Kategorien wie „Gesicht“ (vgl. Abbildung 3), sondern auch der Einfluss körperlicher Grundgestimmtheiten ist nicht unbeträchtlich.

Diese wenigen Hinweise und Beispiele machen die vielfältigen zirkulären Einflüsse zwischen kognitiven und affektiven Prozessen deutlich: Affekte wirken auf Denken und Wahrnehmen („Wutlogik“) und damit auch auf das Verhalten. Andersherum werden Affekte durch Denken beeinflusst – etwa, wenn jemand starke Eifersucht auch dann spürt, wenn er sich nur vorstellt, sein Partner könnte sich einem anderen zuwenden. Ebenso wirken sich „Erfolg“ oder „Misserfolg“ von Handlungen und wahrgenommene „äußere Gegebenheiten“ auf Affekte aus – auch wenn diese wiederum stark der Bedeutungszuweisung in der Merk- und der Wirkwelt unterliegen. Wieder sehen wir, wie stark sich die Prozessebenen gegenseitig beeinflussen.

In unserer Alltagswelt neigen wir allerdings dazu, diese komplexen zirkulären Dynamiken auf einen „äußeren Verursacher“ oder gar „Täter“ zu reduzieren. Denn es handelt sich ja um Erklärungen, bei denen das greift, was wir als Sinnattraktoren bezeichnen (vgl. Abschnitt 4.1.4). Und indem wir unsere Affekte spüren, die anderen und die Umwelt sehen oder uns daran erinnern, kommt die hohe konstruktive Leistung unserer „Erinnerung“ (Unterkapitel 4.2) zum Tragen: Wir „wissen“ dann, wer oder was uns „schlechte Laune“ oder aber auch viel „Freude“ beschert hat. Aus situativen Bruchstücken der Erinnerung lassen sich unter dem Einfluss starker Affekte besonders gut einleuchtende Zusammenhänge in Form einer plausiblen Geschichte zusammenfügen (bzw. „narrativieren“). Dass wir dabei auch für unsere affektiven Stimmungen selbst ganz überwiegend andere oder Ereignisse aus der „Außenwelt“ verantwortlich machen, ist nur allzu verständlich. Denn wie auch sonst in unserer Lebenswelt erscheint uns „die Welt da draußen“ gut zugänglich und vertraut. Im Gegensatz dazu sind uns die inneren Zusammenhänge unseres Seelenlebens weit weniger vertraut und zugänglich. Dies soll in der folgenden „Fall“-Vignette deutlich werden:

Thomas – oder: Die „Wutlogik“ in der Praxis

Im Rahmen eines 5-Tage-Seminars mit Professionellen aus dem psychosozialen Bereich fand am Morgen des 3. Tages die übliche „Runde“ statt: Alle saßen im Kreis auf dem Boden und jeder sollte kurz sagen, wie es ihm gerade ginge, was wichtig wäre etc.

Als die Reihe an Thomas war, meinte er zum Seminarleiter: „Mir geht es schlecht. Ich habe die ganze Nacht kaum geschlafen. Immer wieder kam mir die Bemerkung in den Sinn, die Sie gestern Abend über mich gemacht haben. Das hat mich sehr verletzt. Je mehr ich daran dachte, desto wütender wurde ich. Und ich merke, dass ich jetzt auch noch ‚stinksauer‘ bin.“

Der Seminarleiter fragte, welche Bemerkung Thomas meinte. Als dieser erzählte, welche Äußerung ihn so beschäftigte, fiel dem Seminarleiter ein, tatsächlich dies oder so etwas Ähnliches gesagt zu haben – allerdings hatte er es anders gemeint und eigentlich sollte es witzig sein. Aber selbst ganz wörtlich und ernst genommen konnte diese Bemerkung nicht der einzige Grund für Thomas Ärger sein. Also lud er Thomas ein, daran mit ihm zu arbeiten (genau solche Arbeit war ja der Gegenstand des Seminars).

Der Leiter bat Thomas, sich nahe zu ihm, Face-to-Face, auf den Boden zu setzen. Ihre Gesichter waren nun weniger als einen halben Meter entfernt. Er bat Thomas, ihm zunächst direkt ins Gesicht zu sehen. Dann sagte er: „Nun schließen Sie bitte ihre Augen und versuchen das Bild meines Gesichts vor Ihrem inneren Auge zu behalten – gleichzeitig aber Ihre Wut möglichst deutlich zu spüren. Lassen Sie sich Zeit – und wenn Sie diese Wut intensiv im ganzen Körper spüren können, heben Sie ganz leicht die rechte Hand, damit ich Bescheid weiß.“

Es dauerte – wie erwartet – etwa 4–5 Minuten, bis Thomas leicht seine Hand hob. Der Leiter sagte: „Nun öffnen Sie Ihre Augen und schauen mich an!“ Thomas öffnete die Augen. Dann runzelte er etwas die Stirn, schüttelte leicht den Kopf und schaute verwundert drein. Plötzlich kam ein leichtes Lachen über sein Gesicht. Der Seminarleiter sagte: „Okay – schließen Sie noch mal die Augen. Lassen Sie sich Zeit – und gehen der Differenz der Bilder nach.“

Was war geschehen?

Unter „normalen“ Bedingungen ist es nicht schwer, sich ein Bild über einige Minuten „vor Augen“ zu halten. Doch während wir subjektiv den Eindruck haben „etwas vor Augen“ zu halten, läuft im Gehirn unbemerkt ein interessanter Prozess ab: Das „Arbeitsgedächtnis“ kann Information, also auch ein solches Bild, ja nur wenige Sekunden präsent halten. Daher wird es immer wieder im Langzeitgedächtnis zwischengespeichert, von dort neu aufgerufen, zwischengespeichert etc. Auch wenn unser Bewusstsein davon nichts mitbekommt: Es handelt sich um einen iterativen Prozess zwischen Arbeits- und Langzeitgedächtnis. Und dieser unterliegt den gleichen Dynamiken, die wir immer wieder in diesem Buch anführen haben – man denke nur an die Veränderung von Zeugenaussagen oder an „Erlebnisse“, wie man vermeintlich in einem Supermarkt verloren gegangen ist in Abschnitt 4.2.1.

Sich das gerade gesehene Bild eines Gesichts einige Minuten lang zu „vergegenwärtigen“, klappt dennoch unter „normalen“ Bedingungen hinreichend gut, wie man leicht ausprobieren kann. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn diese iterativen kognitiven Prozesse in einer „Umgebung“ von massiven Affekten ablaufen. Das, was auch Ciompi als „Wutlogik“ bezeichnet, wird hier wirksam: Die starken Affekte beeinflussen in hohem Maße die kognitiven Prozesse. Und in der Regel merken wir dies nicht einmal selbst.

Auch bei Thomas veränderte sich das innere visuelle Bild des Leiters durch die starken Affekte, unter denen der kognitive Zyklus des „Vor-Augen-Haltens“ stattfand. Selbst aber bekam er von dieser Veränderung zunächst nichts mit, sondern hielt vermeintlich das „Bild“ vor Augen konstant. Erst als er nach 4–5 Minuten die Augen öffnete und sein „inneres“ Erinnerungsbild mit der Wahrnehmung des „äußeren“ Bildes konfrontiert wurde, war auch die Veränderung so offensichtlich, dass er recht verwundert reagierte.

Ein solcher Überraschungseffekt ist für die weitere Arbeit sehr hilfreich, denn sie macht ohne große Erklärungen das Ausmaß an Konstruktion der „Realität“ erfahrbar deutlich. Bei Thomas war es so, dass ihm nach der Überraschung recht schnell das Aha-Erlebnis kam, dass sein „inneres Bild“ wesentliche Gesichtszüge eines Lehrers angenommen hatte, der – vor dem Abitur und rund zwei Jahrzehnte zurückliegend – oft Witze auf Thomas’ Kosten gemacht und ihn so vor der Klasse gedemütigt hatte. Das hatte Thomas inzwischen „eigentlich“ längst vergessen und selbst in der schlaflosen Nacht kam er in seiner intensiven Auseinandersetzung mit seinem Ärger nicht auf die Idee, dass hier ein Zusammenhang bestehen könnte.

Nachdem Thomas dies erzählt und durch Nachfragen des Leiters weitere Aspekte geklärt hatte, war es nur noch wichtig, dass der Leiter auch explizit sagte: „Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Ich hatte nicht geahnt, was das auslösen könnte. Aber ich bin nicht der, welcher Witze auf Ihre Kosten machen will!“ Eine solche klare und explizite Aussage dient der Festigung der Stimmigkeit zwischen kognitiver und affektiver Ebene.

Nach dieser kurzen Arbeit war zwar Thomas Ärger auf den Leiter weitgehend verflogen. Aber seine Stimmung hatte sich nicht gleichermaßen aufgehellt. Es war nun eine komplexe Gemengelage aus Ärger über den Lehrer, Wehmut über seine damalige Machtlosigkeit, sich nicht besser wehren zu können, und Traurigkeit darüber, keine Hilfe von Eltern oder anderen erhalten zu haben. Dies beschäftigte ihn noch eine geraume Zeit.

Diese Nachsätze zur Fallvignette verweisen auf einen wichtigen Aspekt im Verhältnis von affektivem und kognitivem Geschehen: Denn einerseits bestimmt in jedem Moment unseres Lebens eine komplexe Verwobenheit von gleichzeitig ablaufenden affektiven und kognitiven Prozessen unser Dasein. Andererseits, so hat bereits Ciompi betont, spielen sich affektiven Gestimmtheiten und rational-logische Denkprozesse – besonders deren Veränderung – in unterschiedlichen Zeitfenstern ab, die es besonders in Therapie, Beratung und Coaching zu beachten gilt: Wenn ein Lastwagen gerade lebensgefährlich nah an mir vorbeifuhr und ich „fast“ überfahren wurde, so bedarf es höchstens Sekunden für die logische Operation: „Ich bin nicht überfahren worden!“. Doch der Schreck in diesem Augenblick kann mir sowohl „in die Glieder fahren“ (z. B. in Form von Muskelverspannungen) als auch Hormone ausschütten (u. a. Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin). Dies lässt sich nicht so schnell wieder beseitigen. Noch Stunden später können sich die Wirkungen dieser so veränderten Körperprozesse auf meine Wahrnehmungen, meine Gedanken und mein Verhalten bemerkbar machen.

Die vor allem an biochemische Prozesse gebundenen affektiven und anderen körperlichen Vorgänge laufen somit üblicherweise in vergleichsweise großen Zeitfenstern ab. Gestimmtheiten sind recht andauernd und nur langsam änderbar. Im Gegensatz dazu ermöglichen es die bioelektrischen Vorgänge in den Nervenzellen im Neocortex, logische Denkoperationen sehr schnell zu vollziehen und damit ggf. auch eine bestimmte (logisch fundierte) „Sicht“ zu ändern.

Wenn Klienten eine solche veränderte Einsicht äußern, sollten Therapeuten vorsichtig und wachsam bleiben: Es gibt sehr selten Probleme und Beschwerden, die ausschließlich auf der rationalen Ebene liegen und die nicht auch affektiv verkörperlicht sind. Kognitive „Einsichten“ benötigen daher Zeit, bevor sie für den ganzen Menschen – kognitiv und affektiv – „stimmig“ werden können. Und es ist daher gut, dies in Rechnung zu stellen und ggf. auch zu vermitteln, warum die Gefühle nicht so plötzlich mit der Einsicht „stimmig“ werden können.


Bei dem hier vorliegenden Text handelt es sich um eine Leseprobe (S. 185 ff.) aus dem Buch:

Jürgen Kriz (2017). Subjekt und Lebenswelt – Personzentrierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung und Coaching. Vandenhoeck & Ruprecht.

Dr. Jürgen Kriz ist approbierter Psychologischer Psychotherapeut und emeritierter Professor für Psychotherapie und Klinische Psychologie an der Universität Osnabrück. Er erhielt u. a. den Viktor-Frankl-Preis (2005), den AGHPT-Award (2014) und den Ehrenpreis der Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung (2016). In diesem Jahr (2020) wurde ihm für seinen Einsatz für die Förderung und die wissenschaftliche Anerkennung der Humanistischen Psychotherapie in Deutschland sowie die konsequente Umsetzung humanistischer Werte das Bundesverdienstkreuz verliehen.

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