“Warum in der Praxis der Personalauswahl die Forschung keine Rolle spielt” von Prof. Dr. Uwe Peter Kanning

Wer sich ein wenig in der sehr umfangreichen Forschung zur Personalauswahl auskennt und gleichzeitig Einblick in die Praxis der Personalauswahl hat, wird nicht umhinkommen, gewaltige Diskrepanzen festzustellen.

Es beginnt bereits beim Personalmarketing, das eigentlich selektiv auf den Markt der potentiellen Bewerber wirken sollte. Um den prozentualen Anteil geeigneter Bewerbungen zu erhöhen, müssen bestimmte Personengruppen zu einer Bewerbung animiert, und gleichzeitig andere Gruppen von einer Bewerbung abgehalten werden. Die Praxis sieht jedoch oft so aus, dass man nur versucht, die Menge der Bewerbungen insgesamt zu maximieren.

In der Vorauswahl orientieren sich Arbeitgeber immer noch gern am Anschreiben, obwohl etwa zwei Drittel der Bewerber heute mit Vorlagen aus dem Internet arbeiten, die sie nur noch geringfügig an die Stellenanzeige anpassen oder aber sie lassen das Anschreiben gleich von Profis verfassen. Große Aufmerksamkeit wird auf formale Kriterien wie etwa Tippfehler, die Strukturierung des Lebenslaufs oder die persönliche Ansprache gelegt, weil man hierin versteckte Hinweise auf Eigenschaften der Bewerber vermutet – eine Hypothese, die weder plausibel ist, noch empirisch bestätigt werden konnte.

Einstellungsinterviews laufen überwiegend unstrukturiert oder bestenfalls gering strukturiert ab. Verschiedenen Bewerbern für dieselbe Stelle werden dabei unterschiedliche Fragen gestellt, ohne zu berücksichtigen, dass sich die Bewerber, dann nicht mehr untereinander vergleichen lassen. Klare Kriterien zur Bewertung der einzelnen Antworten fehlen ebenso, wie ein direkter Bezug zu den realen Anforderungen der vakanten Stelle. Am Ende werden daher vor allem die Bewerber eingestellt, die dem Entscheidungsträger ein gutes Gefühl vermittelt haben und nicht diejenigen die tatsächlich die beste Eignung aufweisen.

Testverfahren werden ohne Prüfung teststatistischer Gütekriterien ausgewählt. Stattdessen vertraut man dem versierten Berater, der nicht viel mehr als Marketingsprüche für sein Produkt anzuführen weiß. Obwohl Intelligenztests insbesondere bei der Auswahl von (Spitzen-)Managern gute Dienste leisten würden, gibt es nur sehr wenige Unternehmen, die sich trauen, Bewerber für Geschäftsführungsposten, o. Ä. auf ihre Intelligenz hin zu überprüfen.

Die Zukunft wird zeigen, wie man mit der künstlichen Intelligenz umgehen wird. Bislang verhält man sich erstaunlich zurückhaltend aber wahrscheinlich ist dies nur eine Frage der Zeit. Je stärker sich solche Produkte auf dem Markt etablieren, desto eher knicken die Nächsten ein, weil sie sich nicht vorstellen können, dass Hunderte von Unternehmen permanente Fehlentscheidungen treffen.

Letztlich schaden die Verantwortlichen ihren Unternehmen ebenso sehr wie den Menschen, die sie (nicht) einstellen. Die Tatsache, dass man nicht alle eingestellten Bewerber nach einem Jahr wieder entlassen muss, wird dabei gern als Beleg für die Qualität des eigenen Vorgehens missverstanden. Ein Fehler in der Personalauswahl liegt aber bereits vor, wenn sich im Bewerberpool eine Person befand, die 10 % mehr leisten würde, als diejenige, die man eingestellt hat. Würde man in der Medizin ähnlich vorgehen, so würden Chirurgen darauf verzichten, ihre Bestecke zu sterilisieren und zwar mit der Begründung, dass ja viele Patienten auch so überleben. Obwohl man sich als Arbeitgeber in anderen Bereichen des Unternehmens ganz selbstverständlich wissenschaftlicher Erkenntnisse bedient, verharrt die Personalauswahl (und -entwicklung) bis heute in den meisten Unternehmen in einem voraufklärerischen Stadium. Meinungen zählen mehr als Fakten, Expertise wird nicht ernst genommen. Die Gründe hierfür sind vielfältig:

  • Gut ausgebildete Personaler verfügen im Unternehmen nicht über den notwendigen Einfluss im Unternehmen, um professionelle Personalauswahlmethoden durchsetzen zu können. Sie sind oft reine Dienstleister und müssen das umsetzen, was die jeweiligen Fachvorgesetzten einfordern, obwohl Letztere keinerlei diagnostische Ausbildung genossen haben. Ebenso gut könnte man in einem Automobilkonzern die Motoren nach den Vorgaben der Personaler bauen lassen.

  • Bei der Einstellung der Personaler wird mehr auf die Berufserfahrung als auf die fachliche Qualifikation geachtet, obwohl mehrere Studien zeigen, dass auch erfahrene Personaler bei konkreten Auswahlentscheidungen denselben Urteilsfehlern unterliegen wie Laien.

  • Wer selbst keine hohe Expertise aufweist, der schaut nach links und rechts, was die anderen machen. Wenn dort aber auch überwiegend diagnostische Laien stehen, gibt es hier leider nicht viel Gutes zu lernen. Am Ende sichert man im Zirkelschluss gegenseitig falsche Methoden ab und wähnt sich in trügerischer Sicherheit.

  • Menschen überschätzen ihre Fähigkeit, andere Menschen richtig einschätzen zu können. Da in den Unternehmen kaum professionelle Evaluationen durchgeführt werden, können sich die Verantwortlichen die Realität subjektiv immer so zurechtbiegen, dass jeder am Ende die Illusion aufrechterhält, selbst ein Menschenkenner zu sein. Handwerkern oder Ingenieuren würde dies sehr viel schwerer fallen, weil ihre Fehler offensichtlicher zutage treten.

  • Personalauswahl ist immer auch eine Frage von Macht und Einfluss. Mancher Entscheidungsträger mag die Rolle des Türstehers so sehr lieben, dass er den Einsatz professioneller Auswahlmethoden nicht nur als narzisstische Kränkung, sondern auch als handfeste Bedrohung seiner Position erlebt.

Eine Studie mit 600 Praktikern verdeutlicht tiefergehend das Problem mangelnder Fachexpertise. Befragt danach, zu wie viel Prozent sich die zukünftige Leistung von neuen Mitarbeitern über die Dauer der Berufserfahrung prognostizieren lässt, geben die befragten Praktiker im Mittelwert fast 55 % an. Der reale Wert liegt bei gerade einmal 7 %. Das unstrukturierte Interview wird auf 41 % geschätzt, während das hochstrukturierte Interview bei 47 % landet. Die tatsächlichen Werte bewegen sich zwischen 4 und 14 % für das unstrukturierte, und zwischen 19 und 49 % für das hochstrukturierte Interview. Wer glaubt, dass er durch die Kombination aus Dauer der Berufserfahrung und unstrukturiertem Interview die spätere berufliche Leistung der Bewerber fast vollständig prognostizieren kann, handelt in gewisser Weise rational, wenn er diesen beiden Methoden vertraut. Erst wenn er erkennen würde, wie sehr er mit seinen Einschätzungen daneben liegt, könnte er die Fehler einsehen und korrigieren. In sehr vielen Unternehmen fehlt es schlichtweg am notwendigen Fachwissen, um richtige Entscheidungen zur Gestaltung der Personalauswahl treffen zu können.

Die richtige Personalauswahl und auch die richtige Platzierung von Mitarbeitern innerhalb der Organisation gehört wahrscheinlich zu den wichtigsten Investitionsentscheidungen eines jeden Unternehmens. Erst wenn man dies erkannt hat, werden Arbeitgeber damit beginnen, ihre Auswahlprozesse zu professionalisieren. Das Know-how hierfür steht schon lange zur Verfügung und gut ausgebildete Eignungsdiagnostiker warten nur darauf, endlich ernst genommen zu werden.

Dr. Uwe Peter Kanning ist seit 2009 an der Hochschule Osnabrück Professor für Wirtschaftspsychologie. Als Personaldiagnostikexperte setzt er sich für evidenzbasiertes Personalmanagement ein und klärt über Pseudowissenschaften in der Personalauswahl und im Personalmanagement auf.

Kontakt: https://www.hs-osnabrueck.de/prof-dr-uwe-p-kanning/

Literaturempfehlungen:

  • Uwe Peter Kanning (2017). 50 Strategien, die falschen Mitarbeiter zu finden… und wie Sie es besser machen können. Beltz Verlag. → Rezension

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