Persönlichkeit mit Stil?

Warum verhalten sich Menschen manchmal so eigenartig irrational oder seltsam? Wieso haben wir (vermutlich) alle irgendwelche Charakterzüge, die uns immer wieder mal in Schwierigkeiten bringen?

Bild: Manfred Evertz

Auf diese Fragen hat das Modell der Persönlichkeitsstile plausible Antworten parat. In diesem Modell, das von Prof. Dr. Julius Kuhl im Zusammenhang mit der PSI-Theorie entwickelt wurde, wird davon ausgegangen, dass die Umsetzung von Motiven durch Affekte moduliert wird, und zwar durch den Einfluss, den Affekte auf die Aktivierung jener kognitiven Systeme ausüben, die dafür gerade benötigt werden. Psychische Systeme konfigurieren sich – je nach situativen Anforderungen und in Abhängigkeit von der aktuellen Bedürfnislage eines Individuums – immer wieder neu. Diese Systemkonfigurationen werden als Formen der Motivumsetzung betrachtet, die mehr oder weniger adaptiv sein können. Affektive und kognitive Einseitigkeiten – wie sie bei den Persönlichkeitsstörungen unterstellt werden – können zu enormen Problemen führen. Demzufolge werden Persönlichkeitsstile und ihre pathologischen Übersteigerungen in der PSI-Theorie als stabile bzw. chronische Varianten entsprechender kurzfristig auftretender Systemkonfigurationen verstanden. Statt einseitiger Defizitorientierung ermöglicht das dimensionale Konzept der Persönlichkeitsstile nun aber zugleich einen ressourcenorientierten sowie einen problemorientierten, therapeutischen Zugang, indem jeder Persönlichkeitsstil in seinen Stärken und Schwächen dargestellt und als subjektiv sinnhafte Anpassungs- und Überlebensstrategie in spezifischen Sozialisationskontexten verstanden wird. Die durch den jeweils vorherrschenden Persönlichkeitsstil erklärbaren emotionalen (Erst-)Reaktionen treten zwar spontan auf (abhängig vom Temperament, den vorherrschenden Motiven, den konditionierten Reaktionsmustern etc.), sie lassen sich im Nachhinein aber durch selbstgesteuerte Affektregulation beeinflussen (emotionale Zweitreaktion). Je geübter eine Person darin ist, desto weniger ist sie einem Persönlichkeitsstil „ausgeliefert“.

„Das PSSI ist ein Selbstbeurteilungsinstrument, mit dem die relative Ausprägung von Persönlichkeitsstilen erfasst wird. Diese sind als nicht pathologische Entsprechungen der in den psychiatrischen diagnostischen Manualen DSM-IV und ICD-10 beschriebenen Persönlichkeitsstörungen konzipiert.“ (Quelle: Testmanual)

Mit dem PSSI werden die individuellen Ausprägungen der 14 Persönlichkeitsstile mit jeweils 10 Items ermittelt, d. h. dass der Fragebogen insgesamt 140 Aussagen beinhaltet (in der Kurzversion sind es 14 x 4, also 56 Items), denen im Rahmen einer Selbsteinschätzung jeweils ein Wert von 0 („trifft gar nicht zu“) bis 3 („trifft ausgesprochen zu“) zugeordnet wird. Addiert man die 10 Werte, die für einen Persönlichkeitsstil stehen, erhält man einen Rohwert, den man wiederum in ein statistisches Maß (T-Wert) umwandelt, um zu sehen, wie hoch dieser Wert im Vergleich zu einer bestimmten Population (Altersgruppe, Geschlecht) ausfällt.

Nachdem ich mich intensiver mit den verschiedenen Systemkonfigurationen, die den verschiedenen Persönlichkeitsstilen sowie den mit ihnen korrespondierenden Persönlichkeitsstörungen zugrunde liegen, wie es die PSI-Theorie postuliert, sowie mit den typischen Merkmalen der 8 Motivations- und 6 Temperamentstypen beschäftigt hatte, konnte ich relativ klar sagen, wo ich mich selbst sehe. Interessant war es für mich, dass meine Ergebnisse aus dem PSSI-K (also aus der Kurzversion) meine Annahmen tendenziell bestätigten und mich zugleich auf etwas aufmerksam machten, über das ich im Rahmen meiner (Lehr-)Therapie sehr häufig gesprochen habe. Durch die Lektüre des Buches „Motivation und Persönlichkeit“ ist es mir daraufhin gelungen, ein Phänomen, das ich bei mir seit Beginn meiner Pubertät beobachten konnte, das mir allerdings bis vor Kurzem äußerst rätselhaft zu sein schien, in Worte zu fassen und mittels des Modells sogar “funktionsanalytisch” erklären zu können. Damit – so würde ich sagen – habe ich endlich eine schlüssige Antwort auf eine Frage gefunden, die ich mir stelle, seitdem ich denken kann. Dass mich das begeistert hat, ist wohl nachvollziehbar.

Aufgrund dessen habe ich mir die vollständige Version des PSSI beim Hogrefe Verlag bestellt, was den Vorteil hatte, dass ich mir nun ein genaueres Bild von der Messung der 14 Persönlichkeitsstilen machen konnte. Also ich das PSSI daraufhin selbst ausfüllte und mir meine Ergebnisse anschaute, war ich allerdings enttäuscht. Zwar deuteten diese noch immer mit ganz leichter Tendenz darauf hin, dass meine erste Selbsteinschätzung nicht falsch war, allerdings lagen die T-Werte der 14 Persönlichkeitsstile fast alle in einem Bereich, der eigentlich keine entsprechende Interpretation (siehe oben) mehr zuließ. Meine T-Werte lagen (fast) alle zwischen 42 und 55, was ziemlich unspektakulär, aber nicht unbedingt überraschend ist.

Eine „gesunde“ Persönlichkeit sollte dazu in der Lage sein, verschiedene Persönlichkeitsstile flexibel einzusetzen bzw. die gezeigten Verhaltens- und Reaktionsmuster von ihrer aktuellen Bedürfnis- und Motivlage sowie von den situativen Gegebenheiten abhängig zu machen. Das bedeutet für mich übersetzt, dass ich manchmal einen eher ehrgeizigen (z. B. in Wettbewerbssituationen), manchmal einen liebenswürdigen (z. B. beim Flirten) und manchmal einen sorgfältigen Persönlichkeitsstil (z. B. bei der Bearbeitung meiner Steuererklärung) an den Tag legen kann. Je nachdem, worum es gerade geht, kann ich also in einen dazu passenden Modus wechseln. Bei „gesunden“ Menschen dürfte es in der Regel also unzählig viele Situationen geben, in denen sie typische Verhaltensweisen zeigen oder Einstellungen haben, die mit den verschiedenen Persönlichkeitsstilen korrespondieren. Sollte es dennoch häufiger zu einer (automatischen) emotionalen Erstreaktion kommen, im Zuge derer sich ein bestimmter Persönlichkeitsstil zeigt, der eigentlich unpassend ist, ist man dem ja nicht einfach ausgeliefert. Dem Modell zufolge haben Individuen verschiedene Möglichkeiten, in diesen Automatismus einzugreifen (z. B. über Selbstberuhigung oder Selbstmotivierung). Je ausgereifter die Fähigkeit zur Selbststeuerung bzw. -regulation eines Menschen ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich in den Auswertungsergebnissen eines Testverfahrens (wie z. B. dem PSSI) deutliche Auffälligkeiten zeigen.

Um bspw. in Seminaren einen ersten Überblick über die 14 Persönlichkeitsstile geben zu können und dabei zugleich ein wenig zur Selbstreflexion anzuregen, habe ich auf Grundlage des Tests, der Beschreibungen aus dem Buch „Motivation und Persönlichkeit“ und dem Testmanual für jeden Persönlichkeitsstil ein Kärtchen vorbereitet, auf dem jeweils sieben Aussagen zu finden sind, die diesen charakterisieren. Sie ermöglichen es, einen ersten Eindruck zu bekommen, wie die verschiedenen Stile sich typischerweise zeigen. Eine exakte Messung mit einem wissenschaftlichen Verfahren können und sollen diese Kärtchen natürlich nicht ersetzen. Meine beiden “Spitzenreiter” zeige ich Ihnen einmal:

Die funktionsanalytische Perspektive der PSI-Theorie bietet m. E. außerordentlich viele, ganz wunderbare Erklärungen für Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit den einzelnen Persönlichkeitsstilen ergeben, und Problematiken, die ein unflexibler Einsatz oder die starre „Bevorzugung“ eines jeden Stils mit sich bringen kann. Zudem zeigt sie zahlreiche Möglichkeiten auf, wie sich charakterliche “Schwächen”, die zu Problemen führen, in den Griff bekommen lassen.

Literaturhinweise:

  • Julius Kuhl & Miquel Kazén (2009). Persönlichkeits-Stil- und Störungs-Inventar (2. überarbeitete und neu normierte Auflage). Hogrefe Verlag, Göttingen.
  • Julius Kuhl (2001). Motivation und Persönlichkeit. Hogrefe Verlag, Göttingen. → Hier gelangen Sie zur Produktseite des Verlags.

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