Dunkle Gedanken

„Haben Sie sich auch schon einmal die Frage gestellt, was mit Ihnen passieren würde, wenn Sie eines Tages krank werden und – warum auch immer – finanziell nicht außerordentlich gut abgesichert oder entsprechend versichert wären? Wie ginge man dann wohl mit Ihnen um? Würden Sie noch die Zuwendung und Aufmerksamkeit erwarten können, die Sie eigentlich bräuchten? Gäbe es noch Menschen, die sich wirklich um Ihr Wohlbefinden kümmern? Wenn Sie Glück haben, gibt es Menschen in Ihrem Umfeld, die sich auch dann noch um Sie bemühen. Wenn Sie hingegen Pech haben, gibt es die nicht. Und sollten Sie genug Geld haben, könnte es sein, dass Sie (vielleicht vollkommen fremde) Personen motivieren können, sich um Sie zu kümmern. Inwieweit diese Zuwendungen dann allerdings aufrichtig sind, können Sie vermutlich – wenn überhaupt – erst dann einschätzen, wenn es soweit ist. Nicht immer ist das m. E. jedenfalls selbstverständlich. Und was wäre dann? Sollten wir uns so aus unserem Leben verabschieden müssen?“

Das ging mir gestern durch den Kopf. Es lag ein langer und anstrengender Tag hinter mir, an dem ich mich mit vielen schwierigen Themen beschäftigt hatte. Mit den meisten von ihnen hätte ich mich eigentlich gar nicht befassen müssen, habe es aber dennoch getan. Als mir am frühen Abend die Decke wieder einmal auf den Kopf zu fallen schien, haben mich diese dunklen Gedanken plötzlich „überfallen“, woraufhin ich sie verschriftlicht und öffentlich gemacht habe.

Was war da mit mir geschehen?

Der Psychotherapeut Aaron T. Beck hat bereits in den 1960er Jahren über derartige Phänomene berichtet und Techniken entwickelt, mit denen sich die betroffenen Menschen von solchen Gedanken lösen können. Er nannte das, was ich gestern getan habe, „Katastrophisieren“, das neben dem dichotomen Denken, der Übergeneralisierung, dem willkürlichen Schlussfolgern, dem Personalisieren etc. zu den sogenannten Denkfehlern bzw. -fallen zählt. Ein Kollege bezeichnete meine gestrigen Aussagen als „Trugschluss“, worin ihm m. E. zuzustimmen ist. Wenn ich in Seminaren darüber spreche, versuche ich stets darauf hinzuweisen, dass nicht nur Menschen mit einer psychischen Erkrankung dazu neigen, sondern bestimmt jeder hier und da mal in eine dieser Fallen hineintappt. Solange solche Gedanken nicht überhand nehmen, ist das nicht weiter bedenklich. Der Psychiater Daniel G. Amen verwendet hierfür das Gleichnis eines Picknicks, in dem eine Ameise auftaucht. Eine Ameise verdirbt einem noch nicht unbedingt die Freude am Essen. Werden es aber hunderte, sieht die Sache schon ganz anders aus. Im schlimmsten Fall kann sich dann nämlich eine Depression daraus entwickeln, die – wenn es nicht gelingt, sich aus der negativen Gedankenspirale zu befreien, in ihrer letzten Konsequenz vielleicht sogar in einem Suizid mündet.

Was kann man also tun, sollte man bemerken, dass man selbst zu solchen dysfunktionalen Gedanken neigt? Am einfachsten ist es gewiss, sich irgendwie abzulenken und an etwas wohltuenderes zu denken. Gelingt das nicht, kann es hilfreich sein, die Gedanken aufzuschreiben, so wie ich es bspw. gestern getan habe. Dadurch schafft man eine gewisse Distanz zu ihnen und kann sie anschließend hinterfragen oder auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen. In meinem Beispiel würde es sich m. E. anbieten, einmal zu schauen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein solches Katastropenszenario – oder „Horrorvorstellung, wie eine Leserin es nannte – vermutlich zutreffen wird? Wovon hängt es ab, ob jemand sich „so aus seinem Leben verabschieden muss“? Was kann die betreffende Person dafür tun, dass es nicht so kommen muss? Wie kann ihr das (vielleicht) gelingen?

Eine andere Leserin schrieb mir, dass wir eigentlich (Über-)Lebenskünstler seien und deshalb auch in der Lage sein müssten, „bestimmte Ressourcen in uns zu aktivieren“. Diese Erfahrung habe ich schon oft gemacht. In den Gesprächen mit jenen Patienten/-innen, die des Lebens müde geworden sind, frage ich deshalb nach einer Weile des (aktiven) Zuhörens bspw. danach, welche sinnstiftenden Beziehungen es in ihrem Leben vielleicht noch gibt oder gab? Was hat ihnen Freude bereitet und an welche Erlebnisse erinnern sie sich gern? Gibt es irgendwelche Dinge, die ihnen (auch jetzt noch) guttun? Manchmal gelingt es mit diesen oder ähnlichen Fragen, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken und die Stimmung meines Gegenübers (zumindest) ein Stück weit aufzuhellen.

Neben einigen wohltuenden Kommentaren, in denen ich Anteilnahme und Mitgefühl spürte, worüber ich mich sehr gefreut habe, erreichten mich auch persönliche Nachrichten. So wurde ich zum Beispiel gefragt, ob ich „ein Spiel spielen würde“? Nun, meine Gedanken waren echt. Allerdings habe ich inzwischen gelernt, sie nicht mehr allzu ernst zu nehmen bzw. sie nicht mehr so nah an mich heranzulassen, wie ich es noch getan habe, als ich jünger war. Dennoch überfallen sie mich manchmal noch, inbesondere wenn ich erschöpft und in nicht allzu guter Stimmung bin. Dann lege ich mich nach einer Weile in der Regel einfach ins Bett und schlafe. Am nächsten Morgen kann ich die Dinge dann meist schon wieder mit ganz anderen Augen sehen. Leider scheint das aber nicht jedem Menschen zu gelingen. Vor Kurzem habe ich bspw. mitbekommen, wie sich ein Bekannter von mir das Leben nahm. Hätte er die Kraft und den Mut aufbringen können, mit einer ihm vertrauten Person offen über das zu sprechen, was in ihm vorging, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen. Aber wer weiß das schon?

Heute fühlen sich meine gestrigen Gedanken jedenfalls nicht mehr so bedrohlich an. Mir hat es tatsächlich geholfen, sie zu Papier zu bringen und – auch wenn man darüber streiten kann, ob das wirklich gut oder sinnvoll ist – sie in die Welt hinauszuposaunen. Aufgrund der zahlreichen Rückmeldungen konnte ich mich heute früh, als ich ausgeruht war, nochmals mit ihnen befassen und sie daraufhin ad acta legen. Ich bin überzeugt davon, dass es wichtig ist, im Falle eines Falles das Gespräch zu suchen, insbesondere dann, wenn man es allein nicht schafft, sich von seinen trüben Gedanken zu befreien. Sollte man nicht wissen, mit wem man sprechen kann, empfehle ich, sich an die TelefonSeelsorge (https://www.telefonseelsorge.de/) zu wenden, deren Mitarbeiter/-innen rund um die Uhr ein offenes Ohr haben und hervorragend darin geschult sind, Menschen mit Nöten oder Sorgen in der Krise zu unterstützen bzw. aufzufangen.

Herzliche Grüße, Rainer Müller

Literaturhinweise:

  • Daniel G. Amen (2010). Das glückliche Gehirn. Goldmann Verlag.
  • Aaron T. Beck, A. John Rush, Brian F. Shaw & Gary Emery (2010). Kognitive Therapie der Depressionen (5. Auflage). Julius Beltz GmbH & Co. KG

Bild: Manfred Evertz, www.manfred-evertz-art.com