„Startet das Psychotherapiestudium im Wintersemester 20/21?“ von Prof. Dr. Wolfgang Schönpflug

Die neue Approbationsordnung ist da! Vor einem Jahr habe ich in einem Interview mit dem Titel “Ist die Psychologie noch zu retten?” die dramatischen Veränderungen behandelt, welche der Psychologie als Wissenschaft und Beruf bevorstehen dürften, wenn die gegenwärtige Reform der Psychotherapieausbildung verwirklicht wird. Nachdem in diesem Monat das Gesundheitsministerium die neue Approbationsordnung erlassen hat, lassen sich manche Auswirkungen klarer einschätzen. Zunächst werde ich darstellen, wie überhaupt die Ausbildung der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Zukunft gestaltet sein soll.

Die Reform ist nun in vollem Gange: Das „Gesetz zur Reform der Psychotherapeutenausbildung“ ist beschlossen, der Bundesgesundheitsminister hat gerade die zugehörige Approbationsordnung erlassen (veröffentlicht im Bundesgesetzblatt vom 12. März 2020). Nun sind die Hochschulen am Zug. Sie müssen ihre Studienordnungen neu schreiben. Und ihre Entwürfe müssen die zuständigen Landesministerien oder Senatsverwaltungen genehmigen. Ob das bis zum Wintersemester gelingt, wenn der nächste Jahrgang von Studienwilligen in die Hörsäle drängt? Nach den alten gesetzlichen Bestimmungen kann der neue Jahrgang jedenfalls das Studium nicht mehr aufnehmen. Denn diese sind nur noch bis zum 1. September dieses Jahres in Kraft.

So wird es in Zukunft sein: Es gibt eine staatliche Approbationsprüfung. Wer die Prüfung besteht, erhält die Approbation für Psychotherapie. Die Approbation berechtigt zur selbständigen und eigenverantwortlichen Psychotherapie. Approbierte können sich beruflich weiterbilden; danach können sie die Zulassung zum System der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten. Die Approbationsprüfung setzt ein Bachelor-/Masterstudium an einer Hochschule voraus. Für das Bachelorstudium sind sechs Lehrgebiete vorgeschrieben: Klinische Psychologie, Nicht-klinische Psychologie (u. a. Entwicklungs- und Sozialpsychologie), Methodenlehre und Diagnostik, Medizin und Psychopharmakologie; für diese Lehrgebiete ist ein Mindestumfang vorgegeben. Hinzu treten weitere Bezugswissenschaften der Psychotherapie – wie etwa Philosophie oder Neurowissenschaft. Im Bachelorstudium soll in die Grundlagen der Psychotherapie eingeführt werden. Das Masterstudium konzentriert sich dann auf Forschungen zur Psychotherapie, die Lehre von den psychischen Störungen und ihrer Behandlung, die weiteren Aufgaben Klinischer Psychologinnen und Psychologen – wie etwa Begutachtung – sowie einschlägige berufsrechtliche und ethische Fragen. Auch zum Masterstudium werden Mindestumfänge für Lehrgebiete vorgegeben. Das Studium soll die für den Beruf der Psychotherapie nötigen Kompetenzen vermitteln. Daher gehören zum Pflichtprogramm sowohl im Bachelor- als auch im Masterabschnitt praktische und patientennahe Übungen und Tätigkeiten. Insgesamt sind etwa zwei Drittel des Studiums staatlich vorgegeben, und die Hochschulen sind verpflichtet, etwa ein Fünftel des Studiums praxis- und patientennah zu gestalten.

Was wird damit anders? Die Approbation wird vor der Weiterbildung erteilt, nicht wie bisher nach der Weiterbildung. Therapeutische Leistungen können daher schon während der Weiterbildung vergütet werden; das Gesetz garantiert sogar ein Mindesteinkommen von 1.000 Euro monatlich. Damit entspannt sich die oft als prekär beklagte Lage der Berufsanfänger. Die Approbation wird für Psychotherapie insgesamt erteilt, nicht mehr wie bisher getrennt für Erwachsenen- sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Daher setzt die Vorbereitung auf die Approbation weder – wie bisher für Erwachsenenpsychotherapie – allein ein Studium der Psychologie voraus, noch – wie bisher für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie – allein ein Studium der Pädagogik. Vielmehr werden sowohl Kenntnisse der Psychologie als auch Kenntnisse der Pädagogik verlangt, dazu noch – wie erwähnt – Medizin, Psychopharmakologie sowie andere Bezugswissenschaften. Das bisher disziplinäre Studium wird also multidisziplinär.

Wenn in Zukunft Großeltern ihre Enkel fragen: „Was studierst du eigentlich?“ Dann müssten die „studierenden Personen“ – so die neue Sprachregelung in der Approbationsordnung – streng nach der gesetzlichen Regelung antworten: „Wir erwerben die Kompetenzen zur Ausübung des Berufs eines Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin.“ So drückt es der Gesetzgeber aus und vermeidet es, dem von ihm kreierten Studiengang einen Namen zu geben. Der Gesundheitsminister ist vor der Presse weniger zurückhaltend und spricht beherzt von einem Psychotherapiestudium. Die Bezeichnung „Psychotherapiestudium“ ist inzwischen in aller Munde. Die Scheu, die zum Psychotherapeutenberuf führende Ausbildung offiziell als Psychotherapiestudium zu bezeichnen, beruht vor allem auf Rücksichtnahme gegenüber der Psychologie und der Pädagogik, die bisher allein die wissenschaftliche Vorbereitung auf die therapeutische Praxis geleistet haben. Ob sie das effektiv genug taten, ist umstritten. Obwohl der Gesetzgeber im Streit um die Kompetenz akademischer Disziplinen nicht offen Partei ergreift, folgt er doch zwei Forderungen aus der öffentlichen Debatte: Die Anerkennung einer eigenen Psychotherapiewissenschaft und die Einführung eines sich über alle Studiensemester erstreckenden „Direktstudiums“ der Psychotherapie. Die Entscheidung über den Namen des neuen Studiengangs ist nunmehr in die Hochschulen verlagert, und diese werden sich wahrscheinlich nicht alle auf denselben Namen einigen. Sie können den neuen Studiengang weiterhin als „Psychologie“ oder „Pädagogik“ bezeichnen, oder sie geben den traditionellen Namen auf und bezeichnen den Studiengang klar als „Psychotherapie“ – wobei als Kompromisslösung auch „Psychologie und Psychotherapie“ eine Chance hat.

Bild: Manfred Evertz

Eine kleine Revolution ist für ein akademisches Fach die vergleichsweise hohe Praxis- und Patientennähe des Studiums. Man kann den neuen Studiengang fast als „dual“ bezeichnen. Bisher hat man Studierende in den Semesterferien in sechswöchige Außenpraktika geschickt, damit sie etwas Berufspraxis schnuppern. In den Instituten gab es ein Empirisches Praktikum, bei dem die Probanden meist selbst Studierende waren. Für die neuen „Berufspraktischen Einsätze“, Magisterarbeiten und weitere Forschungen werden die Hochschulen Kliniken und andere Gesundheitseinrichtungen als Partnerinnen gewinnen müssen. Wollen sie aber selbst Lehre, Forschung und Praxis verbinden, werden sie ihre Hochschulambulanzen ausbauen. Dann entstehen Kliniken wie in der Medizin, in denen angehende Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten einen Teil ihres Studiums absolvieren, Forschungen für ihre wissenschaftlichen Arbeiten durchführen und schließlich ihre berufliche Weiterbildung erhalten.

Das mag gesundheitspolitisch eine glänzende Perspektive sein. Für die Psychologie wird die gegenwärtige Entwicklung zur Existenzfrage. Verliert das Fach Psychologie im Psychotherapiestudium an Bedeutung, so wird Psychotherapie nicht mehr als psychologischer Beruf erkennbar. Das droht auch, die Qualifikation der Studienabsolventen zu mindern. „Wirkt nicht richtig“, hat der Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen das Reformgesetz kritisiert und aus Protest dagegen sogar eine Demonstration vor dem Berliner Reichstagsgebäude veranstaltet. Zudem befürchtet der Berufsverband eine „Klinikisierung und Medikalisierung“ psychologischer Berufe, wenn für Psychotherapie Approbierte in Schulen, Bertriebe etc. drängen. Besorgnis erregt an den Psychologischen Instituten und Fachbereichen der Hochschulen, dass Personal- und Sachmittel für Grundlagen- und nicht-klinische Praxisfächer gestrichen werden könnten, um Mittel für den erhöhten Bedarf an im Bereich der Psychotherapie freizusetzen.

In der Tat: Die Nachfrage nach dem neuen Psychotherapiestudium wird beträchtlich sein. Ob dagegen an allen Hochschulorten die bundesweite Nachfrage nach Experimenteller Psychologie, Sozialpsychologie, Wirtschaftspsychologie und Ähnlichem für ein volles Lehrangebot ausreicht, ist ungewiss. Wirtschaftlich gesehen, ist dann eine Umschichtung von Ressourcen zugunsten des klinisch-therapeutischen Bereichs geboten. Und was den Psychologenberuf anbelangt: Angesichts der zu erwartenden starken Nachfrage werden die staatlichen Hochschulen bestrebt sein, die Zahl der Plätze für das Psychotherapiestudium hochzuhalten; für Privathochschulen ist das Studienangebot sicher auch finanziell attraktiv. Studierende haben freilich keine Gewähr, nach dem Studium zum Psychotherapeutenberuf zu gelangen; der Gesundheitsminister will nämlich die Zahl der Approbationen „deckeln“. Auch hat, wer nach der Approbation die Weiterbildung absolviert hat, keinen Anspruch auf Krankenkassenzulassung; die Kassen können die Zulassung aus Kostengründen einschränken. Damit ist abzusehen, dass psychotherapeutisch Aus- und sogar Weitergebildete auf nicht-therapeutische Berufe ausweichen müssen, dann z.B. mit ausgebildeten Familien-, Schul- und Arbeitspsychologen konkurrieren und in Schulen, Betrieben usw. das breite Spektrum psychologischer Leistungen auf klinisch ausgerichtete reduzieren (z. B. in Schulen auf die Betreuung von auffälligen Schülern zu Lasten von Schullaufbahnberatung und Unterrichtsorganisation).

Eine Konkurrenz zwischen Psychotherapie und nicht-klinischer Psychologie wäre gar nicht entstanden, hätte man das neue Studium zusätzlich zu dem bestehenden eingerichtet; wofür man allerdings beträchtliche Personal- und Sachmittel bereitstellen müsste. Völlige Neueinrichtungen waren freilich nicht nötig. Die bestehenden Psychologischen Institute und Fachbereiche waren bereit, ja sogar vielfach bestrebt, sich an dem reformierten Studium zu beteiligen. Doch nun erweist sich: Für die Reform reichen die vorhandenen Kapazitäten an Klinischer Psychologie nicht aus, während vorhandene Kapazitäten an nicht-klinischer Psychologie jedenfalls für den Psychotherapiestudiengang nicht mehr gebraucht werden. Kann man die Kapazitäten erhalten für psychologische Lehre und Forschung außerhalb der Psychotherapie?

Die Präsidenten der Deutsche Gesellschaft für Psychologie und des Berufsverbandes deutscher Psychologinnen und Psychologen unterzeichneten noch 2015 eine Erklärung, nach der die Reform der Therapieausbildung nicht auf Kosten nicht-klinischer Fächer erfolgen dürfe. Das war eine klare Forderung nach zusätzlichen Mitteln. Der Gesundheitsminister selbst errechnete einen erhöhten Bedarf für die neue Ausbildung und Prüfung. Doch schon bei der Beratung im Bundesrat gaben die für die Finanzierung der Hochschulen zuständigen Länder zu Protokoll, sie seien an der Vorbereitung der Reform nur unzureichend beteiligt gewesen und hätten dafür keine Mittel vorgesehen. Das bedeutet: Auf absehbare Zeit müssen die Hochschulen die Reform aus ihren bestehenden Haushalten finanzieren. Werden sie dafür nicht in erster Linie Mittel aus dem Bereich der Psychologie selbst umwidmen?

Die Präsidien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie haben bei der Reform der Psychotherapieausbildung einen besonderen Eifer an den Tag gelegt. Ihre Strategie war, den Schwerpunkt der klinischen Ausbildung in den Masterstudiengang zu legen und die nicht-klinische Psychologie im Bachelorstudium so zu stärken, dass deren Kapazitäten voll erhalten blieben. Dazu sollte vor allem der Freiraum genutzt werden, den Gesetz und Verordnung den Hochschulen bei ihrer Studienordnung ließ. Das Bachelorstudium sollte dadurch „polyvalent“ werden, d.h. eine Fortsetzung in Masterstudien mit anderen als klinischen Schwerpunkten zulassen. Der Begriff „polyvalent“ wurde tatsächlich in das Reformgesetz aufgenommen. Doch die weiteren Regeln machen es sehr schwer, eine Polyvalenz in dem genannten Sinne zu verwirklichen. Denn der für polyvalente Psychologie verfügbare Freiraum ist im Laufe der Beratungen immer kleiner geworden. Erstens wurden die festgesetzten Pflichtanteile als Mindestwerte deklariert; es ist damit zu rechnen, dass diese in den örtlichen Studienordnungen überschritten werden und die zur freien Verfügung verbleibende Stundenzahl schrumpft. Zweitens ist Psychologie eindeutig als Bezugswissenschaft der Psychotherapie definiert und steht in Konkurrenz mit anderen als Bezugswissenschaft in Frage kommenden Disziplinen. Und drittens ist deutlich gemacht, dass Psychologie das Studienangebot nicht dominieren darf und überhaupt nur insoweit zu lehren ist, als eine Relevanz für die Psychotherapie besteht. Man muss fragen: Für welche Psychotherapie? Ist es die in den Klassifikationssystemen der Krankenkassen und in den Manualen der Richtlinienverfahren definierte? Dann muss sich psychologische Lehre tatsächlich – wie schon so oft in der Vergangenheit – die Kritik gefallen lassen, sie sei für die Praxis nicht relevant! Dann ist nur wissenschaftlich legitimierte und nur in anderen Anwendungsfeldern bewährte Psychologie Ballast, den Reformer zu Recht abzuwerfen trachten!

Spätestens bei der Studienplanung wird man sehen: Das Konzept der Polyvalenz ist gescheitert. Und wenn Hochschulen an dem Konzept festhalten, so ist das Formsache und wird der Psychologie in ihrer bisherigen Fächervielfalt nicht helfen, ihre Bestände zu erhalten. Wie konnten die Deutsche Gesellschaft für Psychologie am Reformprozess mitwirken, ohne für den Fall einer ernsthaften Gefährdung zahlreicher Fachgruppen ihre Unterstützung zu versagen? Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als die überwiegende Mehrheit ihrer Mitglieder gefährdeten Fachgruppen angehört. Über Erklärungen wird man wohl diskutieren, wenn in den nächsten Monaten die Folgen der laufenden Reform erkennbar werden. Doch Erklärungsansätze seien schon heute genannt: Motor der Reformen waren Therapeutenverbände, insbesondere die Bundespsychotherapeutenkammer, die alle in Deutschland tätigen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vertritt – es sind 52.000. Seit dem 16. Psychotherapeutentag im Jahre 2010 hat die Bundespsychotherapeutenkammer das Prinzip der einheitlichen und multidisziplinären Ausbildung vertreten. Beim Bundesgesundheitsministerium fand das offenen Ohren, weil es in das Schema der heilkundlichen Berufe passte. Innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Psychologie suchte die Fachgruppe „Klinische Psychologie“ oder zumindest die in einer Kommission „Psychologie und Psychotherapie“ vertretenen Mitglieder der Fachgruppe den Schulterschluss mit der Bundespsychotherapeutenkammer. Allerdings war man mit einem klinischen Schwerpunkt im Masterstudiengang zufrieden; ein Wachstum an Personal und eine Vergrößerung von Hochschulambulanzen hätte auch eine vergleichsweise kleine Reform eingebracht.

Als sich eine Reform abzeichnete, welche die Psychologie in ihrer Breite zu dezimieren droht, hat der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychologie keinen Widerspruch eingelegt. Das mag daran liegen, dass in der Gesellschaft selbst eine Gruppierung Einfluss gewonnen hatte, für die ein Direktstudium der Psychotherapie die höchste Priorität hatte: der Fakultätentag Psychologie. Der Fakultätentag ist eine Versammlung von Vertretern psychologischer Studieneinrichtungen – offenbar nach dem Vorbild des Psychotherapeutentages und des Medizinischen Fakultätentages. Der Fakultätentag ist – wohl auf Initiative Klinischer Psychologen – im Jahre 2016, in der Endphase der Reformdiskussion, gegründet worden. Als Institutionenvertretung bildet er – eine ungewöhnliche Konstruktion – eine Fachgruppe innerhalb der Gesellschaft, und ihr Vorsitzender ist im Reformjahr zusammen mit der Präsidentin der Gesellschaft als Doppelspitze aufgetreten. Zusammen haben sie das Reformgesetz und die Approbationsordnung öffentlich begrüßt.

Das Jahr 2020 könnte also zu einem Schicksalsjahr für die Psychologie in Deutschland werden. Wird Psychologie als Wissenschaft und Beruf bleiben, was sie geworden ist – frei und reich an Perspektiven? Oder wird sie zur alten Dame am Hof einer aufstrebenden Psychotherapie? Oder wird sie zum gesunkenen Luxusliner, aus dessen Rumpf findige Taucher immer wieder wertvolle Stücke bergen?

Wolfgang Schönpflug

  • Geboren 1936 in Berlin. Studium der Psychologie, Physiologie, Betriebswirtschaftslehre an der University of Kansas, Lawrence, Kansas (USA) und Frankfurt am Main.
  • Wissenschaftlicher Assistent an den Universitäten Frankfurt a. M. (Prof. Rausch) und Bochum (Prof. Heckhausen). 1967 Dozent, 1969 Wissenschaftlicher Rat und Professor an der Universität Bochum. Seit 1974 Professor für Psychologie (Schwerpunkt Allgemeine Psychologie) an der Freien Universität Berlin (seit 2003 emeritiert).
  • Mitwirkung in örtlichen und überregionalen Studienreformkommissionen. Erster Vorsitzender der Sektion Ausbildung (jetzt: Aus-, Fort- und Weiterbildung) des Berufsverbands deutscher Psychologen (jetzt: Psychologinnen und Psychologen). 2016 Goldene Ehrennadel des Berufsverbandes deutscher Psychologinnen und Psychologen.

Literaturhinweise:

  • Schönpflug, W. (2006). Einführung in die Psychologie. Weinheim: BeltzPVU (2012 Lizenzausgabe Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
  • Schönpflug, W. (2013). Geschichte und Systematik der Psychologie. Weinheim: Beltz (dritte, neu bearbeitete Auflage).
  • Schönpflug, W. (2016). Psychologie – historisch betrachtet. Wiesbaden: Springer.

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Ist die Psychologie noch zu retten? Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Schönpflug

Das folgende Gespräch fand am 16. Mai 2019 in Berlin statt. Anlass war ein Artikel von Professor Schönpflug in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. März 2019 mit dem Titel „Ist das Ende der Psychologie gekommen?“, den Sie hier nachlesen können.

Ihre Vorlesungen zur Geschichte der Psychologie an der Freien Universität Berlin habe ich in guter Erinnerung. Ihr Lehrbuch „Geschichte und Systematik der Psychologie“ benutze ich immer noch als Nachschlagewerk. Sie haben uns damals in die lange Geschichte der Psychologie eingeführt. Nun haben Sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben, dass das neue Psychotherapeutengesetz das Ende der Psychologie als breitgefächerte und vielseitig anwendbare einheitliche Disziplin einläuten könnte.

W.S.: Erinnern Sie sich noch an das Zitat von Franz Kafka? „Übelkeit nach zu viel Psychologie. Wenn einer gute Beine hat und an die Psychologie herangelassen wird, kann er … in beliebigem Zickzack Strecken zurücklegen wie auf keinem anderen Feld. Da gehen einem die Augen über.“ So habe ich mir das vorgestellt: Je nach Temperament springen oder wandern, jedenfalls mobil sein, auch mal schwindelig werden auf einem weiten Feld, auf dem als Grundlagenfächer Allgemeine Funktionenlehre, Entwicklungs-, Persönlichkeits- und Sozialpsychologie gedeihen, dazu viele Praxisfächer wie Klinische und Pädagogische Psychologie, Wirtschafts-, Gesundheits-, Umwelt- und Rechtspsychologie. Wie sich dieses Ensemble geformt hat, habe ich in der von Ihnen genannten „Geschichte und Systematik“ zu erklären versucht.

Mir hat das viel Spaß gemacht. Aber viele Kommilitonen haben sich von Ihrer Begeisterung nicht anstecken lassen. Sie fragten: Wozu soll ich das lernen? Das bringt mir doch nichts für meinen Beruf!

W.S.: Ja, das hat mir leid getan. Ich schwankte: Sollte ich die Studenten bedauern, weil sie mich als Dozenten und Prüfer ertragen mussten, oder sollte ich mich bedauern, weil ich Studierende unterrichten und prüfen musste, die an meiner Lehre kein Interesse hatten.

Das ging ja nicht nur Ihnen mit Ihrer Allgemeinen Psychologie so. Unter der Methodenlehre haben noch viel mehr gestöhnt. Wozu Forschungsmethoden? Das spielt doch in der Praxis keine Rolle!

W.S.: Da prallten zwei Welten aufeinander – die Innenwelt der Wissenschaft in ihrer kleinen Welt des Labors und der Forschungsparadigmen und die Außenwelt mit ihren Problemen der Erziehung, der Arbeit, der Gesundheits-, der Rechtspflege … Das konnte auf Dauer nicht gut gehen.

Also ein Krach? Eine Revolution?

W.S.: Der Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Psychologie hat es bei der Anhörung im Gesundheitsministerium im März einen Quantensprung genannt. Ich will nicht dramatisieren. Die Tatsachen sind die folgenden: Es kommt ein neues Psychotherapeutengesetz. Danach kann man sogleich nach fünf Studienjahren die staatliche Approbation für Psychotherapie erhalten – für Patienten aller Altersstufen. Voraussetzung ist: Man muss in den fünf Jahren die – wie es im Gesetz heißt – für eine psychotherapeutische Versorgungen erforderlichen grundlegenden Kompetenzen erworben haben. Die Kompetenzen erwirbt man in einem vom Gesundheitsminister verordneten Studienprogramm, das drei der fünf Studienjahre umfasst. In einer ersten Umfrage hat sich eine Mehrzahl der Universitätsinstitute in Deutschland bereit erklärt, das vom Ministerium verordnete Studium bis zum kommenden Jahr einzurichten. Viele Studierende, die Psychotherapeuten werden wollen, werden hoch zufrieden sein. Die ungeliebten Grundlagenfächer werden im Ministerprogramm auf einen Anstandsrest von insgesamt etwa einem halben Semester geschrumpft sein, schon im Grundstudium gibt es Praxisanteile – es geht also gleich los mit Psychotherapie satt.

Wird also aus dem Studium der Psychologie ein Studium der Psychotherapie?

W.S.: Der Gesundheitsminister selbst hat in einer Pressemitteilung den neuen Studiengang „Psychotherapie“ genannt und den Begriff „Psychotherapiewissenschaft“ verwendet. Der Fakultätentag Psychologie, der die deutschen Institute vertritt, will dafür Ressourcen des bisherigen Psychologiestudiums einsetzen. Das zukünftige fünfjährige Studium, das die Approbation voraussetzt, soll ein Bachelor-/Masterstudium der Psychologie sein – eben mit 60% heilkundlich relevanten Lehrveranstaltungen. Ein Studiengang Psychologie mit 60% Psychotherapie? Ich denke: Das kann doch nicht das weite Feld sein, auf dem man – wie ich vorhin zitierte – in beliebigem Zickzack große Strecken zurücklegt. Da wird´s doch eng. Und weil man auf dem engen Feld mehr Kapazität für Klinische Psychologie braucht, muss nichtklinische abgebaut werden.

Der Fakultätentag sieht das anders. Er sagt erstens: Die Institute brauchen ja nicht alle ihre Studienplätze für das approbationsgerechte Studium zu vergeben; sie können einen Teil für ein anderes, komplett polyvalentes – wie der Fakultätentag sagt – Studium vorsehen. Und zweitens: Es gibt ja noch 40% Studienzeit, die nicht für Psychotherapie reserviert ist; da kann man noch jede Menge andere, polyvalente – wie der Fakultätentag sagt – Psychologie unterbringen. Und drittens: Für den Mehrbedarf an Klinischer Psychologie gibt es neue Haushaltsmittel.

W.S.: Die Entscheidung darüber werden letztlich die Studierenden treffen. Schon jetzt ist die Nachfrage nach Ausbildung in Klinischer Psychologie groß. Und der Gesundheitsminister hat recht, wenn er vor der Presse verlautbart, die Approbation als Abschluss werde das neue Studium der Psychotherapie noch attraktiver machen. Wenn also ein Ansturm auf das approbationsfähige Psychotherapiestudium einsetzt und Plätze für einen nicht approbationsfähigen Psychologiemaster übrig bleiben, werden Universitätsverwaltungen und Verwaltungsgerichte dafür sorgen, dass umgeschichtet wird. Und zum Zweiten: Wenn die meisten angehende Psychotherapeuten nun einmal keinen Spaß an Grundlagen- und Methodenfächern sowie an nichtklinischen Anwendungen haben, dann werden sie ihre 40% vom Gesundheitsminister nicht beanspruchten Studienzeiten anderen Fächern widmen, die ihnen mehr Spaß machen und für ihren späteren Beruf mehr zu bringen versprechen: Zum Beispiel Familiensoziologie oder Interkulturelle Studien oder gender studies. Das erlaubt der Gesundheitsminister ausdrücklich. Denn er verlangt als Ergänzung zu seinem Pflichtprogramm ein Studium von Bezugswissenschaften. Psychologie ist eine dieser Bezugswissenschaften, aber eben auch nur eine von vielen wählbaren. Wie viele Wissenschaften stehen doch in Bezug zu einer Psychotherapie in der modernen Gesellschaft! Und zum dritten Punkt: Den Universitätskanzler gibt es wohl nicht, der für eine Reform der Psychotherapieausbildung mehr Geld ausgibt, wenn diese gleichzeitig im weiteren Bereich der Psychologie Einsparungen ermöglicht.

Also ein Ende der Psychologie! Gibt es da noch eine Rettung?

W.S.: Also erst einmal: Ich habe nicht den totalen Untergang der Psychologie vorhergesagt. Ich habe nur geschrieben: Die Psychologie hierzulande war bisher eine breitgefächerte, vielseitig anwendbare Einzeldisziplin. Damit ist Schluss, wenn die Psychotherapie jetzt rausgeht und sich als Psychotherapeutenberuf und als Psychotherapiewissenschaft – so steht das im Gesetz – verselbständigt. Insofern: Wende, Ende. Und hinzu kommt die Sorge: Bleibt genug für den Rest, wenn die Psychotherapie bei ihrem Auszug Ressourcen mitnimmt?

Sie haben gerade gesagt: Der Rest wird nicht groß sein, wird vielleicht gegen Null gehen, wenn sich alle Studierende nur auf Psychotherapie stürzen. Wenn dem so wäre, gäbe es bei uns bald nur mehr approbierte Psychotherapeuten.

W.S.: Mit einer bedeutsamen Einschränkung: Der Gesundheitsminister will die Zahl der Approbationen deckeln. Man spricht jetzt von knapp 3.000 Approbationen im Jahr. Wir haben gegenwärtig etwa 4.000 Masterabschlüsse. Das gibt entweder ein Hauen und Stechen um die Zulassung zur Approbation – und zwar erst nach Studienabschluss. Oder es wird bereits die Zulassung zum Psychotherapiestudium auf 3.000 landesweit gedeckelt. Dann bliebe freilich Kapazität übrig für nicht heilkundliche Psychologie.

Die könnte dann für die Ausbildung in Wirtschaftspsychologie, Schulpsychologie usw. eingesetzt werden.

W.S.: Ja, aber wieder mit einer Einschränkung: Das müssen die Studierenden wirklich wollen. Sie dürfen nicht Druck machen und eine Erhöhung der Zulassungen zum Psychotherapiestudium und zur Approbation fordern. Wir brauchen keine psychologischen Studiengänge für junge Leute, die frustriert sind, weil sie nicht zum Studium der Psychotherapie zugelassen wurden. Das ist es, was mich am Konzept des polyvalenten Studiums stört, das neben dem Psychotherapiestudium angeboten werden soll: Es kann allzu leicht negativ bestimmt werden – als Psychologie, die alles ist nur keine Psychotherapie. Bei der verbreiteten Erwartungshaltung ist das wie Kuchen ohne Rosinen.

Das gilt auch für Auftrag- und Arbeitgeber. Wenn ein polyvalent ausgebildeter Psychologe mit einem Mastergrad bei einem Auftrag- oder Arbeitgeber erscheint, der ein wenig Bescheid weiß, wird der möglicherweise fragen: Warum hat der keine Approbation? Soll ich nicht lieber einen Psychologen mit Approbation nehmen?

W.S.: Das vermeidet man, wenn man Studiengänge und Abschlüsse positiv bestimmt. Etwa durch bedeutsame Anwendungsfelder: Erziehung, Arbeit, Markt, Verkehr, Recht. Da gibt es viele Optionen, und man braucht das nicht knapp zuzuschneiden. Da kann man Cluster bilden – zum Beispiel Personalentwicklung, Training, Coaching, Marketing u. Ä.. Eine solche Aufzählung ist selbstverständlich viel zu umständlich. Da muss ein einheitliches Konzept her wie für ein neues Produkt, und ein neues Produkt braucht einen schlagkräftigen Namen, gern ein Anglizismus –beispielsweise für den genannten Cluster: Human economics / Humanwirtschaft. Klingt schrecklich, aber irgendwie so …

Ähnlich müsste es auch gehen in einem Cluster Erziehung/ Bildung/ Medien. Ich weiß, es gibt bereits Überlegungen zu einem weiteren Studiengang Human Engineering / Cognitive Ergonomics. Ein Cluster braucht nicht an allen Orten vertreten zu sein, aber doch wenigstens dauerhaft paarmal im Land. Dafür könnte man selbstbewusst werben, und wenn´s glückt, Studenten anziehen, die es begeistert. Und dann hat man sowohl Studierende als auch Abnehmer, welche die Ausbildung zu schätzen wissen.

Human Economics, Human Engineering – nicht Wirtschaftspsychologie, Arbeitspsychologie? Gibt es dann gar kein Studium mit „Psychologie“ mehr?

W.S.: Name ist Schall und Rauch. Oder ist nomen doch omen? Ich habe die Mode der Neubenennungen nicht erfunden. Ich habe mich als experimenteller Psychologie nie Hirnforscher genannt. Aber neue Namen schwirren herum und signalisieren Originalität, Eigenständigkeit. Was viel gravierender ist, als solche Sprachspiele: Ich schlage gerade vor, für einzelne Anwendungsfelder eigene Studiengänge zu konstruieren. Dabei führe ich gedanklich fort, was mit dem Auszug der Psychotherapie begonnen hat, und lande bei einer weiteren Teilung der Psychologie als einheitlicher Disziplin. Und Sie haben richtig bemerkt: Dabei geht ganz schnell die Bezeichnung Psychologie verloren. Aber Sie haben gefragt: Gibt es noch eine Rettung? Und ich antworte: Für unsere großen Anwendungsfelder könnte das eine Rettung sein.

Die bisherige Bachelor-/Masterausbildung in Fortführung der Diplomausbildung ist Ihrer Meinung nach ein Auslaufmodell?

W.S.: Ja.

Und damit auch der akademisch gebildete All-Round-Psychologe?

W.S.: Ja.

Ich bin erstaunt. Sie argumentieren gar nicht mehr wissenschaftsimmanent. Sie sprechen gar nicht mehr – wie vorhin – von einem großen Feld, in dem man wandert und springt zum eigenen Vergnügen. Sie argumentieren wie ein Unternehmensberater, der eine Firma zerlegt, um sie besser zu vermarkten.

W.S.: Oder um die Firma zu retten. Danach haben Sie doch gefragt: Gibt es eine Rettung für die Psychologie als akademisches Fach? Warum kann sie denn nicht weitermachen wie bisher? Weil sich ihre Bestandsbedingungen geändert haben. Es heißt nicht mehr: Ist sie sich selbst genug? Es heißt: Wie wird sie nachgefragt? Ja, wir sind ein Marktobjekt. Und die Psychotherapie ist – marktwirtschaftlich gesprochen – unser Filetstück. Die Psychotherapie ist die Task Force der Gesellschaft gegen psychische Störungen. Und psychische Störungen haben Karriere gemacht in unserer Gesellschaft: Nach Gesundheitssurvey machen sie 30% aller Erkrankungen von Erwachsenen aus. Laut Swiss Life, dem Lebensversicherer, sind in Deutschland 37% der Fälle vorzeitiger Berufsunfähigkeit psychisch bedingt. Das kostet Milliarden an Arbeitsausfällen, für Therapie und Rehabilitation. Deshalb hat auch der Gesundheitsminister eingegriffen. Nun geht das Filetstück weg. Und wir müssen erkennen: Es war der Garant unseres Wachstums.

Wie meinen Sie das? Welches Wachstum meinen Sie?

W.S.: Ich meine das Wachstum der Psychologie an den deutschen Hochschulen. Gegenwärtig studieren rund 80.000 Personen Psychologie. In den 1960er-Jahren waren es keine 10.000. Entsprechend ist das Lehrpersonal gewachsen auf rund 1.000 Professoren und 3.000 weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Von dem Wachstum haben aber doch alle Fächer profitiert.

W.S.: Das ist doch das Problem. Die Studierenden sind zu tausenden in das Studium der Psychologie gekommen, und wir haben ihnen experimentalpsychologische Praktika und Statistikveranstaltungen und viele Grundlagen angeboten. Aber die meisten wollten das gar nicht. Die wollten Psychotherapie. Und um Weiterbildung in Psychotherapie zu bekommen, mussten sie vorher das Psychologendiplom machen. Das war zunächst nicht bindend, doch ab 1998 durch das erste Psychotherapeutengesetz so geregelt. Und weil sie das Diplom wollten oder brauchten, haben sie die ungeliebten Veranstaltungen absolviert. Wir sprachen doch am Anfang davon. Je mehr Hörer und Prüflinge ich hatte, desto mehr kamen nur, weil sie meine Scheine und Noten wollten. Andererseits: Je mehr sich einschrieben, desto mehr Stellen bekamen wir. Der Ansturm auf die polyvalente Psychologie war eine sehr nützliche Illusion. Und die Illusion war auch selbstdienlich, weil wir uns ein wenig schmeicheln konnten, wir seien attraktiv, weil alle unsere Wissenschaft so gut war.

Doch warum diese Trennung von Psychologie und Psychotherapie? Ist Psychotherapie nicht aus der Psychologie hervorgegangen? Der Wissenschaftsrat hat ja kürzlich erst festgestellt: Psychologie ist die Mutterdisziplin der Psychotherapie.

W.S.: Da muss ich weiter ausholen. Da muss ich erst einmal etwas sagen zur Schichtung der Psychologie. Psychologie ist ja ein Kulturphänomen, sie steckt erst einmal in unserer Sprache und unseren Bräuchen. Mein Lehrer Fritz Heider nannte das „Naive Psychologie“, und damit war überhaupt nichts Abschätziges gemeint. Naiv bedeutete nur implizit, also nicht zur Sprache gebracht. Das ist die erste Schicht. Nun kommen Gelehrte und machen Psychologie explizit; sie bringen sie auf Begriffe und zur Sprache, suchen sie zu ergründen und zu erweitern. Die doctores und professores, die an den höheren Lehranstalten ihr Brot verdienen, sind kluge Leute, manche richtige Hochleistungsintellektuelle. Aber sie sind selbstbewusst, igeln sich ein in ihren akademischen Institutionen, ergänzen sich meist durch Berufung von Gleichgesinnten und Nachwuchspflege. Sie ereifern sich über Prinzipien, streben nach Generalisierung. Dafür ist die Welt zu komplex. Daher abstrahieren sie die Wirklichkeit in ihrem Denken und vereinfachen sie in ihren Laboratorien. So gelangen sie zu eindrucksvollen Erkenntnissen und nennen diese Wissenschaft. Das ist eine zweite Schicht. Zwischen naiver und wissenschaftlicher Psychologie bleibt viel Raum. Da siedelt sich eine weitere Schicht an, die bezeichne ich in Anlehnung an den von mir sehr geschätzten Max Dessoir „Popularpsychologie“. Das ist wieder nicht abschätzig gemeint, sondern höchst respektvoll. Es ist die Psychologie der Bürgergesellschaft, die im 19. Jahrhundert einen gewaltigen Aufschwung nimmt. Erzieher, Geistliche, Ärzte, Justizbeamte und Andere diskutieren und schreiben da über „Seelennatur-, Seelenkrankheits- und Seelenheilkunde“. Die Kunst nimmt regen Anteil und überhaupt die Öffentlichkeit. So kommen Konzepte wie „Unbewusstes“ auf. Berater, Lehrer, Nervenärzte propagieren eigene Theorien und Methoden. Es entstehen Richtungen wie die Psychagogik und die Psychoanalyse.

Die Wissenschaft an den akademischen Institutionen hat sich gegenüber diesen Richtung weit überwiegend distanziert oder sogar ablehnend verhalten. Kognitive Richtung erschienen zu wenig originell, weil sie bekannte antike Redekünste zur Sinngebung und Wertsetzung auffrischen; psychoanalytische Richtungen waren mit scharfsinnigen, mitunter an Tabus rührenden Annahmen über das Unbewusste originell, doch erschienen sie zu spekulativ. Die psychoanalytische Bewegung zog aus der Ablehnung eine doppelte Konsequenz: Sie richtete eigene Ausbildungsinstitute ein und ließ zur Ausbildung auch Laien zu, insbesondere ärztliche Laien. Aus einer popularpsychologischen Bewegung ging also eine Expertengruppe mit eigenen Konzepten und eigener Praxis hervor. Doch sie organisierte sich privat, blieb jedenfalls vor den Toren der akademischen Institutionen. Oder doch nicht ganz? Die Nervenärzte unter den Experten waren ebenfalls akademisch ausgebildet, durften sich „Doktor“ nennen. Im Unterschied zu den anderen, den nicht-ärztlichen Beratern und Therapeuten.

Ich erzähle hier lange und doch recht verkürzt.

Das ist schon in Ordnung. Das kann man in Ihrer „Geschichte und Systematik“ ausführlich nachlesen und in knapper Form in Ihrem Kurzlehrlehrbuch „Psychologie – historisch betrachtet“. Der Springer Verlag hat mir erlaubt, das Kapitel „Psychotherapie als Heilberuf“ als Leseprobe zu verlinken unter: https://psyche-und-arbeit.de/?page_id=13028. Da kann man also nachlesen: Sie unterscheiden eine Psychologie im akademischen Format und daneben eine aus Praxis hervorgehende Expertenpsychologie. Diese Auffassung ist sicherlich nicht mainstream. Der mainstream bevorzugt das Scientist-Practitioner-Modell. Das Modell verknüpft Ihre beiden Schichten: Die Expertenpsychologie aus der Praxis bringt ihre Konzepte in den Kontext der akademisch gepflegten Theorie ein, profitiert von ihren Methoden und steigert damit ihre Qualität. Eine doppelte win-Situation übrigens, weil die akademischen Vertreter ihrerseits einen theoretisch-methodischen Input erhalten, ihren Realismus erhöhen und ihre gesellschaftliche Relevanz.

W.S.: Der Begriff Scientist-Practitioner stammt aus den USA der 1930er-Jahre, und er war nicht zuletzt auf das dortige „clinical movement“ gemünzt. Es ging darum, an Universitäten als Alternative zu den psychologischen Laboratorien „psychological clinics“, also Ambulatorien zur psychologischen Beratung und Behandlung zu schaffen. Dabei galt in der Tat die Idealvorstellung, Praxis wissenschaftlich zu begründen und Wissenschaft durch Konfrontation mit praktischen Problemen lebensnäher zu gestalten. Die klinische Bewegung umfasste neben Erziehungsberatung auch Behandlung von Störungen – oft schwer zu unterscheiden. Um Protagonisten wie Aaron T. Beck bildeten sich eigene Gruppen, genannt „Schulen“. Die so in den USA aufkommende, immer stärker werdende Klinische Psychologie breitete sich dann seit den 1970er-Jahren auch in Europa und in Deutschland aus. Die Universitäten richteten Professuren für Klinische Psychologie ein, ja sogar „clinics“ für ambulante Behandlungen. Berufenere als ich müssen feststellen, wie weit damit die Idealvorstellung der wissenschaftlich fundierten Praxis verwirklicht wurde.

Das klingt sehr skeptisch. Haben Sie Zweifel?

W.S.: Der praktische Nutzen der Klinischen Psychologie ist unbestreitbar. Über ihre wissenschaftliche Fundierung will ich mir wirklich kein Urteil erlauben. Aber ein wenig sauer bin ich schon. Wir haben ja schon zu Beginn von meinen Schwierigkeiten mit Studenten gesprochen und deren Schwierigkeiten mit mir. Ich habe mich bemüht, gute Wissenschaft zu vermitteln. Und wie oft habe ich hören müssen: Nein danke – wir interessieren uns mehr für Klinische. Und dann habe ich gefragt: Warum seid ihr hier? Und so bin ich zur Erklärung gelangt: Man kann den Scientist-Practitioner unter zwei Aspekten sehen, einem genuinen und einem sozialen. Unter dem genuinen Aspekt verbindet er Wissenschaft und Praxis; dabei treiben sich Wissenschaft und Praxis gegenseitig. Unter dem sozialen Aspekt ist der Scientist-Practioner ein Praktiker, der zugleich einen Platz unter den Wissenschaftlern hat.

Also er ist Wissenschaftler und Praktiker, aber seine Praxis hat nicht unbedingt etwas mit seiner Wissenschaft zu tun. Und was bringt das?

W.S.:  Akademisch betriebene Wissenschaft ist ja ein Prestigeobjekt und in vielen Bereichen ein ungeheurer Fortschrittsmotor. Seitdem Preußen ein Staatsexamen eingeführt hat, mit dem sich Juristen für den Staatsdienst qualifizieren können, haben immer mehr akademische Fächer berufsqualifizierende Studienabschlüsse eingeführt und damit ihren Absolventen eine berufliche Laufbahn eröffnet. Die Psychologie ist gefolgt – zunächst mit ihrer Diplomprüfung. Die psychologischen Berater und Behandler hatten nun lange zwei Probleme: Ein äußeres Problem: Es fehlte dem Beruf die formelle akademische Anerkennung. Allerdings galt das nicht für alle Vertreter des Berufs in gleicher Weise. Denn einige waren als Ärzte ausgewiesen, verfügten also über eine akademische Zugehörigkeit. Das schuf wiederum ein inneres Problem: Ungleichheit von ärztlichen und nicht-ärztlichen Psychotherapeuten. Um gleichzuziehen, absolvierten die Nichtmediziner ein anderes Studium, vorzugsweise Psychologie, das ja nach populärem Verständnis den Rahmen der Psychotherapie bildet. So bekamen alle einen akademischen Status. Diese Regelung war viele Jahre informell. Doch 1998 wurde – wie bereits erwähnt – die Regelung in Deutschland gesetzlich, kurz danach ebenfalls in Österreich. Der Beruf des Psychotherapeuten für Erwachsene setzt seitdem ein Studium der Psychologie voraus. Für Kinder- und Jugendpsychotherapie wurde ein Studium der Pädagogik Voraussetzung. Leider stimmte das populäre Verständnis von Psychologie nicht mit dem überwiegenden Selbstverständnis der akademischen Psychologie an den Universitäten überein, und so kam es zu dem quälenden Nebeneinander.

Insofern ist es konsequent, wenn sich die Psychotherapie nun mit einem eigenen Studiengang verselbständigt.

W.S.: Ja. Es tut nur den Anderen weh, wenn damit so viele Mittel von der verbleibenden Psychologie abgezogen werden.

Wir sprechen von der Rettung der verbleibenden Psychologie. Sie sehen eine Aussicht auf Rettung für psychologische Studiengänge mit klarem Fokus auf Praxisbereiche wie Arbeit/Wirtschaft oder Erziehung/Bildung. Haben wir es da nicht auch mit der von Ihnen beschriebenen Schichtung zu tun?

W.S.: Selbstverständlich. Es gab und gibt doch Lehrer, Ökonomen, Richter, die sind gute Psychologen, ohne Psychologie studiert zu haben. Ihre Expertise schlägt sich in selbständigen Lehren nieder wie Pädagogik und Arbeitswissenschaft, aber auch in psychologischen Spezialdisziplinen wie Pädagogische Psychologie und Arbeitspsychologie.

Und wie beurteilen Sie das Wissenschafts-Praxis-Verhältnis in diesen Disziplinen – eher genuin oder eher sozial?

W.S.: Beziehungen sind immer auch Sozialbeziehungen. Aber hier sehe ich doch mehr genuine Wissenschafts-Praxis-Beziehungen, Synergien. Insbesondere gibt es engere Verbindungen zu Grundlagenfächern wie Entwicklungs- und Sozialpsychologie, Kognitions- und Handlungspsychologie, mehr Aufmerksamkeit für nicht intuitive wissenschaftliche Methoden.

Nun sind wir zu den Grundlagen- und Methodenfächern gekommen. Sind die zu retten als Teile von praxisfokussierten Studiengängen?

W.S.: Das könnte ein Weg sein.

Und ein eigener Studiengang „Psychologische Grundlagen und Methoden“?

W.S.: Das wäre schön. Aber immer wieder: Dafür muss man Studierende gewinnen. Das können wir nur, wenn wir ihnen eine berufliche Perspektive bieten. Dafür reicht der Personalbedarf der Hochschulen allein nicht. Wenn Hochschulen nur für die Hochschullaufbahn ausbilden, produzieren sie zu viele frustrierte Privatdozenten. Aber es gibt eine Perspektive außerhalb der Hochschulen. Die Bundesregierung und die Wirtschaft investieren viel Geld in außeruniversitäre Forschungsinstitute – etwa die nach Leibniz, Max Planck, Fraunhofer benannten. Außeruniversitäre Forschung – das könnte für Absolventen eines auf Grundlagen und Methoden fokussierten Psychologiestudiums das rettende Ufer sein.

Eine persönliche Frage zum Schluss: Sind Sie sehr enttäuscht, Herr Schönpflug? Es geht ja auch um Ihr Lebenswerk.

W.S.: Ich klage nicht. Ich bin ja kein Akteur mehr. Ich bin nur noch Betrachter. Ich beobachte und analysiere – aus einer historischen Perspektive, auf einer Metaebene. Ich bin überzeugt: Rekonstruktion der Vergangenheit ist gut für die Diagnose der Gegenwart. Wenn es mir gelingt, das zu vermitteln, bin ich zufrieden. Vielleicht hilft das den aktiven Kolleginnen und Kollegen, das Bestmögliche aus der gegenwärtigen Situation zu machen.

Wolfgang Schönpflug

  • Geboren 1936 in Berlin. Studium der Psychologie, Physiologie, Betriebswirtschaftslehre an der University of Kansas, Lawrence, Kansas (USA) und Frankfurt am Main.
  • Wissenschaftlicher Assistent an den Universitäten Frankfurt a. M. (Prof. Rausch) und Bochum (Prof. Heckhausen). 1967 Dozent, 1969 Wissenschaftlicher Rat und Professor an der Universität Bochum. Seit 1974 Professor für Psychologie (Schwerpunkt Allgemeine Psychologie) an der Freien Universität Berlin (seit 2003 emeritiert).
  • Mitwirkung in örtlichen und überregionalen Studienreformkommissionen. Erster Vorsitzender der Sektion Ausbildung (jetzt: Aus-, Fort- und Weiterbildung) des Berufsverbands deutscher Psychologen (jetzt: Psychologinnen und Psychologen). 2016 Goldene Ehrennadel des Berufsverbandes deutscher Psychologinnen und Psychologen.

Literaturhinweise:

  • Schönpflug, W. (2006). Einführung in die Psychologie. Weinheim: BeltzPVU (2012 Lizenzausgabe Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
  • Schönpflug, W. (2013). Geschichte und Systematik der Psychologie. Weinheim: Beltz (dritte, neu bearbeitete Auflage).
  • Schönpflug, W. (2016). Psychologie – historisch betrachtet. Wiesbaden: Springer.

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