“Psychotherapie als Heilberuf” von Prof. Dr. Wolfgang Schönpflug

Schon die Philosophie hat sich mit menschlicher Erkenntnis und Moral auseinander gesetzt; dabei war die Abweichung von deren Normen ein wichtiges Thema. Zum Beispiel enthielt das Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft des Berliner Philosophieprofessors Friedrich Eduard Beneke aus dem Jahre 1845 ein Kapitel über „Seelenkrankheiten“, eingeteilt in fixe Ideen, Blödsinn, Manie und Melancholie. Später bewegten die Öffentlichkeit Klagen über Erschöpfungs- und Reizzustände, wie sie der in Graz und in Wien lehrende Psychiatrieprofessor Richard von Krafft-Ebing 1885 in Über Nervosität als Krankheit der Moderne beschrieben hatte.

Die Anwendung von Heilmethoden sollte stets der Medizin vorbehalten sein, auch bei psychischen Störungen. Das hat der angesehene Medizinprofessor Johann Christian Reil – von ihm stammt der Begriff „Psychiatrie“ – bereits 1808 begründet. Freilich waren es bis zum beginnenden 20. Jahrhundert einfache Mittel, welche Nervenärzte verordneten: Brompräparate zur Beruhigung, kalte, warme oder heiße Bäder sowie Spaziergänge in frischer Luft und Ähnliches. Wohlhabende Patienten begaben sich in die Obhut von privaten Kuranstalten – etwa in das Privatsanatorium Maria Grün des oben genannten Hofrats Krafft-Ebing. Die Erweiterung der ärztlichen Kunst befürwortete der Psychiatrieprofessor Arthur Kronfeld. Wenn psychische Beschwerden auf Fehlentwicklungen der Persönlichkeit beruhen (und das täten viele), dann könnten Patienten sie durch Fortentwicklung überwinden. Der Arzt könne ihnen dabei als „Seelenführer“ dienen, als Psychagoge. „Es hilft nichts“ – so Kronfeld 1924 in seiner Psychotherapie (S. 240) – „in solchen Fällen muß der Arzt mit seinem Besucher ‚philosophieren’.” Kronfeld warb für eine Psychagogik, die sich auf Tiefenpsychologie, Charakterologie und Ethik stützt. Diese Gebiete setzten nun nicht das Studium der Medizin voraus. Auch Nicht-Mediziner wie Pädagogen und Seelsorger konnten sich darin kundig machen.

Es waren zuerst Vertreter der Psychoanalyse, welche eine psychotherapeutische Ausbildung auch für Nicht-Mediziner öffneten. Zentraler Bestandteil ihrer Ausbildung war eine Lehranalyse, d.h. eine Selbstanalyse unter Anleitung eines ausgewiesenen Psychoanalytikers. In Berlin nahm 1920 die erste Psychoanalytische Poliklinik ihre Tätigkeit auf; ähnliche Institute in aller Welt folgten. Dies begünstigte international die Auffassung, nicht-ärztliche Psychotherapie sei keine andere als die psychoanalytische. Doch zu den psychoanalytischen Konzeptionen gesellten sich pädagogisch-psychologische. Der Begriff der Psychagogik war recht breit umrissen, als diese 1941 als Fach in die Diplomprüfungsordnung für Psychologen (s. Kapitel 3) aufgenommen wurde. Damit wurden Beratung und Behandlung Teil des Berufsbildes der Psychologie.

In den USA hat die Psychologische Psychotherapie eine eigene Entwicklung genommen, und zwar unter dem Namen „Klinische Psychologie“. Der Name geht zurück in das Jahr 1896. Damals hat der Psychologieprofessor Lightner Witmer aus Philadelphia – auch er ein Student Wundts (s. Kapitel 1), seine Idee einer „Psychologischen Klinik“ vorgestellt, einer Ambulanz für psychologische Beratung und Therapie, die gleichzeitig als Ausbildungszentrum dient. Bis zu den 1930er Jahren war aus der Idee Witmers in den USA eine „klinische Bewegung“ erwachsen. Mehrere Universitäten unterhielten Beratungs- und Behandlungsstellen vor allem für auffällige Jugendliche. Die „klinische Bewegung“ brachte – neben den allgegenwärtigen tiefenpsychologischen – vor allem zwei Gruppen von Behandlungsansätzen hervor: Verhaltenstherapie und Kognitive Therapie. Verhaltenstherapien suchten angepasstes Verhalten anzutrainieren (z.B. Modifikation von Essverhalten durch Übung und Belohnung) sowie gegenüber Angst- und anderen Belastungssituationen zu desensibilisieren (z.B. durch Entspannungsübungen vor öffentlichem Sprechen). Kognitive Therapien (auch: Gesprächspsychotherapien) waren bemüht, Klienten Einsicht in ihre Probleme zu verschaffen und ihnen dadurch zur Bewältigung ihrer Krisen zu verhelfen.

Seit den 1950er Jahren werden – vor allem in den USA – Verfahren der Psychotherapie planmäßig an psychologischen Universitäts- und Weiterbildungsinstituten gelehrt und – zunehmend in Privatpraxen – von Fachpsychologen angewandt. Das expandierende Gebiet produziert stets neue Varianten und Kombinationen von Therapiekonzepten und Behandlungsformen (z.B. Gestalttherapie, Humanistische Psychologie, Schematherapie, körperzentrierte Therapie). In Europa ist es in den 1970er Jahren eine neue Generation von Psychologen, die – meist amerikanischen Vorbildern folgend und nunmehr auch dort unter dem Namen „Klinische Psychologie“ – Psychotherapie mit dem ganzen Spektrum ihrer Konzepte und Formen zu einem dominierenden Zweig der Praktischen Psychologie macht. So wird in Deutschland Klinische Psychologie bis zum Ende des Jahrhunderts zur personell stärksten Fachgruppe der Psychologie – mit etwa 50% aller Beschäftigten.

Auf dem Markt für Gesundheitsdienste angekommen, geriet die Klinische Psychologie in einen doppelten Konflikt – in einen inneren Konflikt zwischen den unterschiedlichen Therapierichtungen, in einen äußeren Konflikt mit Konkurrenten aus benachbarten Berufen (und oft von bedenklicher Herkunft). Vertreter von Verhaltenstherapie, Kognitiver und Tiefenpsychologischer Therapie nahmen je für sich eine Vorrangstellung in Anspruch, wenn sie nicht gar den jeweils anderen Richtungen überhaupt ihre Wirksamkeit absprachen. Den Streit um die meisten Heilerfolge und die höchste Ökonomie wollten Projekte zur wissenschaftlichen Evaluation entscheiden. Groß angelegte Vergleichsstudien (z.B. Grawe, Donati & Bernauer: Psychotherapie im Wandel, 1994) stellten bei Verhaltenstherapien mehr Behandlungserfolge bei kürzerer Behandlungszeit fest, doch Vertreter anderer Richtungen sahen Gründe, dieses Ergebnis in Frage zu stellen. Die Klienten blieben von den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen unbeeindruckt; alle Richtungen erfreuten sich reger Nachfrage. Ob nicht überhaupt die Frage nach der Effizienz von Psychotherapie zu kurz greift? Erwarten alle Klienten wirklich immer nur gründliche Heilung in kürzester Zeit? Ist es nicht schon die mitfühlende Begleitung ihrer Therapeuten, die sie suchen? Angesichts der Unergiebigkeit der Effizienzdiskussion und einer befriedigenden Auftragslage sind die Auseinandersetzungen zwischen Vertretern konkurrierender Therapierichtungen zurückgetreten. Umso stärker war ihre Geschlossenheit in Verbänden, deren Ziel es war, der psychologischen Psychotherapie den Schutz und die Förderung als Heilberuf zu verschaffen.

Die Anerkennung der psychologischen Psychotherapie als Heilberuf bedurfte jahrelanger Bemühungen der nationalen Psychologenverbände. In Deutschland und Österreich wurde dazu in den 1990er Jahren jeweils ein eigenes Psychotherapeutengesetz verabschiedet. […] Als selbständiger Heilberuf ist Psychologische Psychotherapie zweifellos eine Errungenschaft der Moderne. Ist auch ihre Konzeption das Produkt einer umwälzenden Modernisierung? Ihr außergewöhnlicher Aufstieg in kurzer Zeit und ihre breite Akzeptanz in der Bevölkerung sprechen eher für einen langen Vorlauf […] . Die Prinzipien und Verfahren der Psychotherapie entstammen wohl der Praxis der Erziehung und der Rhetorik der Sinnfindung und Tröstung. Verhaltensmodifikation wurde schließlich lang genug in Schulen, beim Militär und anderen Einrichtungen betrieben; den Einsatz von Belohnungen zur Anpassung von Verhalten hat bereits der Utilitarismus (s. Kapitel 6) eingehend begründet. Bis zur antiken Philosophenschule der Stoa kann man die Argumentationen zurückverfolgen, mit denen z.B. Aaron T. Beck in seiner Kognitiven Therapie (Cognitive Therapy and the Emotional Disorders, 1975) Klienten mit chronischen Verstimmungen eine realistische Einschätzung und eine rationale Beurteilung der eigenen Lage zu vermitteln sucht. […]

Anmerkung: Diese Leseprobe wurde im Zusammenhang mit einem Interview veröffentlicht, das ich mit Prof. Dr. Schönpflug geführt habe. Sie finden es hier: Ist die Psychologie noch zu retten?

Quelle:

  • Wolfgang Schönpflug (2016). Psychologie – historisch betrachtet. Eine Einführung (S. 37-39). Springer Fachmedien: essentials.
  • Hier finden Sie das Buch auf der Seite des Verlags: https://www.springer.com/de/book/9783658114718

Hier finden Sie Psyche und Arbeit bei Facebook.