Wer bin ich?

Manfred Evertz

Manfred Evertz

Die Suche nach der eigenen Identität ist für viele Menschen ein zentrales Thema – nicht nur in der Pubertät. Doch lässt sie sich überhaupt definieren? Ist nicht jeder Versuch, sich selbst bzw. den Kern der eigenen Persönlichkeit zu beschreiben bzw. zu benennen, nur ein temporäres Konstrukt, das sich aus der momentanen Selbstwahrnehmung ableitet? Verändern wir uns ständig oder gibt es Konstanten in unserem Wesenskern? Lassen sich Individuen tatsächlich in „Persönlichkeitstypen“ kategorisieren, oder basieren derlei Vorstellungen lediglich auf Simplifizierungen? Ist nicht jede (Selbst-)Definition abhängig von der Perspektive, aus der heraus sie konstruiert wird?

Der Persönlichkeitspsychologie hat es noch nie an theoretischen Konstrukten gemangelt: Begriffe wie Motive, Eigenschaften, Werte, Wünsche, Einstellungen, Ziele, Überzeugungen, Schemata und Bedürfnisse sind Beispiele der konzeptionellen Einheiten, die in dem Vorhaben, die menschliche Persönlichkeit zu verstehen, untersucht wurden. In der Persönlichkeitspsychologie, in der es nach Schneewind (1996) um die Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Veränderung des individuellen Erlebens und Verhaltens geht, herrschte lange Zeit der “Trait”-Ansatz vor, der mit der Entwicklung der sogenannten “Big Five” nochmals Aufwind bekam. Kritik wurde dieser Herangehensweise deswegen entgegengebracht, weil sich Eigenschaften relativ schlecht dazu eigneten, Verhalten vorherzusagen. Asendorpf (1996) weist in diesem Zusammenhang auf Phänomene wie die transsituative Inkonsistenz von Verhalten oder die mangelnde Reaktionskohärenz hin. Ein weiterer Mangel bestehe in der dürftigen Korrelation der Trait-Indikatoren untereinander. Eigenschaften sind also lediglich beschreibende Einheiten, die auf wiederholtem und gewohnheitsmäßigem Handeln beruhen, während Motive gerichtetes Verhalten erklären sollen.

In dem Buch „Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven“ von Prof. Hilarion G. Petzold wurde ich auf das folgende Zitat (S. 79 f.) aufmerksam:

Manfred Evertz

Manfred Evertz

Die Frage nach der Identität hat eine universelle und eine kulturell-spezifische Dimensionierung. Es geht bei der Identität eigentlich immer um die Herstellung einer Passung zwischen dem subjektiven „Innen“ und dem gesellschaftlichen „Außen“, also zur Produktion einer individuellen sozialen Verortung. […] Die universelle Notwendigkeit zur individuellen Identitätskonstruktion verweist auf das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Es soll dem anthropologisch als „Mängelwesen“ bestimmbaren Subjekt eine Selbstverortung ermöglichen, liefert eine individuelle Selbstbestimmung, soll den individuellen Bedürfnissen sozial akzeptablere Formen der Befriedigung eröffnen. Identität bildet ein selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren und äußeren Welt. Genau in dieser Funktion wird der Doppelcharakter von Identität sichtbar. Sie soll einerseits das unverwechselbare Individuelle, aber auch das soziale Akzeptable darstellbar machen. Insofern stellt sie immer eine Kompromissbildung zwischen „Eigensinn“ und Anpassung dar, insofern ist der Identitätsdiskurs immer auch mit Bedeutungsvarianten von Autonomiebestrebungen (z. B. Nunner-Winkler 1983) und Unterwerfung (so Adorno oder Foucault) assoziiert, aber erst in der dialektischen Verknüpfung von Autonomie bzw. Unterwerfung mit den jeweils verfügbaren Kontexten sozialer Anerkennung entsteht ein konzeptuell ausreichender Rahmen.

Manfred Evertz

Manfred Evertz

Das Spannungsfeld zwischen Autonomie und Unterwerfung (mir gefällt in diesem Zusammenhang der Begriff „Anpassung“ besser) lässt sich auf verschiedene Bedürfnisse zurückführen, die nicht selten in Konkurrenz zueinander stehen: Ich-Bedürfnisse versus sozialer Bedürfnisse (bspw. nach Zugehörigkeit). Sich die Frage zu stellen, wer oder wie man denn nun sei, mag zwar in bestimmten Kontexten sinnvoll sein, grundsätzlich lässt sich aber wohl kaum eine endgültige Antwort darauf finden. Die Ergebnisse von Persönlichkeitstests könnte man demzufolge also als „vorläufige Bestandsaufnahmen“ betrachten, die sich im Laufe der Jahre (mehr oder weniger) verändern können. Sie bieten lediglich Heuristiken an, die uns dabei helfen, uns Menschen irgendwie voneinander zu unterscheiden. Persönlich bevorzuge ich es deshalb, mich an dem humanistischen Ideal zu orientieren: „Sei Du selbst und werde, der Du bist.“ Übersetzen könnte man dies mit: „Achte auf Deine Bedürfnisse (ansonsten wirst Du Dir selbst fremd) und entwickle Dein Potenzial (also das, was bereits in Dir steckt).“ Gelingen kann das allerdings am ehesten dann, wenn man dabei nicht nur sich selbst, sondern auch sein soziales Umfeld im Blick hat.

Individualität bzw. Identität muss man sich nicht erarbeiten oder „antrainieren“. Sie ist uns bereits von Natur aus mitgegeben. Vergleichen wir uns mit anderen oder versuchen, uns mittels eines Tests besser zu erkennen, kann das zwar zu neuen Einsichten führen, niemals aber zu einem vollständigen Bild unserer Persönlichkeit. Manchmal ist es deshalb vielleicht besser, sich (wenigstens ein Stück weit) davon zu befreien. Man könnte also auch sagen: Wir sind, wer wir sind. Machen wir doch einfach das Beste daraus.

Was denken Sie darüber?

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Literaturhinweise:

  • Asendorpf, J. B. (1996). Psychologie der Persönlichkeit. Berlin: Springer.
  • Petzold, Hilarion G. Petzold (Hrsg.) (2012). Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven. VS Verlag für Sozialwissenschaften – Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH.
  • Schneewind, K. A. (1996). Persönlichkeitstheorien. Darmstadt: Primus Verlag.

Eine neue Persönlichkeitstheorie – Interview mit Prof. Dr. Julius Kuhl

Wie “funktioniert” der Mensch? Begriffe wie Motive, Eigenschaften, Werte, Wünsche, Einstellungen, Ziele, Überzeugungen, Schemata und Bedürfnisse sind Beispiele jener konzeptionellen Einheiten, die in dem Vorhaben, die menschliche Persönlichkeit zu verstehen, vielfach untersucht wurden. In diesem Interview spreche ich mit Prof. Dr. Julius Kuhl über seine Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (PSI-Theorie), die ich zu den stimmigsten ihrer Art zähle.

Prof. Dr. Julius Kuhl

Prof. Dr. Julius Kuhl, Foto: Dr. Brigitte Ruploh

Kurzvita

Professor Dr. Julius Kuhl (geb. 27.07.1947) vertrat von 1986 bis 2015 den Lehrstuhl für Differentielle Psychologie und Persönlichkeits­forschung an der Universität Osnabrück und war 2008-2016 Leiter der psychologischen Abteilung der Forschungsstelle Begabungsförderung im Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe). Stationen seiner wissenschaftlichen Karriere waren wissenschaftlicher Assistent von Heinz Heckhausen in Bochum (1978-1982), Leiter eines entwicklungspsychologischen Teams am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München (1982-1986) und Forschungsaufenthalte in den USA (1976-78 Michigan, 1984-85 Stanford) und Mexiko (1984, 1986). Seine Forschungsschwerpunkte lagen im Bereich der Selbststeuerung und Affektregulation. Diese Forschung bildete die Grundlage für eine neue Persönlichkeitstheorie, die Fortschritte der Motivations-, Entwicklungs-, Kognitions- und Neuropsychologie integriert (PSI-Theorie). Aufbauend auf dieser Arbeit wurde in den letzten Jahren eine neue Methodik zur Diagnostik persönlicher Kompetenzen entwickelt, die bei Kindern und Erwachsenen eine umfassende Analyse vorhandener und entwicklungsfähiger Potenziale ermittelt (EOS: Entwicklungsorientierte Systemdiagnostik). Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie hat Prof. Kuhl 2012 den Preis für das wissenschaftliche Lebenswerk verliehen.

Eine sehr schöne Erläuterung der PSI-Theorie finden Sie hier: Eine neue Persönlichkeitstheorie. Bei diesem Text handelt es sich um eine erweiterte Version des 4. Kapitels aus dem Buch „Spirituelle Intelligenz: Glaube zwischen Ich und Selbst“ von Julius Kuhl, das im Herder-Verlag erschienen ist.

1. Obwohl sich Ihre Ausführungen auf wunderbare Weise mit meinem Extensionsgedächtnis abgleichen ließen, ohne auch nur den geringsten Widerspruch hervorzurufen, scheint eines meiner anderen Systeme enorme Schwierigkeiten mit den Begrifflichkeiten zu haben, die Sie verwenden. Lange Zeit erschien mir Ihr Modell jedenfalls irgendwie zu „technisch“. Was sagen Sie zu einem derartigen Vorbehalt? Könnte man Ihr Modell auch mit einer anderen Terminologie versehen?

Dieses Argument habe ich so noch nicht gehört. Im Gegenteil: wir hören immer wieder von Beratern, Coaches und Therapeuten, dass sie die Systeme sehr gut erklären können und Klienten ein rasches Verständnis für die vier Systeme entwickeln. Es versteht sich natürlich von selbst, dass Anwender der PSI-Theorie solche Erklärungen dem Begriffshorizont und der Sprache ihrer Zielgruppe anpassen (hier liegt ja gerade die Expertise der Anwender, die sie befähigt, sich auf ihre jeweilige Zielgruppe und die ganz konkrete Person besser einlassen zu können als das ein allgemeiner Text vermag). So werden die vier Systeme z.B. als „Hirnakrobaten“ bezeichnet (z.B. bei Schülern unter 12) und das Extensionsgedächtnis als der „Innere Ratgeber“, das Intentionsgedächtnis als der „Planer“, die Intuitive Verhaltenssteuerung als „Macher“ und die fehlersensible Objekterkennung als „Fehler-Zoom“ oder „Controller“ (letzteres z.B. bei Führungskräften). Entscheidend ist aber nicht so sehr die Bezeichnung, sondern die Beschreibung der sehr unterschiedlichen Funktionsweise der vier Systeme. Die meisten Leute können auch Fremdwörter umso besser vertragen, je genauer man ihnen erklärt, was damit gemeint ist.

Klienten, Coachees und Patienten betonen immer wieder, dass der Blick auf die Funktionsweise der persönlichkeitsrelevanten Systeme von expliziten oder impliziten Verantwortungs- oder gar Schuldzuschreibungen befreit. Die bislang üblichen Theorien und Begrifflichkeiten haben allzu leicht einen Appellcharakter, der mehr Kontrollierbarkeit des relevanten Verhaltens suggeriert als wirklich gegeben ist, etwa wenn direkt oder indirekt gut gemeinte Empfehlungen gegeben werden wie: „Sie müssen nur an sich glauben; immer positiv denken“ o.ä. Im Alltag wie auch in weiten Teilen der Psychologie wird das Handeln der Menschen bevorzugt auf psychische subjektiv kontrollierbare Inhalte statt auf die Funktionsweise psychischer Systeme zurückgeführt: Beispiele für solche Inhalte sind Überzeugungen, Erwartungen, Absichten und Ziele. Auf den ersten Blick erscheinen solche Inhalte vielen Menschen durchaus kontrollierbar: Was ich glaube, erwarte, will oder anstrebe, das kann ich verändern. Appelle an Verantwortungsübernahme, an positives Denken und an Kontrollüberzeugungen sind prima, solange es um Probleme geht, die von der betreffenden Person in dem jeweiligen Kontext wirklich kontrollierbar sind. Sobald wir aber verstehen, dass die Wirksamkeit von Überzeugungen, Erwartungen, Absichten und Ziele auch von objektiven Fähigkeiten abhängt, z. B. ob man die nötige Motivation selbst generieren kann, um eine Absicht in die Tat umzusetzen oder ob man an das Gedächtnissystem herankommt, in dem realistische Erwartungen gespeichert sind (z.B. das Extensionsgedächtnis), wird rasch deutlich, dass Appelle und Suggestionen hier nicht immer reichen, weil die relevanten objektive Kompetenzen gelernt werden müssen, bevor die jeweiligen Absichten, Erwartungen etc. wirksam werden können.

Um auch solche Fälle, in denen sonst kontrollierbare Leistungen nicht mehr gut kontrollierbar sind, erklären zu können, ergänzt die PSI-Theorie den traditionellen Fokus auf mentale Inhalte durch eine funktionsanalytische Betrachtung. So kann z.B. nicht jede Form von „Aufschieberitis“ (Prokrastination) damit erklärt werden, dass die Betroffenen zu geringe Selbstwirksamkeitserwartungen oder pessimistische Kontrollüberzeugungen haben oder einfach nicht die passenden Ziele oder Handlungsintentionen entwickeln: Wir wissen alle aus unserem Alltag, dass oft noch so gute Überzeugungen und Intentionen nicht garantieren, dass wir unangenehme Vorsätze auch wirklich in die Tat umsetzen. Einem Schüler oder Mitarbeiter, der sich wirklich vornimmt, am Nachmittag eine unangenehme Arbeit zu erledigen, kann es trotzdem passieren, dass er es vergisst oder einer attraktiven Freizeitbeschäftigung nicht widerstehen kann. Ein Beispiel für eine der möglichen funktionsanalytischen Erklärungen für „Aufschieberitis“, die die PSI-Theorie anbietet, ist die Schwierigkeit, das Intentionsgedächtnis (in dem der Vorsatz gespeichert ist) mit der Intuitiven Verhaltenssteuerung (die die Ausführung steuert) zu verknüpfen. Diese Verknüpfung kann aber besonders gut dadurch hergestellt werden, dass man sich selbst Mut macht oder funktionsanalytisch ausgedrückt: dass man die Dämpfung positiven Affekts (die unangenehme Absichten bewusst oder unbewusst mit sich bringen) gegenreguliert, indem man den positiven Affekt erhöht (eine Selbstkompetenz, die wir mit dem Begriff „Selbstmotivierung“ beschreiben). Psychologische Interventionen, die in der Beratung, im Coaching oder in den verschiedenen Therapieschulen eingesetzt werden, setzen nicht selten einseitig auf die Kontrollierbarkeit der erwünschten Verhaltensänderung: Die Person braucht „nur“ die richtigen Überzeugungen oder Ziele haben, sie braucht nur das adaptivere Verhalten wirklich zu wollen, dann ist die Aufschieberitis überwunden, dann kann erfahrenes Leid bewältigt werden und dann können dauerhafte Konsequenzen aus den eigenen Schwächen und Fehlern gezogen werden. Dieser Fokus auf Kontrollierbarkeit des Verhaltens ist gut gemeint: Er soll die Eigenverantwortlichkeit und die Selbstkompetenzen mobilisieren und tut dies auch oft. Dieser Ansatz stößt aber an seine Grenzen, wenn die Grenzen der Kontrollierbarkeit erreicht sind. Die PSI-Theorie bietet mit ihrem Fokus auf objektive Funktionen und Kompetenzen eine Ergänzung für genau diese Grenzfälle, die im Alltag gar nicht so selten auftreten, weil Menschen ja gerade dann psychologische Beratung oder Therapie suchen, wenn sie mit Dingen, die sie eigentlich können sollten, an die Grenzen ihrer Kontrollmöglichkeiten stoßen.

Übrigens: Psychologischen Laien fällt das Verständnis der PSI-Theorie oft leichter als so manchen Psychologen. Ein Grund scheint mir darin zu liegen, dass sich Psychologen über einige Jahrzehnte daran gewöhnt haben, dass das Handeln mit Einfachmodellen „erklärt” wird, die nicht selten die Erklärungslast auf eine einzige Variable zentrieren (Selbstwirksamkeit, Erfolgserwartung, Zielsetzung o.a.). Das scheint auf den ersten Blick auch gerechtfertigt zu sein, weil man mit jedem dieser Konstrukte Verhalten sehr gut vorhersagen kann. Wer über eine hohe subjektive Selbstwirksamkeit verfügt, ist oft auch effizienter in seinem Handeln als jemand, der seine Selbstwirksamkeit eher niedrig einschätzt. Der Haken bei der Sache ist erst auf den zweiten Blick erkennbar – noch so gute Vorhersagen ersetzen keine Erklärung: Ich kann mit dem Neigungswinkel des Gaspedals die Geschwindigkeit eines Autos sehr gut vorhersagen. Wie wenig das zur Erklärung der Funktionsweise des Fahrzeugs mit allen beteiligten Teilsystemen beiträgt, merke ich spätestens dann, wenn das Auto nicht mehr fährt (dann hilft es überhaupt nicht mehr, den Neigungswinkel des Gaspedals zu verändern). Obwohl Psychologen in ihrer Methodenausbildung sehr früh lernen, dass Korrelationen, die gute Vorhersagen ermöglichen, nichts Verlässliches über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge aussagen, schleicht sich diese Verwechslung von Vorhersage und Erklärung allzu leicht in unser Denken ein, z.B. wenn wir vergessen, dass die hohe Korrelation zwischen der Überzeugung, dass ich gute Leistungen erzielen kann, und den guten Leistungen, die ich dann auch erziele, auch darauf beruhen kann, dass die positiven Selbstwirksamkeitsüberzeugungen gar nicht die Ursache für meine guten Leistungen sein müssen, sondern einfach die Folge meiner guten Leistungen sein können (wer merkt, dass er gute Leistungen erzielt, entwickelt hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugungen). Dann nützt der Appell, man müsse nur an sich glauben oder nur wollen, herzlich wenig, weil der Glaube bzw. das Wollen hier nicht die eigentliche Ursache, sondern womöglich sogar die Folge des Problems ist.

Kurz und gut: Die PSI-Theorie wirbt dafür, sich von den liebgewonnenen Vereinfachungsillusionen zu verabschieden und sich auf ein wenig mehr Komplexität einzulassen. Dazu reicht es zunächst einmal vier Funktionssysteme zu unterscheiden und zu lernen, wie ihre Interaktionen durch zwei motivationale Systeme gesteuert werden (d.h. durch das Belohnungs- und das Bestrafungssystem und die damit verbundenen positiven und negativen Affekte). Allerdings werden wir langfristig nicht umhin kommen, bei einem so komplexen System wie der Persönlichkeit des Menschen die Differenzierung zu erhöhen: Warum soll beim Umgang mit Menschen nicht gelten, was schon bei vergleichsweise einfacheren Systemen wie einem Auto oder einem Stereoverstärker selbstverständlich ist: Die Problembehebung ist umso leichter, je konkreter und spezifischer die Ursache des Problems ermittelt wird, d.h. je differenzierter die Diagnose ist.

2. In Ihrem Text erwähnen Sie 40 Komponenten der Selbststeuerung, von der Sie insbesondere die Bedeutung der „Selbstberuhigung“ betonen. Ein derartiges Modell verführt mich zu der Annahme, dass es möglich sein müsste, die Selbststeuerung zu optimieren, indem man erfasst, inwieweit die einzelnen Fähigkeiten ausgeprägt sind bzw. der eigenen Kontrolle unterliegen, um daraufhin gezielt an ihrer Vervollkommnung zu arbeiten. Würden Sie sagen, dass das möglich sei oder zu wünschen ist? Anders formuliert: Bestrebungen zur Selbstoptimierung scheinen ein Phänomen unserer heutigen Zeit zu sein. Das ist sicher nicht ganz unbedenklich… Deshalb diese Frage.

Was ist eigentlich so bedenklich an dieser Frage? Würde jemand dieselbe Frage stellen, wenn es um Fähigkeiten und Fertigkeiten wie Fremdsprachen, Bruchrechnen oder Autofahren ginge? Ist es problematisch sich in solchen Fähigkeiten zu optimieren, wenn man das möchte? Wiederum scheint mir das der eigentliche Grund, warum Selbstoptimierung „nicht ganz unbedenklich“ erscheint, darin zu liegen, dass der Ruf nach Selbstoptimierung oft mit dem erwähnten Appellcharakter verbunden wird. Wir sind nicht daran gewöhnt, Fähigkeiten, die mit der Persönlichkeit eines Menschen verbunden sind, wie das Umsetzen von Vorsätzen (Willensstärke statt Prokrastination) oder das Lernen aus leidvollen Erfahrungen (Selbstwachstum statt denselben Fehler immer wieder zu machen) funktionsanalytisch zu betrachten. Sobald wir verstehen, welche Systeme an solchen Leistungen beteiligt sind, und wie sie funktionieren, werden wir weniger Probleme damit haben, die betreffenden Fähigkeiten optimieren zu wollen, vorausgesetzt es zeigt uns jemand, wie das geht.

Appelle an die Selbstoptimierung sind aus funktionsanalytischer Sicht deshalb problematisch, weil sie nur solange helfen, wie die betreffende Leistung willentlich prima steuerbar ist. Wenn das nicht mehr der Fall ist, dann sind Appelle kontraproduktiv, z.B. weil sie immer dann zu Enttäuschungen führen, wenn die durch die Appelle veranlassten Anstrengungen keinen Erfolg haben. Das kann dann sogar in lähmende Schuldgefühle münden. Dieses Problem wird besonders deutlich, wenn man an Leistungen denkt, bei denen die meisten Menschen wissen, dass man sie nicht einfach herbeibefehlen kann: Appelle wie „Freu dich doch, das ist doch ein gut gemeintes Geschenk!“ oder „Sei doch mal spontan!“ sind paradox oder sogar unsinnig. Wenn sich der Angesprochene trotzdem bemüht, sich zu freuen oder spontan zu sein, besteht ein hohes Risiko, dass er scheitert. Noch schwieriger wird es bei Fähigkeiten, die die meisten Menschen prinzipiell zu besitzen scheinen (z.B. etwas ausführen, was man sich vorgenommen hat, oder nicht immer wieder denselben Fehler machen). Dann fällt es vielen Menschen, denen das betreffende Verhalten leicht fällt, schwer einzusehen, dass diese Fähigkeiten bei manchen Menschen dauerhaft oder vorübergehend oder auch nur in bestimmten Situationen so beeinträchtigt sein können, dass sie nicht ohne weiteres steuerbar sind.

3. Einem Persönlichkeitstest, der aus der PSI-Theorie abgeleitet wurde, liegt das so genannte STAR-Modell zugrunde. Interessant sind m. E. vor allem die Parallelen zu der Typologie, die auf den Arbeiten von C. G. Jung beruhen. Da ich mich bislang immer vor der Anwendung jeglicher Instrumente gescheut habe, mit denen man Menschen miteinander zu vergleichen versucht, bin ich nun neugierig geworden… In welchen Kontexten bzw. bei welchen Klienten-Anliegen würden Sie denn am ehesten zu einem Einsatz des STAR-Modells raten? Welche Absicht(en) verfolgen Sie bzw. Ihre Klienten vorrangig, wenn Sie diesen Persönlichkeitstest durchführen? Anders gefragt: Wann macht dieser Test Sinn und wann eher nicht?

Hier geht es ja um Persönlichkeitsstile, wie sie auch in der klassischen Tradition der Persönlichkeitspsychologie mit den Großen Fünf Persönlichkeitsfaktoren erfasst werden (die bekanntesten Faktoren sind Extraversion und Emotionale Sensibilität). Problematisch ist eine solche Persönlichkeitsdiagnostik besonders dann, wenn man sich durch die Testergebnisse dazu verleiten lässt, Menschen in Schubladen zu stecken. Heute werden aber Persönlichkeitsstile nicht mehr typologisch interpretiert (wie z. B. bei C. G. Jung), sondern dimensional, d.h. man unterscheidet viele verschiedene Abstufungen (es wird z.B. das Ausmaß der Extraversion gemessen, ohne dass man Menschen in eine der beiden Schubladen für „extravertiert“ oder „introvertiert“ stecken muss. Wir messen mit dem PSSI (Persönlichkeits-Stil-und-Störungs-Inventar) 14 statt 5 verschiedene Persönlichkeitsstile. Damit können wir noch mehr Differenzierung erreichen als mit den „Großen Fünf“ Dimensionen.

Sie fragen, wann es hilfreich ist, Persönlichkeitsstile zu untersuchen. Das ist z.B. der Fall, wenn man sich in das Denken und Fühlen einer Person hineinversetzen will. Man geht mit einer unsicheren Person anders um als mit einer emotional völlig gelassenen Person, mit einem eigenwilligen Menschen anders als mit einer Person, die sich gern an andere anlehnt. Oder – um ein anderes Beispiel zu nennen: man spricht mit einer analytischen Person anders als mit einer mehr intuitiven Person. Die PSI-Theorie macht allerdings auf eine Begrenzung aufmerksam, die für alle Persönlichkeitsmodelle gilt (typologische wie dimensionale): Es wird immer wieder vergessen, dass Menschen nicht zwangsläufig ihrem vorherrschenden Persönlichkeitsstil ausgeliefert sind. Persönlichkeitsstile beschreiben die typische Erstreaktion einer Person: wie stark sie dazu neigt, in neuen Situation ängstlich, extravertiert, analytisch etc. zu reagieren. Menschen unterscheiden sich aber nicht nur in solchen Erstreaktionen, sondern auch darin, ob sie ihre Erstreaktion bei Bedarf regulieren können, z.B. ob ein ängstlicher Mensch seine Ängstlichkeit herunterregulieren kann, wenn er das für angemessen hält. Diese Zweitreaktion hängt also maßgeblich von Selbststeuerungskompetenzen ab, z.B. davon, wie gut man sich motivieren oder beruhigen kann, wann immer man das für angemessen und sinnvoll hält. Die von Ihnen angesprochene Skepsis gegenüber Persönlichkeitstypologien und Persönlichkeitstests hat aus dieser Sicht immer dann eine besondere Berechtigung, wenn die Zweitreaktion einer Person außer Acht gelassen wird. Die Vernachlässigung der Zweitreaktion kann in der Tat zu einem unangemessenen Schubladendenken führen.

Eines der spannendsten Forschungsergebnisse aus der neueren Persönlichkeitsforschung zeigt, dass selbst sehr bedenklich erscheinende Persönlichkeitsstile wie eine extrem hohe soziale Ängstlichkeit oder die Neigung zu abrupten Gefühlsumschwüngen (ein Kernsymptom der sog. Borderline-Störung) eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung nicht immer behindern müssen, sondern sogar fördern können. Das ist immer dann der Fall, wenn die Zweitreaktion (d.h. die Fähigkeit zur Selbstregulation der Erstreaktion) gut entwickelt ist. Dann wird sozusagen aus der Not eine Tugend: Die hohe Ängstlichkeit kann für Lerngelegenheiten sensibilisieren, die umso besser genutzt werden können, je wirksamer eine Person ihre anfängliche Ängstlichkeit wieder herunterregulieren kann, wenn sie das in der konkreten Situation für angemessen hält. Mit der PSI-Theorie haben wir diesen Effekt vorhergesagt: Ängstlichkeit und andere negative Affekte aktivieren das Objekterkennungssystem, das den Blick auf schmerzhafte oder Angst machende Einzelheiten verengt (was ja z.B. zum Erkennen und einem späterem Wiedererkennen einer Gefahrenquelle ganz nützlich ist). Wenn sich der verengte Blick auf eine Gefahr oder eine leidvolle Erfahrung festsetzt, kann das zu lähmendem Grübeln bis hin zur Depression führen. Wenn man diese sensible Erstreaktion aber gegenregulieren kann (z.B. wenn man sich selbst beruhigen kann), dann macht diese Selbstberuhigung aus der Fokussierung auf eine Gefahrenquelle oder auf eine leidvolle Erfahrung eine Lerngelegenheit, weil mit der Herabregulierung des negativen Affekts der Tunnelblick der Objekterkennung zugunsten des weiten Blicks des sogenannten „Extensionsgedächtnisses“ geöffnet wird. Dadurch kann die Person einzelne Erfahrungen, die durch die sensible Erstreaktion besonders intensiv erlebt und dadurch ernst genommen werden können, Schritt für Schritt in ihr umfassendes Erfahrungsnetzwerk integrieren (d.h. in das Extensionsgedächtnis). Sobald das geschehen ist, hat man aus misslichen Erfahrungen wirklich gelernt: Man macht denselben Fehler nicht so schnell noch einmal. Das hängt mit einem sehr nützlichen Funktionsmerkmal des Extensionsgedächtnisses zusammen: Dieses ausgedehnte Erfahrungsnetzwerk überwacht aus dem Hintergrund des Bewusstseins, also auch ohne bewusste Kontrolle, das eigene Handeln und macht die Person rechtzeitig auf Fehlerrisiken aufmerksam. In der Praxis heißt das: Wenn ich einer Person helfen möchte, aus ihren Erfahrungen wirksamere Lehren für die Zukunft zu ziehen, dann brauche ich nicht ihre Persönlichkeit (z.B. den ängstlichen Stil) zu ändern. Es ist viel sinnvoller, an der Zweitreaktion, in diesem Fall also der Fähigkeit zur Selbstberuhigung zu arbeiten, dann wird buchstäblich aus der Not eine Tugend.

Auch dieser Lernprozess wird in der PSI-Theorie einer Funktionsanalyse unterzogen, so dass man ihn genauer beschreiben kann: Wir wissen alle aus dem Alltag, dass Menschen umso besser lernen sich selbst zu beruhigen oder sich selbst zu motivieren, wenn sie öfter in einer traurigen Stimmung Trost oder guten Rat und mitfühlende Beruhigung von außen erfahren bzw. dann wenn sie entmutigt sind, ab und zu gerade so viel Unterstützung bekommen, dass sie wieder selbst weiterkommen. Psychologen gehen davon aus, dass die zunächst von außen angeregte (Fremd-)Regulation der Gefühle einer Person, mehr und mehr nach innen verlagert wird, bis sie die eigenen Gefühle immer öfter selbst regulieren kann. Die PSI-Theorie führt diesen Prozess auf die Entstehung einer neuen Verbindung zwischen zwei psychischen Systemen (oder Systemebenen) zurück, nämlich des Selbstsystems (das sind die persönlich relevanten Teile des Extensionsgedächtnisses) und des Bestrafungssystems, , wenn es um die Bewältigung einer schmerzhaften Erfahrung geht. Das Bestrafungssystem muss aktiviert oder gehemmt werden, wenn die Entstehung bzw. Dämpfung negativer Affekte erreicht werden soll. Schon diese einfache Funktionsanalyse macht auf eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen der erwünschten Verinnerlicherung der erfahrenen Fremdregulation aufmerksam: Wenn jemand lernen soll, negative Affekte „von selbst“ herunter zu regulieren, dann muss das „Selbst“ mit den affektgenerierenden Systemen verknüpft werden.

Wie aber entstehen solche neuen Systemverbindungen? Neue Verbindungen entstehen im Gehirn, wenn die zu verbindenden Prozesse (fast gleichzeitig) aktiviert werden. Die meisten Leute kennen das aus den berühmten Experimenten des russischen Physiologen Iwan Pawlow: Wenn er seinen hungrigen Hunden ein Fleischstück zeigte, reagierten sie automatisch mit einer Speichelsekretion. Wenn er ab und zu kurz vorher oder gleichzeitig mit dem Fleischstück eine Glocke ertönen ließ, trat die Speichelproduktion auch dann auf, wenn nur die Glocke ertönte. Angewandt auf das Erlernen der Verbindung zwischen dem Selbst und den Affektgeneratoren im Gehirn bedeutet das: Das Selbst muss kurz vorher oder gleichzeitig mit der affektiven Erfahrung (im Beispiel also die Beruhigung oder der Trost durch eine Bezugsperson) aktiviert sein, damit die Beruhigung später buchstäblich „von selbst“ (aus dem Selbst) gesteuert werden kann. Bleibt nur noch eine Frage zu klären: Was muss geschehen, damit das Selbst einer Person aktiviert wird? Auch das wissen wir alle aus dem Alltag: Eine Person öffnet „sich“ (d.h. ihr Selbst), wenn sie sich akzeptiert und verstanden fühlt (dann braucht sie dieses persönliche Erfahrungsgedächtnis, um sich der anderen Person gegenüber „öffnen“ zu können).

Jetzt wird die paradoxe Erfahrung verständlich, dass die Wirkung psychologischer Veränderungen oft recht kurzlebig sind: Warum verfliegt die aktivierende Wirkung mancher Motivationsgurus (vom Chaka-Chaka-Typus) nicht selten nach ein paar Tagen wieder? Wenn ein Lehrer, eine Mutter oder ein Therapeut oder eben auch einen Motivationstrainer einen entmutigten Menschen erfolgreich motiviert oder eine traurige Person wirklich zu trösten vermag, dann kann daraus nur dann eine Selbstkompetenz werden, wenn das Selbst des Kindes bzw. Patienten in der Beziehung zu der Bezugsperson geöffnet war, d.h. wenn das Kind oder der Patient sich angenommen und verstanden fühlt, und damit sein Selbst öffnet. Die affektregulierende Erfahrung kann nur ins Selbst integriert werden, wenn das Selbst in der betreffenden Situation geöffnet (aktiviert) ist. An dieser Stelle bietet die PSI-Theorie also eine Erklärung an für die Jahrtausende alte Menschheitserfahrung, dass die Beziehungsqualität für die Förderung der Selbstentwicklung von ganz besonderer Bedeutung ist.

4. Sie haben ein Buch dem Thema „Spirituelle Intelligenz“ gewidmet. Sie möchten das als einen Versuch verstanden wissen zur „Überwindung der Kluft zwischen Religion und naturwissenschaftlich orientierter Psychologie“… Wie ist das gemeint?

Spirituelle IntelligenzVon „Wissen“ sprechen wir, wenn eine Erkenntnis gesichert ist. Die (Natur-) Wissenschaft versucht, die Kräfte der Natur und des Zusammenlebens nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip zu erklären. Die Religion befasst sich mit Erfahrungen, die sich dem Sicherheits- und Kontrollprinzip und dem Ursache-Wirkungsschema zu entziehen scheinen, z.B. wenn es um den tieferen Sinn des Lebens geht. Religion beruht nach einer Formulierung des Philosophen Hermann Lübbe auf einer „Kultur des Umgangs mit dem Unverfügbaren“. Das wird besonders deutlich, wenn wir es mit Erfahrungen zu tun haben, denen wir mit unserem analytischen (einschließlich dem „wissenschaftlichen“) Verstand nicht so leicht einen persönlichen Sinn abgewinnen können: Krankheit, Tod oder überhaupt die menschliche Existenz oder auch „nur“ das, was einen Menschen im Innersten anrührt, ohne dass die dazugehörige Erfahrung in Worten ausgedrückt werden kann (geschweige denn in wissenschaftlichen Begriffen oder Formeln). Wissenschaft und Religion haben sich in den letzten Jahrhunderten immer mehr voneinander weg bewegt. Im Grunde gibt es aber Berührungs- und Überschneidungspunkte, z.B. wenn man in der Wissenschaft über lange Zeit auf Hypothesen, vielleicht auch auf ganz absurd wirkende Intuitionen angewiesen ist, bevor man irgendwann daraus echtes, durch messbare Fakten belegbares Wissen entwickeln kann. Andererseits ist die Religion natürlich nicht ganz vom Wissen abgetrennt. Das zeigt sich besonders in der Psychologie: Ob man aus einer Krankheit oder dem Tod eines Angehörigen einen subjektiven Sinn ableiten kann, ob eine Partnerschaft gut gelingt, sogar die Frage, ob man die Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz erfahren kann, all dies lässt sich z.T. auch auf Prozesse und erlernbare Kompetenzen zurückführen, die in der Psychologie und ihren Nachbarwissenschaften mit naturwissenschaftlichen Mitteln (einschließlich verschiedener hirnbiologischer Methoden) untersucht wird.

“Seele” von Manfred Evertz

Die PSI-Theorie eignet sich besonders dazu, Brücken zwischen Wissenschaft und Religion aufzuzeigen, weil sie subjektive Erfahrungen, die mehr der Sphäre der Sinnerfahrung zuzurechnen sind, mit einer Analyse der am Zustandekommen und der Wirkung solcher Erfahrungen beteiligten Systeme und Funktionen verbindet. So spielt z.B. im christlichen Glauben die existenzielle Bedeutung eines tiefen, unerschütterlichen Vertrauens eine zentrale Rolle, das in der Vorstellung eines gütigen Vater-Gottes zum Ausdruck kommt,. Wie wichtig ein solches „Ur-Vertrauen“ für die gesunde Entwicklung der Persönlichkeit ist, wird in verschiedenen Persönlichkeitstheorien erklärt. In der PSI-Theorie ist das Vertrauen u.a. die Basis für die bereits erwähnte Fähigkeit, aus Fehlern und leidvollen Erfahrungen zu lernen, statt sie verdrängen zu müssen oder gar an ihnen zu verzweifeln. Der Wechsel zwischen dem Anschauen einer leidvollen Erfahrung und der darauf folgenden Integration in ein stetig wachsendes Erfahrungsnetzwerk (d.h. ins Selbst) wird durch das fundamentale Vertrauen in die Geborgenheit der eigenen Existenz erleichtert. Ohne dieses Vertrauen kann man sich den ersten Schritt dieses Wachstumsprozesses (d.h. das Anschauen und Ernstnehmen einer leidvollen Erfahrung oder auch nur eines begangenen Fehlers) oft gar nicht leisten, weil man befürchten muss, in ihr zu versinken statt an ihr zu wachsen. In der entwicklungspsychologischen Bindungsforschung sind die psychischen und neurobiologischen Grundlagen der Entstehung des Ur-Vertrauens und der daraus resultierenden Bindungssicherheit (d.h. Aufgehobenheit in zwischenmenschlichen Beziehungen) gut erforscht. Der religiöse Glaube an ein grundlegendes Aufgehobensein in der Welt, der sich in dem Bild eines gütigen Vater-Gottes ausdrückt, übersteigt das, was der einzelne Mensch aufgrund seiner individuellen Erfahrungen mit den eigenen Bezugspersonen an Vertrauen aufbauen konnte. Das von ihnen erwähnte Buch zur Spirituellen Intelligenz versucht, die Vereinbarkeit vieler christlichen Glaubensinhalte mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Psychologie und der Hirnforschung aufzuzeigen, ganz ähnlich, wie ich es mit diesem Beispiel zum Glauben an einen Vater-Gott erläutert habe,

5. Nicht angesprochen wurde in Ihrem Text („Eine neue Persönlichkeitstheorie“, s.o.) die Therapiebegleitende Osnabrücker Persönlichkeitsdiagnostik (TOP). Was kann man sich als Laie darunter vorstellen? Was ist das Besondere daran? Welche Verbindungen gibt es zur PSI-Theorie? Was ist ihr spezieller Nutzen?

Die Therapie- und Trainingsbegleitende Osnabrücker Persönlichkeitsdiagnostik (TOP), die als Unterstützung von Selbstentwicklungsprozessen (z.B. bei Führungskräften, Lehrern, Schülern, Studierenden) auch als Entwicklungsorientierte Systemdiagnostik (EOS) angeboten wird, beruht auf einer Weiterentwicklung und Ergänzung bestehender persönlichkeitspsychologischer Untersuchungsmethoden mit dem Ziel, einen umfassenden Überblick über persönliche Stile und Selbstkompetenzen auf allen persönlichkeitsrelevanten Systemebenen zu vermitteln. Die klassische Diagnostik der persönlichkeitstypischen Erstreaktionen (vgl. die erwähnten Tests zur Diagnostik der „Großen Fünf“ Persönlichkeitsdimensionen), wird konkretisiert und differenziert, indem die den Persönlichkeitsstrukturen zugrundeliegenden typischen emotionalen Erstreaktionen und die mit ihnen verbundenen kognitiven Stile (s.o.) erfasst werden. Darüber hinaus werden mit der ebenfalls schon erwähnten Diagnostik der Selbststeuerungskompetenzen die für die persönliche Entwicklung so wichtigen Zweitreaktionen („Selbstkompetenzen“) so differenziert erfasst, dass sich für die individuelle Person ganz konkrete Ansatzpunkte für die weitere Entwicklung ihrer Selbstkompetenzen ergeben.

Die an der Selbststeuerung beteiligten Kompetenzen bilden den Kern der „entwicklungsorientierten“ Diagnostik: Sie sind sehr stark erfahrungsabhängig und deshalb durch Beratung, Training oder Therapie leichter veränderbar als die Erstreaktionen. Allerdings wirkt sich die selbstregulierte Veränderung der Erstreaktion typischerweise nur vorübergehend auf den betreffenden Zustand (engl. state) aus, während der dispositionelle Anteil der Erstreaktion sich nicht ändert. Wenn jemand z.B. eine ausgeprägte Disposition (engl. trait) zur Ängstlichkeit hat, dann kann er lernen, in Situationen, in denen er zuerst ängstlich reagiert, seine Ängstlichkeit herunterzuregulieren, z.B. wenn sie ihm bei genauerer Betrachtung nicht gerechtfertigt erscheint. Seine ängstliche Disposition (trait) wird durch diese Regulation des ängstlichen Zustandes (state) nicht verändert. Wie ich bereits erläutert habe, ermöglicht die selbstgesteuerte Veränderung des durch die eigenen Erstreaktionen ausgelösten Zustands, dass sogar extreme und für sich genommen vielleicht sogar nachteilige (oder gar krankhafte) Erstreaktionen zum Motor für die Selbstentwicklung werden können, ohne dass man diese dispositionellen Erstreaktionen selbst überhaupt verändern muss.

Schließlich liefert die Osnabrücker Persönlichkeitsdiagnostik (TOP bzw. EOS) auch eine differenzierte Beurteilung der unbewussten Kräfte, aus denen die persönliche Motivation in verschiedenen Lebensbereichen gespeist wird. Dabei wird nicht nur die Stärke von Basisbedürfnissen wie den Bedürfnissen nach Beziehung und Bindung, nach Leistung und Lernen, nach Macht und Einfluss und nach freier (ungehinderter) Selbstentwicklung gemessen, sondern auch die Art der Umsetzung, z.B. ob das jeweilige Bedürfnis unter Beteiligung des weitgehend unbewussten Selbst mit seinem ausgedehnten Erfahrungsnetzwerk (Extensionsgedächtnis) befriedigt wird oder ob dabei mehr die strenge Kontrolle durch das bewusste Ich und seine Absichten (Intentionsgedächtnis) im Vordergrund steht. Untersucht wird auch, in wieweit die Bedürfnisbefriedigung auf das Aufsuchen positiver oder auf das Vermeiden negativer Gefühle ausgerichtet ist. Wenn wir den Umgang mit diesen Basisbedürfnissen derart differenziert beurteilen können, dann können wir einer Person sehr viel genauer sagen, in welchen Situationen das betreffende Bedürfnis gut zu seinem Recht kommen kann und wann Frustrationen entstehen können. Sehr hilfreich für die Entwicklung der persönlichen Potenziale ist es auch zu wissen, inwieweit die bewussten Ziele zu den unbewussten Bedürfnissen passen. Die motivationspsychologische Forschung hat an vielen Beispielen gezeigt: Wenn z.B. die eigenen Leistungsziele ständig an der unbewussten Bedürfnissen vorbeigehen (z.B. wenn für jemanden eigentlich Beziehung viel wichtiger ist als Leistung), dann können Probleme, Stress oder sogar psychische/physische Krankheitssymptome entstehen.

Es ist ein schöner Erfolg, dass wir durch die jahrelange Optimierung unserer Testverfahren, die Persönlichkeit eines Menschen in dieser enormen Breite gemeinsam mit dem Betreffenden untersuchen können und dazu kaum mehr als 2 Stunden Testzeit benötigen. Das geht besonders deshalb, weil wir bei vielen Selbstkompetenzen Fragen gefunden haben, mit denen die meisten Menschen ihre objektiven Fähigkeiten ganz gut beurteilen können (was wir bei der Validierung dieser Fragen natürlich durch den Vergleich mit objektiven Tests zur Messung der betreffenden Selbstkompetenzen überprüfen müssen). Natürlich stellt ein solches diagnostisches System höhere Anforderungen an die Anwender (z.B. Berater, Coaches, Therapeuten, Pädagogen) als weniger differenzierte Tests. Für die Klienten wird aber die Botschaft paradoxerweise einfacher: Dadurch, dass Experten sich ein umfassendes Bild von den Entwicklungspotenzialen, den Schwächen und Stärken einer Person gebildet haben, können sie sehr klare und konkrete Hinweise geben, an welcher Stelle es sich besonders lohnt, eigene Potenziale weiter zu entwickeln. Wenn das Management eines so komplexen Systems wie der Persönlichkeit durch den Experten geleistet wird, kann der Klient eine für ihn praktikable Vereinfachung erwarten, ohne dass es sich um eine der erwähnten Vereinfachungsillusionen handelt. Durch die umfassende Diagnostik ist die Chance groß, dass eine konkrete Empfehlung gegeben werden kann, die auf einen aussichtsreichen Entwicklungsschwerpunkt hinweist.

6. Da ich mir sicher bin, dass Sie bis zum heutigen Tag bei der Entwicklung der PSI-Theorie sich auch den ein oder anderen Irrtum eingestehen mussten, würde es mich interessieren, welche (wesentlichen) Erkenntnisse Sie im Laufe Ihrer bisherigen Forschungsarbeit zunächst für richtig gehalten, anschließend aber wieder verworfen haben?

In der Tat fußt die Entwicklung der PSI-Theorie auf einer langen Phase der Konfrontation mit Ungereimtheiten, fehlerhaften Annahmen oder groben Verallgemeinerungen. Einige Beispiele kann ich nennen: So haben wir in meiner Forschungsgruppe lange Zeit gedacht, dass unerledigte Absichten im Gedächtnis aufrechterhalten werden, bis die mit ihnen verbundenen Spannungsgefühle verschwinden, sobald sie ausgeführt werden. Der große Motivationspsychologe Kurt Lewin, der vor den Nazis in die USA fliehen musste, nannte unerledigte Absichten „Spannungssysteme“ und eine seiner Doktorandinnen, die Russin Bluma Zeigarnik, konnte in vielen Experimenten zeigen, dass sich Probanden in der Tat an unerledigte Tätigkeiten besser erinnern konnten als an erledigte („Zeigarnik-Effekt“). So plausibel uns das alles erschien, es ergaben sich immer mehr Ungereimtheiten: Ausgerechnet Menschen, die ihre Absichten gut behalten konnten (z.B. Menschen mit hohen Werten in Tests für Ängstlichkeit, Depression oder „lageorientierte“ Zögerlichkeit) hatten Schwierigkeiten mit der Ausführung ihrer Absichten (obwohl sie sich doch besser an Unerledigtes erinnern konnten). Dieses Problem konnten wir erst theoretisch lösen, als wir mit der Neuformulierung der „ersten Modulationsannahme“ der PSI-Theorie davon ausgingen, dass die mit dem Fassen eines Vorsatzes verbundene Anspannung zu einer Dämpfung handlungsbahnender Energie (z.B. des positiven Affekts) führt. Man kann dieses Phänomen schon im Alltag beobachten: Je mehr unerledigte Aufgaben wir vor uns herschieben, umso häufiger passiert es, dass uns die Puste ausgeht. Dann kann man die „Dämpfung positiven Affekts“ mitsamt ihrer handlungslähmenden Wirkung am eigenen Leibe erleben. Die erwähnte Annahme heißt „Modulationsannahme“, weil sie beschreibt, wie diese Handlungshemmung, die durch die Bildung eines Vorsatzes entsteht, überwunden werden kann, nämlich z.B. dadurch dass handlungsbahnender positiver Affekt wiederhergestellt wird, entweder durch Ermutigung von außen oder durch Selbstmotivierung: Der positive Affekt vermittelt („moduliert“) dann die Verbindung zwischen dem Absichtsgedächtnis und der Intuitiven Verhaltenssteuerung, so dass das eigene Handeln unter die Regie der betreffenden Absicht kommen kann statt automatisch irgendeine lustvollere oder tiefsitzende Gewohnheit auszuführen.

Ein zweites Beispiel dafür, dass wir ursprüngliche theoretische Konzeptionen aufgeben mussten, betrifft die Selbststeuerung, also das, was wir im Alltag den Willen nennen. Wir mussten lernen, dass es mindestens zwei sehr unterschiedliche Formen der Selbststeuerung (und damit des Willens) gibt, von denen jede wie bereits erwähnt in weitere Funktionskomponenten aufgegliedert werden kann. Zwei verschiedene Arten von Willen – das war für uns ein ganz ungewohnter Gedanke: Unter Wille versteht man seit mehr als 2000 Jahren die Fähigkeit des Menschen, seine bewussten Absichten gegenüber allen möglichen Versuchungsquellen durchzusetzen, also Fähigkeiten oder Tugenden wie Selbstbeherrschung, Disziplin u.ä. (ich nannte sie zu Beginn meiner wissenschaftlichen Arbeit „Handlungskontrolle“). Diese Form des Willens kostet Anstrengung wie der amerikanische Psychologe Roy Baumeister immer wieder aufgezeigt hat. Es ist die traditionelle Konzeption eines Willens, der durch das bewusste Ich gesteuert wird. Es gibt aber auch eine nicht bewusstseinspflichtige Form des Willens, die durch das nicht bewusste Selbst mit seinem ausgedehnten Überblick über alle für das Entscheiden und Handeln relevante Bedürfnisse, Werte, Kompetenzen und Kontextmerkmale gesteuert wird. Diese Form des Willens ist uns nicht vertraut, weil sie mit dem Bewusstsein nicht vollständig erkennbar ist. Sie kostet wenig Anstrengung oder mobilisiert sogar zusätzliche Energien (das liegt an einem weiteren Funktionsmerkmal des Selbst, nämlich der Tatsache, dass das Selbst eine ausgedehnte Verknüpfung mit dem autonomen Nervensystem, d.h. mit den Gefühlen und Körperwahrnehmungen). Diese Form des Willens, die wir nicht Ich-Kontrolle, sondern Selbstregulation nennen, ist nicht darauf ausgerichtet, attraktive, aber nicht gewollte Handlungsoptionen zu unterdrücken, sondern sie sucht nach emotionaler Unterstützung für das Gewollte bzw. macht sogar eine innere Abstimmung innerhalb des eigenen Erfahrungsnetzwerks, mit dem Ziel herauszufinden, ob ein Vorsatz in eine Form gebracht werden kann, die durch eigene Gefühle unterstützt werden kann. Diese anstrengungsarme Variante des Willens gleicht also eher einer „inneren Demokratie“, während mit dem traditionellen Willensbegriff schon etwas mehr oder weniger Diktatorisches gemeint ist. Natürlich gibt es eine Möglichkeit die Vorteile beider Willensformen zu verbinden, z.B. wenn Ziele und Vorsätze zunächst mit dem Weitblick des Selbst gebildet und bei auftretenden Schwierigkeiten mit der Durchsetzungsstärke des Ich umgesetzt werden.

Es gibt noch viele andere Stellen, an denen wir unsere ursprünglichen Auffassungen revidieren mussten, z.B. als wir merkten, dass wir zwischen objektgebundenen und diffusen Emotionen unterscheiden müssen oder lernten, dass noch so gut entwickelte Selbstkompetenzen nicht immer verfügbar sind (z.B. bei manchen Menschen unter Stress weniger als in entspannten Situationen, während es bei anderen Menschen sogar umgekehrt sein kann). Schließlich konnten wir auch den pauschalen Stressbegriff nicht beibehalten: Belastungsstress, der z.B. entsteht, wenn man viel Unerledigtes vor sich herschiebt, hat z.T. ganz andere Auswirkungen als Bedrohungsstress (z.B. wenn ein Ereignis Unsicherheit oder sogar Angst auslöst). Wir haben mit dem jetzigen Stand der PSI-Theorie zwar eine gewisse Stabilisierung der Theorieentwicklung erreicht. Trotzdem gibt es noch viele Baustellen, von denen allerdings viele zunächst mehr für die Grundlagenforschung als für die Praxis relevant sind. Ein Beispiel ist die Frage, ob positiver Affekt immer die Umsetzung von Absichten bahnt, oder ob diese Bahnung auch von anderen Faktoren abhängt, z.B. von der Art des Bedürfnisses, das gerade handlungsleitend ist. Oder: Was ist an der Umsetzung des eigenen Willens anders, wenn die Umsetzungsenergie nicht durch positiven Affekt, sondern durch die Vermeidung von negativem Affekt zustande kommt (z.B. wenn ein Student seinen Vorsatz zu lernen einen Tag vor der Prüfung nur deshalb ausführt, weil er Angst bekommt durchzufallen). Eine psychologische Theorie ist wie jede naturwissenschaftliche Theorie nie etwas Fixes. Sie soll dabei helfen, Bekanntes zu integrieren und zu erklären und bei der Erforschung unbekannter Phänomene eine Orientierung zu bieten. Fortschritt besteht im Wesentlichen darin, immer wieder auch an die Grenzen einer Theorie zu stoßen, nach neuen Lösungen zu suchen und sie so weiterzuentwickeln bzw. sie zu verwerfen, wenn sie nicht mehr hilfreich ist.

7. Was hat Sie persönlich dazu veranlasst, sich überhaupt mit derlei Fragestellungen zu beschäftigen?

Zur Psychologie hat mich nicht nur ein besonderes Interesse am Menschen gezogen, sondern auch die damals fast schon vermessene Idee, die Komplexität des menschlichen Seelenlebens mit naturwissenschaftlichen Methoden zu erforschen. Vertieft habe ich mich als Student in einen Teilbereich der Persönlichkeitspsychologie, nämlich in die Motivationspsychologie. Dieser Bereich hatte trotz seiner großen Bedeutung für viele Anwendungsfelder der Psychologie schon damals zu Anfang der siebziger Jahre eine schwindende Bedeutung in der psychologischen Grundlagenforschung, weil man meinte, alle wichtigen Fragen der Motivation mit biologischen und kognitiven Prozessen lösen zu können, sodass man keine eigene Motivationspsychologie brauche. Inzwischen haben viele Forschungsergebnisse aus der experimentellen Psychologie und der Hirnforschung gezeigt, dass motivationale Kräfte stark aus dem Unbewussten wirken und mit Erkenntnisprozessen (Kognitionen) allein nicht erklärbar sind. Als ich vor fast 50 Jahren mein Psychologiestudium aufnahm, konnte die Kognitionspsychologie bereits beeindruckende Forschungsergebnisse vorweisen, während die Motivationspsychologie die Art, wie Motive und Ziele verhaltenswirksam werden, nicht annähernd so differenziert und methodisch abgesichert aufzeigen konnte, wie es der Kognitionspsychologie gelang, Erkenntnisprozesse zu erklären (z.B. Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Lernen). Aus meiner Sicht hatte die Kognitionspsychologie die besseren Antworten und die Motivationspsychologie die spannenderen Fragen. Ich habe mich damals für die spannenderen Fragen entschieden.

Ich wusste allerdings nicht wie aufwändig der Weg zur Entwicklung einer Motivationstheorie sein würde, die die relevanten Prozesse und Funktionen wissenschaftlich zufriedenstellend erklärt, und außerdem in der Lage sein würde, die zentralen Erkenntnisse verschiedener Persönlichkeitstheorien zu integrieren. Die enge Verbindung zwischen Motivation und Persönlichkeit wurde dann auch neurobiologisch bestätigt: Von den ältesten Strukturen im Hirnstamm, die überlebenswichtige Prozesse wie Atmung, Wachheit etc. automatisch steuern, verlaufen Bahnen verschiedener Überträgersubstanzen (Neurotransmitter wie Dopamin, Serotonin, Noradrenalin) über die motivations- und emotionsrelevanten Strukturen des limbischen Systems bis hin zu den intelligentesten Regionen der Hirnrinde, die zielorientiertes, sinnvolles und selbstkongruentes Handeln vermitteln. Diese Verbindungsbahnen bilden die biologische Grundlage für die Interaktionen zwischen sieben verschiedenen Systemebenen der Persönlichkeit, die in der PSI-Theorie beschrieben werden.

8. In Zusammenarbeit u. a. mit Maja Storch, die vor allem durch das Zürcher Ressourcen Modell (ZRM®) Berühmtheit erlangte, bieten Sie eine Ausbildung zum CoachPSI® an. Mögen Sie kurz erläutern, was das Besondere daran ist?

Die Ausbildung zum wissenschaftlich geprüften Persönlichkeitscoach CoachPSI® ist eine in sich geschlossene Ausbildung. Ebenso ist die Ausbildung von Maja Storch „ZRM® für Coaching“ in sich geschlossen. Haben TeilnehmerInnen beide Ausbildungsabschlüsse, zertifizieren wir diese gemeinsam mit dem Titel „Persönlichkeitscoach CoachPSI® & ZRM®“.

CoachPSI® ist eine auf neuesten Erkenntnissen der Persönlichkeitspsychologie und Hirnforschung beruhenden Qualifikation für professionelle Coaches. Diese persönlichkeitspsychologische Ausbildung habe ich zusammen mit Doris Gunsch entwickelt, einer sehr erfahrenen Coaching-Ausbilderin, die seit 1998 die PSI-Theorie im Lehrcoaching einsetzt. Sie ist PSI-Expertin, Psychologische Psychotherapeutin und verfügt aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeiten als Management Trainerin und Coach über ein breites Methodenspektrum verbunden mit viel Branchen- und Projektkenntnissen.

CoachPSI® wendet sich an Teilnehmer, die bereits als Coach arbeiten und ihr theoretisches und methodisches Repertoire erweitern und auf den neuesten Stand bringen möchten. Das Neue daran ist, dass PSI-Coaches die jeweilige psychofunktionale Verursachungsebene für ein Problem (aus den 7 Persönlichkeitsebenen) ausmachen können und deshalb genau bestimmen können: wann, welche Methode, bei wem und wozu hilfreich ist. In der Ausbildung wird besonders viel Wert auf die Haltung der Coaches gelegt, ihre Methodenkompetenz, Durchführungskompetenz und Sozialkompetenz. Zum Beispiel wird ihre Gesprächsführung psychologisch professionalisiert. Die Teilnehmer lernen relevante Forschungsergebnisse kennen, die wichtige Fortschritte im theoretischen Verständnis einer Vielfalt von Interventionsmöglichkeiten begründen. Damit wird die Fähigkeit vermittelt, aus dem vorhandenen methodischen Repertoire jeweils diejenigen Bausteine auszuwählen, die zur individuellen Lösung eines konkreten Problems am besten beitragen können. Die wissenschaftliche Professionalisierung des Coachings soll also mehr bieten als einen Werkzeugkoffer mit allen möglichen Trainings- bzw. Therapiebausteinen. Sie befähigt die Teilnehmer, theoretisch über die eigenen Selbstkompetenzen und die des Klienten zu reflektieren. Darüber hinaus ermöglicht unsere wissenschaftliche Professionalisierung des Coaching, die Entwicklungspotenziale der individuellen Persönlichkeit des Klienten auszuschöpfen. Die von Maja Storch und ihren MitarbeiterInnen durchgeführte Qualifikation“ ZRM® für Coaching“ elaboriert insbesondere die Methoden des Zürcher-Ressourcen-Modells (ZRM), die dabei helfen, angestrebte Ziele mit verschiedenen Quellen motivationaler Energie zu verknüpfen (z.B. somatische Marker, Motto-Ziele und Hilfen, die im Alltag, die Umsetzung eigener Vorsätze erleichtern).

9. Welche Literatur empfehlen Sie?

Abgesehen von meinem oben erwähnten Einführungskapitel (Kap. 4 aus: “Spirituelle Intelligenz”, s.o.), das den Kern der PSI-Theorie erläutert („Vorsätze umsetzen und aus Fehlern lernen“) eignen sich für die meisten Leser die allgemeinverständlichen Einführungen, die ich zusammen mit Maja Storch verfasst habe: „Die Kraft aus dem Selbst“ und „Ich blick’s“. Wer bei einzelnen Aspekten der Theorie die wissenschaftlichen Grundlagen genauer verstehen möchte, kann mein „Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie“ konsultieren und wer noch tiefer eindringen möchte, findet eine sehr ausführliche Darstellung jeder der sieben Systemebenen in dem 1200-Seiten starken Buch „Motivation und Persönlichkeit: Interaktionen psychischer Systeme“, in dem ich den Stand der PSI-Theorie und viele neue Anwendungsmöglichkeiten zu einem Zeitpunkt dargestellt habe, als die Ausarbeitung der Kernbereiche der Theorie eine recht stabile Form erreicht hatte.

  • Julius Kuhl (2015). Spirituelle Intelligenz. Glaube zwischen Ich und Selbst. Verlag Herder.
  • Maja Storch & Julius Kuhl (2017). Die Kraft aus dem Selbst: Sieben PsychoGyms für das Unbewusste. Hogrefe.
  • Johannes Storch, Corinne Morgenegg, Maja Storch & Julius Kuhl (2016). Ich blick’s: Verstehe dich und handle gezielt. Hogrefe.
  • Julius Kuhl (2009). Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie: Motivation, Emotion und Selbststeuerung. Hogrefe.

Weitere Informationen finden Sie hier: www.psi-theorie.com und www.impart.de (TOP- bzw. EOS-Diagnostik) sowie doris-gunsch.eu (CoachPSI®-Ausbildung).

Vielen Dank für das Interview!

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