Die Wiederentdeckung der Lebensfreude

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Was bedeutet eigentlich Anhedonie? Ist die Stimmung getrübt, fühlt man sich manchmal antriebslos und wenig motiviert dazu, sich den Zerstreuungen des Alltags freudvoll hinzugeben. Aktivitäten, die normalerweise ein Aufleben positiver Gefühle ermöglichen, erscheinen dann farblos oder sie werden als „Zeitverschwendung“ abgetan. Wie förderlich sich bspw. das unbekümmerte Spielen, die Beschäftigung mit einem Hobby, das Pflegen sozialer Kontakte, Spaziergänge oder Phasen der reinen Erholung auf das Wohlbefinden auswirken, scheint dann keine Rolle mehr zu spielen. Stellt sich daraufhin die Frage, was man denn davon habe, derlei Dinge zu tun, kann es geschehen, dass sich zunächst keine plausible Antwort darauf findet. Vielleicht sind die aktuellen Probleme zu schwerwiegend, die negativen Gefühle zu überwältigend oder die eigenen Gedanken zu sehr damit beschäftigt, sich im Kreis zu drehen, um den kleinen Freuden des Alltags irgendetwas abgewinnen zu können. Nicht selten entsteht deshalb wohl der Eindruck, als wäre jegliche Ablenkung nur eine inadäquate Form der Flucht, die höchstens kurzfristige Linderung verspricht, im Großen und Ganzen aber keinen Sinn macht. Das ist vollkommen normal. Bedenklich wird es allerdings, wenn sich diese Haltung immer mehr verfestigt und dazu führt, dass man sämtlichen Möglichkeiten, positive Erfahrungen zu machen oder etwas Schönes zu erleben, aus dem Weg geht und sich so in einer Welt gefangen hält, in der es kein Glück oder Wohlbefinden zu geben scheint.

Unter Anhedonie versteht man grundsätzlich die Unfähigkeit, Freude und Lust zu empfinden. Zentrale Merkmale sind eine Verminderung positiver Reaktionen in der Anzahl sowie in ihrer Qualität. Der französische Psychologe Théodule Ribot führte den Begriff im 19. Jahrhundert in die Psychologie ein. Jahre später differenzierten Loren J. Chapman und Michael Mishlove erstmals zwischen den beiden Komponenten der physischen (die Unfähigkeit, nicht-soziale Ereignisse lustvoll zu erleben oder körperliche Erfahrungen als angenehm zu verarbeiten) und sozialen Anhedonie (beschreibbar durch verminderte soziale Aktivität und sozialen Rückzug). Letztere soll gerade bei Menschen, die depressiv sind, sehr typisch sein. Zwar ist sie nicht selten auch bei anderen psychiatrischen Störungsbildern zu beobachten (bspw. Schizophrenie, Demenz oder Suchterkrankungen), bei einer Depression gehört sie jedoch zu den drei Hauptsymptomen.

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Wie nähern sich also gängige klinische Tests diesem Phänomen an? Im Beck-Depressions-Inventar (BDI ) sind es vor allem die beiden Skalen „Verlust von Freude“ sowie “Interessenverlust“, mit denen es erfasst wird. Ebenso lassen sich noch „Veränderungen des Appetits“ und „Verlust an sexuellem Interesse“ damit in Verbindung bringen. In der Hamilton rating scale for depression (HAMD) hingegen, die dazu dient, die Schwere einer depressiven Störung zu ermitteln, ist Anhedonie noch nicht einmal durch eigenständige Items repräsentiert. Dabei verursacht sie doch großes Leid und beeinträchtigt die Lebensqualität der Betroffenen somit erheblich. Sie kann Antriebslosigkeit und sozialen Rückzug bedingen oder sich auf beides verstärkend auswirken.

Immerhin gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Verfahren, die das Konstrukt gesondert zu erfassen versuchen: Beispiele hierfür sind die Snaith-Hamilton Pleasure Scale (Franz, M., Lemke, M.R., Meyer, T. et al., 2005), die Physical and Social Anhedonia Scale (Chapman, L.J., Chapman, J.P. & Raulin, M.L., 1976) oder der Tübinger Anhedonie-Fragebogen (Zimmer, 1990). Einige Beispiel-Items findet man bei Burgdörfer & Hautzinger (1987), die der deutschsprachigen Version der Physical and Social Anhedonia Scale entnommen sind.

Physische Anhedonie:

  • Ich habe oft Lust verspürt, eine attraktive Frau/Mann anzuschauen.
  • Auch wenn es nach gutem Essen riecht, weckt dies nicht meinen Appetit.
  • Ich verliebe mich sehr leicht in eine(n) attraktive(n) Frau/Mann.
  • Wenn ich an einer Bäckerei vorbeigehe, macht mich der Geruch von frischem Brot oft hungrig.

Soziale Anhedonie:

  • Ich flirte gerne öfter mal mit einer Frau/einem Mann.
  • Ich lache gerne mit anderen Menschen über Witze.
  • Gewöhnlich versuche ich, neue Leute kennenzulernen, so oft sich Gelegenheit dazu bietet.
  • Wenn ich besonders glücklich bin, habe ich manchmal Lust, jemanden zu umarmen.

Obwohl in der Vergangenheit viel über neurophysiologische Korrelate spekuliert und entsprechende Forschungsarbeit geleistet wurde (vgl. Kleins, 1974, Pflug in Heimann, 1990, Birbaumer, 1996, Keedwell, P.A., Andrew, C., Williams, S.C. et al., 2005, Heller, A.S., Johnstone, T., Shackman, A.J. et al., 2009 u.s.w.), sind ihre neuronalen Grundlagen bei verschiedenen psychiatrischen Störungsbildern bislang nicht vollständig entschlüsselt. Ebenso ungelöst ist derzeit wohl noch die Frage, inwiefern sich Anhedonie möglicherweise auf einer basalen physiologischen Ebene in Form einer gestörten hedonischen Bewertung von Sinnesreizen in den verschiedenen Wahrnehmungskanälen niederschlägt. Vielleicht gibt es inzwischen schon neuere Erkenntnisse, zumindest aber habe ich dieses Fazit verschiedenen Dissertationen (z. B. Marion Clepce, 2010) entnehmen können. Von daher halte ich die Frage für interessanter, wie man hedonistische Verhaltensweisen fördern bzw. entwickeln kann?

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Im therapeutischen Kontext spielt hierbei – neben dem Aufbau stimmungsförderlicher Aktivitäten – das „Genusstraining“ eine bedeutende Rolle. Euthyme Techniken fokussieren auf jene Ressourcen, auf die ein betroffener Mensch noch zugreifen kann. Es geht also vor allem darum, die gesunden Verhaltensanteile zu stärken. Hierbei sollte in einem ersten Schritt überprüft werden, welche Erlebnisbereiche die Betroffenen belastend bzw. entlastend empfinden, um daraufhin die Sinnesmodalitäten sowie das Vorstellungsvermögen zu aktivieren und angenehme Erfahrungen zu ermöglichen. Jene Menschen, bei denen arbeitssüchtiges Verhalten, depressiver Rückzug oder Freizeitstress erkennbar ist, werden hierbei zunächst angeleitet, vermehrt auf Warnsignale zu achten, die sie auf eine akute Belastung aufmerksam machen. Im Folgenden kann sich dann mit der Frage beschäftigt werden, welche Freizeitaktivitäten wohl der Erholung dienen, um diese anschließend zu initiieren. Mit der Planung und Durchführung konkreter (kleinerer oder größerer) Projekte, die zu einer Verbesserung der Lebensqualität beitragen können, lassen sich unterdrückte hedonistische Wesenszüge allmählich wieder stärken.

Was kann man aber tun, wenn das alles keinen Sinn zu machen scheint?

Nun, nicht ohne Grund wird dem Phänomen der sogenannten „Grübelschleifen“ bspw. in der Kognitiven Verhaltenstherapie große Aufmerksamkeit geschenkt. Ein einfacher Fragebogen, mit dem man die eigene Neigung zum Grübeln überprüfen kann, wurde u. a. von Prof. Susan Nolen-Hoeksema (Yale University) entwickelt, der sich mit der Frage einleiten lässt: „Wie reagieren Sie, wenn Sie aus der Fassung, traurig, niedergeschlagen oder nervös sind? Treffen die folgenden Aussagen „nie oder fast nie“, „manchmal“, „oft“ oder „immer oder fast immer“ auf Sie zu?“

  1. Ich denke darüber nach, wie allein ich mich fühle.
  2. Ich denke darüber nach, wie erschöpft oder verletzt ich mich fühle.
  3. Ich denke darüber nach, wie schwer es mir fällt, mich zu konzentrieren.
  4. Ich denke darüber nach, wie passiv und motivationslos ich mich fühle.
  5. Ich denke: „Warum bringe ich nur nichts auf die Reihe?“
  6. Ich denke immer wieder über ein bestimmtes Ereignis nach und wünsche mir, dass es besser gelaufen wäre.
  7. Ich denke über meine Traurigkeit oder Ängstlichkeit nach.
  8. Ich denke an all meine Schwächen und Fehler.
  9. Ich denke daran, dass ich keine Energie habe, irgendetwas anzupacken.
  10. Ich denke: „Warum gelingt es mir nicht, das Leben besser in den Griff zu bekommen?“

Je öfter man mit „oft“ bzw. „immer oder fast immer“ antwortet, desto höher ist das Risiko, dass man deutlich zu viel grübelt. Hilf- bzw. Hoffnungslosigkeit, Erschöpfung und/oder eine getrübte Stimmung können die Konsequenz sein. Die Freude am Leben bzw. am eigenen Tun und Sein lässt sich durch derlei Überlegungen jedenfalls nur schwerlich fördern. Die Antwort auf die Frage, wie es gelingen kann, Menschen davon zu überzeugen, sich selbst etwas gönnen zu dürfen, offenbart sich also womöglich erst, wenn es funktioniert, solche Gedanken (wenigstens zeitweilig) aufzulösen. Oder in aller Kürze: Welchen Nutzen hat es bzw. was bringt es, sich mit diesen Themen zu quälen?

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Selbstverständlich ist kein Mensch perfekt, und niemand hat nur Stärken oder kann ausschließlich auf Erfolge zurückblicken. Auch wenn wir folglich alle „nur“ Menschen sind, sollten wir unser Leben trotzdem leben dürfen! An dieser Stelle fällt mir ein Zitat des Psychotherapeuten Albert Ellis ein: „Das Leben ist auf eine bescheidene Weise sinnvoll, und zwar deshalb, weil dessen Sinnlosigkeit nicht bewiesen ist.“

Anhedonie hat viele Gesichter und verschiedenste Ursachen. Allen gemein ist das traurige Resultat, das Interesse, die Freude und die Lust am Leben zu verlieren. Es lohnt sich m. E. eigentlich nicht, weiter darüber nachzudenken… Für hilfreicher halte ich es hingegen, einfach mal nach vorn zu schauen und ins Handeln zu kommen:

  • Was gehört dazu, was brauchen Sie, um auch im Alltag Dinge genießen oder Angenehmes erleben zu können?
  • Gibt es Aktivitäten, denen Sie zwar gern, aber nur selten oder nie nachgehen?
  • Gibt es Dinge, die Ihnen früher Spaß gemacht haben oder die Sie schon immer einmal tun wollten?

Vielleicht kann es auf diese (oder eine andere) Weise gelingen, dem Leben wieder etwas abzugewinnen, für das es sich nicht nur lohnt, es einfach irgendwie auszuhalten, sondern es auch zu mögen und Freude am Tun und Sein zu entwickeln?

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Quellen & Literaturhinweise:

  • Beck, Aaron T., Brown, Gregory K. & Steer, Robert A. (2013). Beck-Depressions-Inventar-FS (BDI-FS). Manual. Deutsche Bearbeitung von Sören Kliem & Elmar Brähler. Frankfurt am Main: Pearson Assessment.
  • Birbaumer, N., Schmidt, R. S. (1996). Biologische Psychologie. 3. Auflage. Springer, Berlin, S. 635-637 u. S. 724-725.
  • Burgdörfer, G. & Hautzinger, M. (1987). Physische und soziale Anhedonie. Die Evaluation eines Forschungsinstruments zur Messung einer psychopathologischen Basisstörung. European Archives of Psychiatry and Neurological Sciences, 236 (4), S. 223-229.
  • Chapman, L. J., Chapman, J. P., & Raulin, M. L. (1976). Scales for physical and social anhedonia. Journal of Abnormal Psychology, 87, S. 374-407.
  • Franz, M., Lemke, M.R., Meyer, T., Ulferts, J., Puhl, P. & Snaith, R.P. (2005). „Snaith-Hamilton-Pleasure Scale (SHAPS-D)“. Göttingen, Hogrefe.
  • Clepce, Marion (2010). Anhedonie als psychopathologisches Symptom – Eine Untersuchung zur hedonischen Bewertung von Geruchsstoffen bei psychiatrischen Patienten. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Humanbiologie an der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
  • Hautzinger, M., Keller, F. & Kühner, Ch. (2009). BDI-II. Beck-Depressions-Inventar. Revision. 2. Auflage. Pearson Assessment: Frankfurt.
  • Heimann, H. (1990). Anhedonie, Verlust der Lebensfreude. Fischer, Stuttgart, New York.
  • Kaluza, Gert (2004). Stressbewältigung: Trainingsmanual zur psychologischen Gesundheitsförderung (2. Auflage). Springer-Verlag.
  • Keedwell, P. A., Andrew, C., Williams, S. C., et al. (2005). The neural correlates of anhedonia in major depressive disorder. Biological psychiatry, 58, S. 843-853.
  • Heller, A. S., Johnstone, T., Shackman, A. J., et al. (2009). Reduced capacity to sustain positive emotion in major depression reflects diminished maintenance of fronto-striatal brain activation. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 106, 22445-22450.
  • Klein, D. F. (1974). Endogenomorphic depression. Arch. Gen. Psychiat. 31 (1974), S. 447-454.
  • Kloppenhöfer, Eva (2004). Kleine Schule des Genießens: Ein verhaltenstherapeutisch orientierter Behandlungsansatz zum Aufbau positiven Erlebens und Handelns. Pabst Science Publishers.
  • Nolen-Hoeksema, Susan (2006). Warum Frauen zu viel denken – Wege aus der Grübelfalle. Heyne.

Die Unlust am Leben

“Plötzlich kam wie eine verspätete, flüchtige Welle ein Anflug der vorigen Lustigkeit zurück; er schnitt eine Grimasse und sang vor sich hin: O du lieber Augustin, Augustin, Augustin, O du lieber Augustin, alles ist hin. Und kaum hatte er ausgesungen, so tat ihm etwas im Innersten weh und stürmte eine trübe Flut von unklaren Vorstellungen und Erinnerungen, von Scham und Selbstvorwürfen auf ihn ein. Er stöhnte laut und sank schluchzend ins Gras.“ (Zitat aus „Unterm Rad“ von Hermann Hesse)

Manfred Evertz

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation suizidieren sich pro Jahr weltweit ca. 1 Million Menschen. Die Anzahl der intendierten aber scheiternden Selbsttötungen beläuft sich auf das Zehn- bis Zwanzigfache. Wegen der hohen Dunkelziffer sind auch für einzelne Länder keine genauen Angaben möglich. In Deutschland sind die statistisch erfassten Suizide seit ca. 1980 stark rückläufig, entsprechende Fälle allerdings regelmäßig in den Schlagzeilen. So wurde z. B. Adolph Merckle (Gründer der Phoenix Pharmahandel AG) am 5. Januar 2009 von einem Zug erfasst. In einem Abschiedsbrief verkündete er, dass er durch die aufgrund einer Finanzkrise entstandene Unsicherheit und die dabei empfundene Ohnmacht, nicht mehr handeln zu können, gebrochen wurde. Auch der berühmte Torwart der Fußball-Nationalmannschaft Robert Enke beging einen sogenannten Schienensuizid, nachdem er über sechs Jahre lang an einer schweren Depression litt, wegen der er bereits mehrfach in psychotherapeutischer Behandlung war.

Gibt es EIN Erklärungsmodell?

Suizidgedanken sind eine nicht untypische Begleiterscheinung vieler psychischer Erkrankungen und können unter anderem durch intensive Gefühle der Hoffnungslosigkeit bzw. der Verzweiflung, der Schuld oder der Scham ausgelöst werden. Aber auch besondere Krisensituationen, bedingt durch äußere Faktoren, können Menschen zu einer Selbsttötung veranlassen. Obwohl die individuellen Gründe sicher sehr unterschiedlich sind, sei hier nun der Versuch unternommen, sich einem Verständnis des Phänomens unter Heranziehung des bereits in der Psychoanalyse Sigmund Freuds benannten Todestriebs „Thanatos“ anzunähern und dabei einen möglichen Mechanismus aufzuzeigen, der als Ursache für den starken Widerwillen einiger Menschen gegen das Leben in Erwägung gezogen werden kann.

Der Todestrieb der Seele

Elisabeth Naomi Reuter

Thanatos ist als Erklärungsmodell für eine dunkle Facette der menschlichen Seele durch die Psychoanalyse Sigmund Freuds bekannt geworden und wird als dialektischer Gegensatz zum Lebenstrieb (Eros) betrachtet. Namensgeber ist der Totengott der griechischen Mythologie. Er strebt nach einer Zurückführung des Lebens in den anorganischen Zustand des Unbelebten, der Starre bzw. des Todes und kann u. a. in der Gestalt eines Wiederholungszwangs (Zwangsneurose) in Erscheinung treten. Obwohl Sigmund Freud seine Überlegungen selbstkritisch als weitausholende Spekulationen bezeichnete, obliegt ihnen eine gewisse Plausibilität, die sich in dem schrecklichen Schicksal des Menschen ausdrückt, im endlosen Wiederholungskreislauf eines von Schuld und Schmerz gekennzeichneten Umherwandelns gefangen zu sein. Nach dem Verständnis des slowenischen Philosophen und Psychoanalytikers Slavoj Žižek wirkt Thanatos nicht einfach durch den Wunsch nach Erstarrung und Selbstvernichtung. Ihm zufolge sind Menschen nicht einfach nur lebendig, sondern besessen „von dem seltsamen Trieb, das Leben exzessiv zu genießen“. Um die in ihm liegende Todessehnsucht zu betäuben, kann Thanatos vermutlich eine Neigung zu Ausschweifungen hervorrufen, die „den normalen Gang der Dinge zum Scheitern bringt“ und den Menschen vor scheinbar unauflösbare Probleme stellt…

Eingeführt in die psychoanalytische Theorie wurde der Begriff allerdings nicht von Sigmund Freud, sondern von Ernst Federn (1914-2007). Der Sohn eines jüdischen Psychoanalytikers widmete sich Zeit seines Lebens der psychologischen Analyse des Lebens in Konzentrationslagern sowie der psychoanalytischen Pädagogik und Sozialarbeit in Gefängnissen. Er überlebte die Unterbringungen in Dachau (vier Monate) und Buchenwald (sieben Jahre), wo er zum „Psychoanalytiker des Lagers“ wurde, in dem die Menschen jemanden fanden, mit dem sie über ihre Probleme sprechen konnten. Es ist wohl nicht verwunderlich, dass der griechische Gott des Todes in einem solchen Umfeld eine Art Renaissance erlebte…

Gefangen im Leben

Berichten Menschen darüber, dass sie von Suizidgedanken geplagt werden, sollte man das stets sehr ernst nehmen. Bemühungen, diese aufkommenden Absichten zu relativieren („Ich weiß, dass man sich nicht selbst töten darf.“), wirken oftmals hilflos und verzweifelt. Unter einem immensen Leidensdruck stehend, erscheinen der Glaube an einen übergeordneten Sinn und das von vielen Religionen diktierte Verbot, sich das Leben zu nehmen, in manchen Fällen als die einzigen noch zur Verfügung stehenden „Rettungsanker“. Wie lange jedoch reicht ihre Kraft, der Verlockung zu widerstehen, sich aus einem nur noch als leidvoll und hoffnungslos erlebten Dasein zu befreien?

Unter der Perspektive, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen aus verschiedenen bedürfnis- oder triebgeleiteten Anteilen zusammensetzt, kann Thanatos als eine „graue Eminenz“ (vgl. Die grauen Eminenzen der Persönlichkeit) betrachtet werden, die meist im Verborgenen wirkt und von dort aus ihre Fäden zieht. Ausgelöst durch ein sogenanntes activating event (z. B. eine finanzielle oder gesundheitliche Krise) kann er aber plötzlich ins Rampenlicht treten und dazu raten, dem Leben ein Ende zu bereiten. Etliche Argumente, mittels belastender Grübelschleifen in ständiger Wiederholung hervorgebracht, erwecken dann leicht den Anschein, als wäre ein Selbstmord der einzige Ausweg und eine überaus plausible Lösung. Es kommt dann zu dem berühmten „Tunnelblick“. Der dafür verantwortliche Persönlichkeitsanteil, der auch als „der Verweigerer“ bezeichnet werden könnte, entwickelt sich bei einigen Menschen vermutlich aus dem frühkindlichen Gefühl der Unlust und ist gekennzeichnet von einem fundamentalen Widerwillen bzw. dem Wunsch, sich jedem bzw. dem gegebenen Kontext zu entziehen – am liebsten für immer. Dieser scheint in der Regel nicht kompromiss- oder gesprächsbereit zu sein und sich vor sich selbst, vor dem Leben und vor allem, was damit zusammenhängt, zu ekeln.

Lust vs. Unlust = Eros vs. Thanatos?

Man versetze sich einmal in die Lage eines ungeborenen Kindes und stelle sich vor, man befände sich plötzlich an einem fremden Ort und wird sich seiner selbst das erste Mal bewusst. Vielleicht weiß man, dass man irgendwoher kommt, kann sich aber nicht mehr daran erinnern, wie es dort war. Man stelle sich jetzt weiterhin vor, man würde spüren, dass man an diesem fremden Ort unerwünscht ist bzw. als störend empfunden wird, es also besser wäre, es würde einen selbst nicht geben… Für ein Embryo ist Innen und Außen nicht differenzierbar. Alles ist eine Einheit, es ist absolut verbunden mit dem, was es umgibt. Also wird jedes erspürte Gefühl zum Teil des Selbsts. Vielleicht lässt sich die Internalisierung des Todestriebs bzw. die Entstehung des Verweigerers unter anderem auf diese Weise erklären? Dass nicht nur die Erlebnisse nach der Geburt, sondern bereits die Erfahrungen im Mutterleib die Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen können, wurde übrigens inzwischen in diversen Untersuchungen nachgewiesen. Aus einer Studie der Havard University in Cambridge, die im Jahr 2013 veröffentlicht wurde, ging zum Beispiel hervor, dass Mütter, die während ihrer Kindheit misshandelt oder missbraucht wurden, dreimal so häufig autistische Kinder bekommen, wie jene einer Vergleichsgruppe. Erkenntnisse aus dem Bereich der Hirnforschung lassen zudem den Schluss zu, dass bereits die Erfahrungen, die ein Embryo im Mutterleib macht, einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des emotionalen Gedächtnisses und somit auch auf die Selbstwahrnehmung eines Menschen und auf seine grundlegende Haltung zum Leben haben. Ablehnende Gefühle der Mutter ihrem ungeborenen Kind gegenüber könnten demnach eine mögliche Erklärung für die Entstehung eines solch ausgeprägten Todestriebs sein.

Die Inszenierung eines Lebensdramas

Manfred Evertz

Vermittelt die Rückschau auf das Leben eines von Suizidgedanken geplagten Menschen ein Bild, das gekennzeichnet ist von Exzessen (z. B. durch Substanzmissbrauch oder anderen Ausschweifungen) sowie Dramen auf der Beziehungsebene (z. B. zerrüttenden Konflikten in der Herkunftsfamilie und tragisch gescheiterten Liebesbeziehungen), und wurden vielleicht schon vergebliche Versuche unternommen, die dahinterliegenden Muster therapeutisch aufzulösen, kann das Modell des Inneren Teams als Erklärungsmodell Erleichterung bewirken. Ihm folgend, scheint manchmal eine ganze „Abteilung“ (der „innere Geheimdienst“) in der Persönlichkeitsstruktur eines Betroffenen dafür zuständig zu sein, den oben beschriebenen Verweigerer im Alltag in Schach zu halten. Dysfunktional regulierende Persönlichkeitsanteile, die dem Modell nach z. B. als „Feuerlöscher“, „Betäuber“, „Aufschieber“ oder „Theatraliker“ bezeichnet werden können, entwickelten sich, um seinen Einfluss zu verringern und das eigene Leben irgendwie weiterzuführen. Sie scheinen die implizite Genehmigung zu haben, sich über sämtliche Regeln (also auch über die Vernunft) hinwegsetzen zu dürfen. Den Befehlen „Du musst weiterleben und dankbar dafür sein!“ folgend, könnte – sozusagen als Gegenspieler des Verweigerers – „der Pflichterfüller“ aktiv werden, der mit Bestimmtheit die Bewusstheit bewirkt, dass das Leben einen Wert habe, der nicht in Frage gestellt werden dürfe. Seine Instruktion, alles dafür zu tun, das Leben (weiter) zu führen, kann dann als eine Art „Überlebenstrieb“ aufgefasst werden. Um bei sich bemerkbar machendem Aufkommen der lebensverneinenden Unlust intensive Emotionen hervorzurufen, bedient er sich zwar oftmals eines selbstschädigenden Hedonismus, doch tut er dies nur aus der Not heraus. Ihm scheint es dabei nicht um den Genuss zu gehen, sondern um die bloße Ermöglichung des Verharrens in einem als qualvoll empfundenen Sein.

Vielleicht lassen sich die spürbar große Scham und die mit ihren „Verfehlungen“ einhergehende (vermeintliche) „Schuld“ der Betroffenen mit diesem Modell in ein Licht rücken, das es ihnen erleichtert, milder über sich selbst zu urteilen und dem Leben eine Chance zu geben?

Der Verweigerer kann als einer der gefährlichsten Widersacher des Inneren Teams betrachtet werden. Meldet er sich zu Wort und dominiert er das Geschehen, ist höchste Vorsicht geboten. Eine Auseinandersetzung mit ihm sollte unbedingt im therapeutischen Rahmen erfolgen. Hilfreich dabei kann die Vorgehensweise sein, die Tom Diesbrock in seinem Buch „Hermann!“ für den Umgang mit dem inneren Kritiker vorschlägt. Hierbei sollte man sich zunächst einmal (z. B. mittels eines Tagebuchs) bewusst machen, wann bzw. in welchen Situationen sich der Verweigerer wie zu Wort meldet und welche Gefühle er dabei auslöst. In einem zweiten Schritt könnte man ihn mittels einer Zeichnung, eines Fotos oder einer Puppe etc. visualisieren, um sich dieses inneren Anteils bewusster zu werden bzw. um ihn „greifbar“ zu machen. Ebenso wie der Kritiker hat auch der Verweigerer (zumindest bei der hier vorgeschlagenen Betrachtungsweise) seinen Ursprung in der (frühen) Kindheit. Sich darüber klar zu werden und das Kindliche in diesem Bedürfnis bzw. Widerwillen zu erkennen, kann dabei helfen, einen Weg zu finden, mit ihm umzugehen bzw. ihn leichter zu ertragen. Ihn zu unterdrücken, macht wenig Sinn, da diese Versuche – wie oben geschildert – weitreichende Konsequenzen haben können. Der ewige „Nein-Sager“ scheint nichts anderes zu wollen, als jene Verbundenheit zu spüren, die ihm schon damals verwehrt geblieben ist. Auch er möchte doch nur angenommen werden und sich im Leben erwünscht fühlen dürfen. Wird es ihm zu kalt oder zu dunkel und findet sich kein Trost, äußert er seinen Unmut so unbeholfen wie ein hilfloses, trotziges Kind, das sich nach menschlicher Wärme sehnt und nicht versteht, warum sie (schon wieder) nicht zu spüren ist!

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Literatur:

  • Andrea L. Roberts, PhD; Kristen Lyall, ScD; Janet W. Rich-Edwards, ScD; Alberto Ascherio, Dr. PH; Marc G. Weisskopf, PhD, ScD. Association of Maternal Exposure to Childhood Abuse With Elevated Risk for Autism in Offspring. In: JAMA Psychiatry. 2013;70(5):508-515
  • Hermann Hesse (1972). Unterm Rad. Suhrkamp Taschenbuch Verlag.
  • Slavoj Žižek (2006). Parallaxe. Suhrkamp.
  • Sigmund Freud (1920). Jenseits des Lustprinzips. In: Studienausgabe, Band III: Psychologie des Unbewußten. Fischer (1975).
  • Tom Diesbrock (2011). Hermann! Vom klugen Umgang mit dem inneren Kritiker. Patmos Verlag.
  • Tomas Plänkers & Ernst Federn (1994): Vertreibung und Rückkehr. Interviews zur Geschichte Ernst Federns und der Psychoanalyse. Diskord.
  • World Health Organization (1999). Figures and facts about suicide. WHO, Geneva.