Wie sollte man sich verhalten, wenn Klienten am Ende eines Gesprächs in einem emotionalen Ausnahmezustand sind, starke Belastungsreaktionen zeigen oder sogar Suizidgedanken äußern? Da mir diese Frage in Seminaren regelmäßig gestellt wird, möchte ich im Folgenden einmal in aller Kürze versuchen, sie zu beantworten:
„Schmerz und Freude liegt in einer Schale; ihre Mischung ist der Menschen Los.“ Johann Gottfried Seume
Zunächst einmal etwas ganz Grundsätzliches: Im Rahmen einer Therapie oder eines Coachings beschäftigen sich Menschen in einer intensiven Weise mit ihrem eigenen Erleben und Verhalten, wobei es mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Steigerung ihrer Selbstaufmerksamkeit kommt. Die Theorie der objektiven Aufmerksamkeit besagt, dass sich die Aufmerksamkeit eines Individuums auf externe Ereignisse oder auf die eigene Person richten kann. Im Zustand der objektiven Selbstaufmerksamkeit achtet das Individuum auf eigenes Verhalten sowie auf eigene Stimmungen und entsprechende Standards. Die wahrgenommene Diskrepanz führt zu dem Bedürfnis, diese zu reduzieren („Diskrepanzreduktion“). Das kann zu Verhaltensänderungen motivieren oder eine Defensivreaktion (Leugnen etc.) auslösen. Bestehende oder vermeintliche Ist-Soll-Diskrepanzen werden dabei verstärkt erlebt, aktuelle Emotionen intensiviert und die eigenen Normen für das Handeln wirken eventuell stärker. Auch das trägt dazu bei, dass es im Verlauf eines Coachings oder eines therapeutischen Prozesses immer mal wieder zu einer temporären Verschlechterung der Befindlichkeit kommen kann. Hinzu kommt, dass (nicht nur) im Rahmen einer Therapie zwischen sogenannten Verstehens- und Bewältigungspunkten unterschieden wird, wie die Abbildung (siehe unten) aufzeigt. Es ist demzufolge also durchaus möglich, dass sich Klienten am Ende eines Gesprächs in einer akuten Krise befinden.
Abbildung: Prof. Dr. Dirk Zimmer, Universität Tübingen: Gesprächsführung in der Verhaltenstherapie (Vorlesung)
Tipps zur Gesprächsführung
Was kann man also tun, um die Risiken für Klienten möglichst kleinzuhalten, wenn es um besonders problematische bzw. hoch emotionale Themen geht?
- Im Rahmen einer Therapie oder eines Coachings ist es meist unerlässlich, „negative“ Gefühle sowie problembehaftete Facetten des individuellen Erlebens und Verhaltens zu explorieren. Davor sollte man sich keineswegs scheuen. Ein reflexartiges Ausweichen kann – ebenso wie eine unbeholfene Herangehensweise – u. a. dazu führen, dass dysfunktionale Abwehr- bzw. Vermeidungsstrategien der Klienten verstärkt werden, was eine Problemlösung eventuell erschwert oder schlimmstenfalls sogar verhindert. Eigene Ängste, die in einem solchen Zusammenhang spürbar werden, sollten also unbedingt hinterfragt und bearbeitet werden, damit sie den therapeutischen Prozess nicht behindern.
- Fragen zu stellen bedeutet immer, die Aufmerksamkeit eines Gegenübers in eine entsprechende Richtung zu lenken. Auch die Dauer und die Intensität etwaiger Emotionen lassen sich dadurch beeinflussen.
- Da die zur Verfügung stehende Gesprächszeit meist sehr begrenzt ist, sollte man darauf achten, das (vermeintlich) Schlimmste möglichst früh in einer Sitzung zu besprechen. Dann wäre anschließend nämlich noch hinreichend Zeit, die im Falle eines Falles zur Stabilisierung genutzt werden kann. D. h. im Umkehrschluss, dass man in heikle oder hoch emotionale Themen nicht erst gegen Ende einer Sitzung einsteigen sollte. Nutzen Sie dafür ggf. besser den nächsten Termin.
„Säge nicht den Ast ab, auf dem der Klient sitzt, bevor Du ihm geholfen hast, eine Leiter zu bauen!“ Frederick Kanfer
Wie beendet man eine Krisensitzung möglichst behutsam?
Auch wenn man die oben erwähnten Ratschläge gewissenhaft befolgt, kann es geschehen, dass Klienten am Ende eines Gesprächs sichtbar niedergeschlagen, todtraurig und ohne Hoffnung oder extrem aufgewühlt sind. Das Sprechen über problematische Themen kann sehr belastend sein, im schlimmsten Fall sogar eine Retraumatisierung zur Folge haben. Manchmal suchen Klienten das Gespräch, weil sie sich bereits in einer Krise befinden. Was kann man dann tun? Hier sind einige Anregungen, die – wie ich finde – ganz nützlich sind:
- Zunächst einmal sollte man m. E. Mitgefühl haben und es auch zum Ausdruck bringen! Dabei halte ich es allerdings für wichtig, zugleich – in angemessener Weise – Zuversicht auszustrahlen, und nicht im Mitleid zu versinken.
- Sprechen Sie Ihre Anerkennung für das in diesem Gespräch Erreichte aus. Loben Sie Ihre Klienten dafür, heute einen ganz wichtigen Schritt gemacht zu haben!
- Hilfreich können auch sogenante Distanzierungstechniken sein. Ein Beispiel dafür ist die Tresor Technik: „Stellen Sie sich bitte einen Tresor vor, in dem wir all die wichtigen Themen ablegen und sicher aufbewahren, über die wir heute gesprochen haben. Die Inhalte werden wir am kommenden Termin dort herausholen, so dass nichts verloren geht. So brauchen Sie sich bis zu unserem nächsten Gespräch nicht weiter damit zu belasten, sondern können dann wieder gemeinsam mit mir daran arbeiten.“. Fertigen Sie ggf. eine Liste mit den wesentlichen Themen an und holen Sie diese in der folgenden Sitzung wieder hervor.
- Sinnvoll ist es auch, die Aufmerksamkeit der Klienten auf jene Fortschritte zu richten, die die Therapie bereits macht, also auf das schon Erreichte, das Positive des heutigen Ereignisses sowie auf individuelle Ressourcen, die dazu beigetragen haben, dass es bis jetzt irgendwie gelungen ist, mit den Geschehnissen umgzugehen. Das hat den Zweck, die Aufmerksamkeit vom Schmerzvollen wegzulenken („Umfokussierung“).
- Ggf. kann man eine Entspannungstechnik zur Beruhigung einsetzen. Hier finden Sie einige Links zu angeleiteten Entspannungsübungen, die die Techniker Krankenkasse auf ihrer Webseite zum kostenlosen Download im mp3-Format anbietet.
- Erarbeiten Sie gemeinsam mit Ihren Klienten einen Notfall-Plan: „Was werden Sie tun, wenn es Ihnen im Laufe der nächsten Zeit schlechter geht? Wer oder was kann Ihnen dann helfen? Wie kommen Sie über die nächste Woche?“
- Treffen Sie verbindliche Vereinbarungen (vgl. Suizid-Vertrag)! Diese können Sie schriftlich festhalten und Ihren Klienten mitgeben, damit sie im Falle eines Falles nicht in Vergessenheit geraten.
- Lassen Sie Ihre Klienten nicht gehen, solange Sie sich unsicher sind, ob Sie das verantworten können. Sprechen Sie mit ihnen darüber, was sie nach der Sitzung tun werden bzw. zu wem sie gehen. Organisieren Sie ggf. ein Treffen.
- Zum Abschlus eines solchen Gesprächs ist es ratsam, einen weiteren Termin abzustimmen und die getroffenen Vereinbarungen in einer klaren und möglichst einfachen Sprache zu wiederholen. Ich bitte meine Klienten dann nochmals um Zustimmung, um die Verbindlichkeit der Abmachung zu unterstreichen: „Sind Sie damit einverstanden?“
- Bieten Sie ggf. einen Notfall-Termin an, der auch kurzfristig vereinbart werden kann.
„Haben Sie schon mal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen?“
Unter Suizidalität versteht man sämtliche Gedanken und Handlungen, bei denen es darum geht, den eigenen Tod anzustreben bzw. diesen als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf zu nehmen. Dazu gehören suizidale Gedanken, Suizidideen und -absichten, Suizidankündigungen, Suizidversuche und Suizide.
Zum diesem Thema gibt es zahlreiche Informationen im Internet. Kennen Sie zum Beispiel den Unterschied zwischen einem „erweiterten“ und einem „gemeinsamen“ Suizid? Was ist ein „harter“ und was ist ein „weicher“ Suizid? Welche Risikofaktoren und Frühwarnzeichen gibt es? Sollte man Menschen darauf ansprechen und nach Suizidgedanken oder -absichten fragen? Falls ja, wie sollte man das tun?
„Über 100.000 Menschen versuchen sich jedes Jahr in Deutschland das Leben zu nehmen. Was für Anzeichen gibt es und wie geht man mit latenter und akuter Suizidgefahr um?“ In diesem Online-Seminar aus dem Jahr 2012 finden Sie die wesentlichen Informationen, die für die Heilpraktiker-Prüfung benötigt werden.
Ein paar Tipps möchte ich noch ergänzen:
- Sprechen Sie über Suizidgedanken! Wie genau äußern sie sich? Wie häufig treten sie auf? Wie lange schon? Wie stark? Erstmalig? Falls nein, wie haben sie sich zeitlich entwickelt? Werden mir Suizidgedanken anvertraut, versuche ich währenddessen beiläufig herauszufinden, was denjenigen oder diejenige dazu bewogen hat, mir diese anzuvertrauen? GIbt es einen Appell? Wie lautet er? Nach einer genaueren Betrachtung der Gedanken, thematisiere ich das manchmal.
- Jene Verantwortung, die ich für mich selbst übernehme und als Psychologe für meine Klienten habe, bringe ich dann zur Sprache, wenn mir von konkreten Suizidabsichten berichtet wird: „Sie wissen schon, dass ich Sie jetzt nicht einfach so gehen lassen darf. Sie bringen mich in eine schwierige Situation. Als Mitwisser oder Eingeweihter trägt man gewissermaßen auch einen Teil der Verantwortung.“. Damit habe ich bislang jedenfalls gute Erfahrungen gemacht.
- Als ich mit meinem damaligen Therapeuten über das Thema sprach, gab er mir den Tipp, in etwa Folgendes zu sagen, wenn es sich stimmig anfühlt: „Es täte mir wirklich sehr leid und es würde mich traurig machen, wenn ich erfahren müsste, dass Sie sich das Leben genommen hätten.“
- Schließen Sie einen Suizid-Vertrag ab und/oder entwickeln Sie gemeinsam mit Ihren Klienten einen Krisenplan.
- Im Notfall: Sorgen Sie für eine anschließende Betreuung. Die Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik (aufgrund einer akuten Selbstgefährdung) kann allerdings einen irreparablen Vertrauensverlust zur Folge haben! Deshalb sollte man meiner Ansicht nach vorab den Versuch unternehmen, die Situation zu deeskalieren und eine andere Möglichkeit zu finden (z. B. Familie, Freunde etc.).
- Lassen Sie Klienten nicht einfach gehen, wenn ernsthafte (akute) Suizidgedanken geäußert werden. Setzen Sie das Gespräch dann solange fort, bis eine emotionale Beruhigung spürbar wird und ein Notfallplan erstellt ist!
Weiterführende Informationen zum Thema „Suizidalität“
Besonders gefährdet, einen Suizid zu begehen, sind Menschen, die an einer Depression leiden. Ca. 50% der Betroffenen waren daran erkrankt. Weitere Gefährdungsrisiken bestehen bei Alkoholismus und/oder Drogenabhängigkeit (ca. 20%), Schizophrenie (ca. 10%), vergangenen Suizid-Vorkommen in der Familie, früheren Suizidversuchen, in biologischen Krisenzeiten (Pubertät, Schwangerschaft, Wochenbett, Wechseljahre), bei zerrütteten Familienverhältnissen, Identitätsverlust und Migration, Einsamkeit bzw. Isolation, beim Fehlen religiöser Bindungen, nach critical life events, bei Schuld- und Insuffizienzgefühlen,andauernden Schlafstörungen, unheilbaren Krankheiten oder chronischen Schmerzen.
Antidepressiva können Suizidgedanken hervorrufen | Visite | NDR
„Antidepressiva werden verschrieben, um schwer depressive Menschen von negativen Gedanken abzukoppeln. In Ausnahmefällen rufen die Medikamente aber Suizidgedanken hervor.“ In dieser Dokumentation geht es vor allem um die Nebenwirkungen der sogenannten SSRI-Antidepressiva. Eines der Symptome, das als Warnsignal gedeutet werden kann, ist die Akathisie (quälende Unruhe).
(Leider ist das o. g. Video nicht mehr verfügbar.)
Die beiden folgenden Modelle sind nützliche Heuristiken, die dabei helfen können, das Suizidrisiko von Menschen besser einzuschätzen:
Stadien der Suizidalität nach Erwin Ringel (1969)
- 1. Präsuizidales Syndrom
- Einengung (Suizid als letzter Ausweg)
- sozialer Rückzug und Vorbereitung der suizidalen Handlung
- Aggressionsumkehr (Wut, Autoaggression)
- Suizid- und Todesfantasien
- Anhedonie
- depressiver Affekt (Antriebsminderung, Affektverflachung)
- 2. Vorbereitungsstadium
Phasen der Suizidalität nach Walter Pöldinger (1968)
- Erwägungsphase (Suizidgedanken)
- Ambivalenzphase (Merkmale: Andeutungen und Appelle)
- Entschlussphase & Ruhephase (Merkmale: verdächtig aufgeräumt, gelöst)
Wen sollte bzw. muss man im Notfall (d. h. bei akuter Selbstgefährdung von Klienten) kontaktieren?
- Sozialpsychiatrischer Dienst
- 112 (Notruf)
- 110 (Polizei, nur in Bayern, laut Unterbringungsgesetz)
Bei einem Verdacht auf Suizidalität wird empfohlen, ein Gespräch mit einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie zu führen, um sich ggf. abzusichern und das weitere Vorgehen abzustimmen.
Das Leben nach einem Suizidversuch | SRF DOK
Jeden Tag versuchen in der Schweiz rund 50 Menschen, ihr Leben selbst zu beenden – und überleben. Im berührenden «DOK»-Film «Das Ende war der Anfang» erzählen Menschen, wie es dazu kam, dass sie ihrem Leben selbst ein Ende setzen wollten. Und wie sie den Weg zurück ins Leben und in die Gesellschaft wieder gefunden haben. Weil es einen Anfang gibt nach dem Ende.
Im Notfall können sich Betroffene, Angehörige oder Ratsuchende in Deutschand kostenfrei und rund um die Uhr an die TelefonSeelsorge wenden: 0800 / 111 0 111 oder 111 0 222.
Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention hat es sich zur Aufgabe gemacht, die praktische und wissenschaftliche Arbeit zu fördern, um Suizidalität zu verstehen, Konzepte adäquater Hilfen zu erarbeiten und Suizide zu verhindern.
Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Hermann Hesse, das mir persönlich sehr gut gefällt und vielleicht etwas Zuversicht vermittelt: „Wahrlich, keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt.“