Der Mythos der eigenen Minderwertigkeit

Im Grunde genommen ist jeder Mensch gleichermaßen wertvoll. Ist es nicht so? Und obwohl Sie diese Überzeugung mit mir teilen, fühlen Sie sich manchmal so, als würde das für alle gelten, nur nicht für Sie? Dann können Ihnen die folgenden Gedanken vielleicht dabei helfen, den Mythos von der eigenen Unzulänglichkeit aufzulösen.

Das Modell des Inneren Teams von Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun eignet sich ganz hervorragend dafür, bei schwierigen Entscheidungen zu einer klaren Haltung zu gelangen. Hierzu müsse man nur sämtliche Mitglieder bzw. die entsprechenden Persönlichkeitsanteile auf die sogenannte Bühne holen bzw. an einen Tisch setzen, die sich zu einem Thema äußern wollen, einen Dialog initiieren und dann eine Einigung erzielen. Das klingt verlockend einfach! Nicht immer ist es das aber wirklich…

Inneres Team

Manfred Evertz

So scheint es in jedem Inneren Team einige Gestalten zu geben, die sich auf derartige Diskussionen nicht einlassen wollen und scheinbar alles dafür tun, um die eigenen Vorhaben zu boykottieren. Der Autor bezeichnet sie als Widersacher. Der bekannteste unter ihnen ist wohl der innere Kritiker, der an allem, was man tut oder plant, herummäkelt und einen dabei stets mit voller Wucht niedermacht. In dem Buch “Hermann! Vom klugen Umgang mit dem inneren Kritiker” stellt Tom Diesbrock eine wunderbare Methode vor, wie er sich besänftigen lässt.

Der kluge Umgang mit dem inneren Kritiker

Versuche, den inneren Kritiker zum Schweigen zu bringen oder ihn durch positives Denken zu übertönen, kosten viel Kraft und führen nicht immer zu dem gewünschten Ergebnis, zumindest nicht auf Dauer. Tom Diesbrock empfiehlt deshalb, mit dieser Stimme in einen Dialog zu treten, sie an- und ernstzunehmen, sich dabei allerdings ihrer kindlichen Konstitution bewusst zu sein.

Schritt 1: Wie äußert sich Ihr Kritiker?

Zunächst sollte es darum gehen, sich des eigenen Kritikers bewusst zu werden und ein Tagebuch zu führen, in dem jede Bewertung notiert wird, die von ihm ausgeht. Folgende Fragen können dabei helfen, seinen Einfluss zu ergründen:

  • Woran bemerken Sie Ihren inneren Kritiker?
  • Wie genau kommuniziert er mit Ihnen und was sagt er?
  • Welche Gefühle haben Sie dabei?
  • In welchen Situationen meldet er sich zu Wort?
  • Was sind seine Hauptkritikpunkte an Ihnen?
  • Bei welchen Themen wird er besonders kleinlich und entwertend?
  • Gibt es bestimmte Menschen, von denen er glaubt, dass sie Sie besonders kritisch betrachten?

Schritt 2: Visualisieren Sie Ihren Kritiker!

Manfred Evertz

Um sich des inneren Kritikers bewusster zu werden, empfiehlt der Autor, diesem ein Gesicht zu geben und ihn dann für eine Weile so zu platzieren, dass Sie ihn immer wieder vor sich sehen. Fertigen Sie dafür eine Zeichnung an oder wählen Sie ein Foto, ein Stofftier, eine Puppe oder Ähnliches aus, das Ihrem Bild dieser Stimme entspricht.

Immer wenn Sie merken, dass Ihr innerer Kritiker sich zu Wort meldet, sollten Sie sich bewusst machen, dass Sie inzwischen erwachsen sind. Um das zu erreichen, kann es Ihnen helfen, Antworten auf folgende Fragen zu finden:

  • Wann sind Sie selbstbewusst und finden sich in Ordnung, so wie Sie sind – mit allen Ihren „Fehlern“ und Eigenarten?
  • Was denken Sie in diesen Momenten über sich und die Welt?
  • Wie ergeht es Ihnen dabei?

Der Kritiker ist nur ein Teil der eigenen Persönlichkeit, der sich ruhig zu Wort melden darf. Die Führung sollte aber der Erwachsene in Ihnen übernehmen! Wann immer der Kritiker sich äußert, stehen Sie auf, atmen Sie tief durch und machen Sie sich bewusst, dass Sie heute eine andere Perspektive auf die Dinge haben (dürfen), als Sie es als Kind hatten.

Schritt 3: Hinterfragen Sie seine Bewertungen!

Hinterfragen Sie die Aussagen Ihres Kritikers kritisch. Differenzieren Sie seine Verallgemeinerungen und Ungenauigkeiten und finden Sie Argumente, die Sie diesen entgegenhalten können. Zeigen Sie ihm, dass die Wirklichkeit komplexer ist, als er sie sieht und widerlegen Sie seine Aussagen.

Sollten Sie ihn bemerken, ist es ratsam, ihn zu stoppen, bevor er die Oberhand gewinnt. Bauen Sie sich ein gedankliches „Stopp“ ein und sprechen Sie dieses ruhig laut aus, wenn er meint, wieder einmal an Ihnen herummäkeln zu müssen.

Schritt 4: Akzeptieren Sie Ihren Kritiker!

Respektieren Sie sein kindliches Bedürfnis und nehmen Sie es ernst. Bedenken Sie, dass er Angst hat und Sie schützen will. Lassen Sie Ihren Kritiker seiner Aufgabe ruhig nachkommen, aber seien Sie sich dabei immer bewusst, dass Sie jetzt das Sagen haben und Sie die Welt als Erwachsener heute anders sehen dürfen. Schließen Sie Frieden mit ihm.

Selbsterfahrungsbericht: Die unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse

Ich habe diesen Teil meiner Persönlichkeit übrigens „Dr. Mabuse“ getauft. Die Filme habe ich mir während meiner Kindheit stets mit großer Faszination angesehen. Für Dr. Mabuse haben Menschen – so ist zumindest meine Interpretation – nur dann einen Wert, wenn sie perfekt funktionieren und er sie für die Umsetzung seiner Vorhaben benutzen kann. Auch die Angst davor, entdeckt oder entlarvt zu werden, charakterisiert ihn. Lange Zeit mischte er sich also auf perfide Weise in alles ein, was ich tat, und schwächte auf diese Weise mein Selbstwertgefühl.

Scham und Schatten

Manfred Evertz

Immer wieder versuchte ich ihn zu packen und aus meinem Leben zu verbannen. Je mehr ich mich jedoch bemühte, um so stärker wurde er. Obwohl die Mehrzahl der Mitglieder meines Inneren Teams ihn nicht mochten und mit seinen unverschämten Äußerungen keineswegs einverstanden waren, konnten sie wenig gegen ihn ausrichten. Gingen sie gegen ihn an, machte er sie solange nieder, bis sie schließlich den Mut verloren und aufgaben. Schlimmer noch wurde es, als sich immer mehr von ihnen auf seine Seite stellten und sich mit seinen überhöhten Ansprüchen identifizierten. Diese kriminelle Vereinigung hatte es sich scheinbar zur Aufgabe gemacht, mein Selbstwertgefühl vollends zu zerstören! Nichts und niemand konnte das verhindern bzw. sie hinter Schloss und Riegel bringen.

Erst viele Jahre später – mit der Hilfe des Buches von Tom Diesbrock – stellte ich fest, was seine eigentliche Absicht war. Im Grunde genommen wollte er mich nur vor möglichen Angriffen anderer Menschen beschützen, indem er sie unverblümt vorwegnahm. Damit war er ausgesprochen erfolgreich. Als ich das erkannte, war es mir möglich, in sein Herz zu schauen, seinen Schmerz zu sehen und seine Bemühungen anzuerkennen. Tritt er heute auf die Bühne und meckert an mir herum, nehme ich ihn an die Hand und beruhige ihn. Inzwischen weiß ich ja, dass er es gut mit mir meint. Lediglich die vielen seelischen Verletzungen, die er schon sehr lange mit sich herumträgt, ließen ihn so gemein und grausam wirken. Seitdem ich das verstanden habe, betrachte ich ihn als einen Freund, dem ich für seine Dienste sehr dankbar bin. Auf diese Weise ist es zumindest mir gelungen, mich aus den unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse und somit von meinen eigenen Minderwertigkeitskomplexen zu befreien.

Literaturempfehlungen:

  • Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden 3 – Das „Innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation. Sonderausgabe, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011 (Die Originalausgabe erschien erstmals 1981).
  • Tom Diesbrock (2011). Hermann! Vom klugen Umgang mit dem inneren Kritiker. Patmos Verlag.

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Ein Friedensangebot an das innere Kind

Erinnern Sie sich daran, wie Sie die Welt um sich herum als Kind wahrgenommen oder wie Sie sich gefühlt haben? Wissen Sie noch, welche Sehnsüchte und Wünsche Sie hatten, als Sie klein waren?

Die Arbeit mit dem “inneren Kind” ist seit langer Zeit ein fester Bestandteil vieler psychotherapeutischer Verfahren. Das hat einen guten Grund: Wir Menschen entwickeln die Grundzüge unserer Persönlichkeit und die dazugehörigen Reaktionsmuster in Wechselwirkung mit jenen Erfahrungen, die wir mit unseren ersten Bezugspersonen machen. Einige davon sind schmerzvoll und führen dazu, dass wir uns davor schützen wollen, ähnliches Leid erneut erleben zu müssen. Als Kind haben wir dafür allerdings nur wenige Möglichkeiten, zudem können wir viele Dinge einfach noch nicht so richtig verstehen. Und obwohl sich beides im Laufe der Zeit ändert, scheint es manchmal so, als gingen wir noch im Erwachsenenalter intuitiv davon aus, die Welt um uns herum sei so geblieben, wie wir sie einst kennengelernt haben.

Wurden unsere kindlichen Bedürfnisse in der Vergangenheit nicht hinreichend wahrgenommen bzw. hat es uns in manchen Situationen an Verständnis, Trost oder Zuwendung gemangelt, kann das tiefe Narben hinterlassen. Die gute Nachricht ist, dass man das Vermisste wenigstens ansatzweise nachreichen bzw. gezielt etwas dafür tun kann, um die verletzte Kinderseele zu trösten. Im Rahmen der Aufarbeitung meiner eigenen Vergangenheit habe ich seinerzeit mal einen Brief an jenen kleinen Jungen geschrieben, der ich einst war. Mir hat das damals jedenfalls sehr geholfen.

Lieber Rainer,

als ich in Deinem Alter war, konnte ich Dich und die Welt um Dich herum noch nicht so recht begreifen. Bitte sieh es mir also nach, dass ich deshalb viele Dinge missverstanden oder ganz anders gesehen habe, als ich es heute tue. Natürlich war es nicht immer leicht für Dich und manchmal hat es das Leben nicht besonders gut mit Dir gemeint. Wie oft warst Du traurig und fühltest Dich allein und missverstanden? Wie oft hast Du geweint, weil Du nicht sein wolltest, wie Du bist, und hast Dir ein Leben gewünscht, das Du nicht führen durftest?

Sicher, es gab damals Menschen, die in Dir etwas sehen wollten, das Du nicht warst, und die versucht haben, Dich zu jemandem zu machen, der Du nicht werden wolltest. Vieles von dem, was in Dir war, durftest Du nicht zeigen, um dazu gehören zu können. Du glaubtest, dass das, was sie an Dir nicht mögen, es nicht wert ist, gemocht zu werden. Doch Du hast Dich getäuscht. Auch wenn Du es nicht immer spüren konntest, solltest Du wissen, dass ich Dich liebe, selbst dann, wenn Du trotzig, wütend oder traurig bist. Ich werde immer für Dich da sein und mich bemühen, Dich besser zu verstehen, als ich es damals konnte, auch…

  • wenn Du manchmal gegen Windmühlen kämpfst, weil Du in anderen Menschen diejenigen siehst, gegen die Du Dich damals nicht wehren konntest,
  • wenn Du Dich selbst beschränkst, weil Du noch immer glaubst, was andere Dir als Kind erzählt haben,
  • wenn Du Dich dem verweigerst, was gut für Dich ist, weil Du Dich dann stark fühlst,
  • oder wenn Du Dich aufspielst, weil Du fürchtest, dass Dich sonst niemand beachtet.

Noch immer spüre ich Deine Angst und Deinen Zweifel an Dir selbst, an Deinen Fähigkeiten und an der Liebe der anderen Menschen. Aber ich bewundere auch Deinen Mut, durch den Du trotz allem zu dem Leben gefunden hast, das Du heute führst. Du darfst stolz auf Dich sein und Dich mögen, egal was andere über Dich denken!

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