Die Erkundung des unbekannten Selbst

Wie lassen sich Probleme lösen, wenn man nicht weiß, wodurch diese überhaupt entstehen bzw. was sie bedingt? Wer bin ich, was charakterisiert mich und wie möchte ich eigentlich sein? Diese Fragen drängen sich auch dann auf, wenn man gewillt ist, etwas an sich selbst zu verändern, aber nicht genau sagen kann, welche Veränderungen wohl tatsächlich sinnvoll sind.

„Alle denken nur darüber nach, wie man die Menschheit ändern könnte, doch niemand denkt daran, sich selbst zu ändern.“ Leon N. Tolstoi

Um nun herauszufinden, mit welchen unserer Reaktionsmuster wir uns selbst eher im Weg stehen, bieten sich verschiedene Herangehensweisen an.

Wie Sie vielleicht bereits wissen, habe ich selbst mehrere Jahre mit einem Tiefenpsychologen an meinen eigenen Themen gearbeitet. Parallel dazu habe ich verschiedenste Möglichkeiten ausprobiert, die mir dabei helfen sollten, zu einem besseren Verständnis meiner individuellen Lebensthemen zu gelangen und sogenannte „blinde Flecken“ und/oder „Unbekanntes“, wie diese Aspekte in dem Modell von Joseph Luft und Harry Ingham genannt werden, meiner Selbstwahrnehmung zu erhellen.

Jene Explorationsmethoden, die mir persönlich dazu verholfen haben, verborgene Facetten meiner Persönlichkeit aufzudecken, habe ich mit meinem damaligen (Lehr-)Therapeuten besprochen und anschließend bei passender Gelegenheit auch den Teilnehmern/-innen meiner Seminare und Workshops vorgestellt und im Rahmen einer Selbsterfahrung – also mittels diverser Übungen – praktisch erproben lassen. Einige davon, so wurde mir es jedenfalls mitgeteilt, deckten auch bei ihnen Aspekte auf, die sie – mal mehr und mal weniger – überrascht haben. Das wiederum hat mich dazu motiviert, sie auch in der Arbeit mit meinen Klienten/-innen einzusetzen.

Bild: Manfred Evertz

Im Folgenden möchte ich vier dieser Ansätze vorstellen, die in ihrer Gesamtschau einen guten Einblick in jene Facetten unseres Selbst ermöglichen, die uns sonst vielleicht nicht ohne Weiteres zugänglich sind.

1. Personality Toolbox: „Das Leben ist eine Baustelle!“

Mit dem Kartenset „Personality Toolbox“ von Elmar Rauschert und Uwe Schirrmacher (managerSeminare Verlag, 2017) lassen sich verschiedene Themen im Rahmen eines Coachings bearbeiten. Die in dem Begleitheft vorgestellte Übung „House of Life“ wird u. a. wie folgt eingeleitet: „Das Tool bietet sich an, wenn der Klient das Ziel hat, etwas in seinem Leben ändern zu wollen oder gar zu müssen, aber nicht genau weiß, was das konkret ist oder wo er ansetzen soll. […] Es dient […] als Diagnostik-Tool für ein prophylaktisches Screening, wo genau in unserem Leben künftig Handlungsbedarf entsteht.“ Diese Beschreibung passt auch zu einer Explorationsmethode, die ich für die Arbeit mit diesem Kartenset entwickelt habe.

Das Leben ist eine Baustelle: Warum geraten wir in manchen Lebensbereichen immer wieder in Schwierigkeiten, die auf eigentümliche Weise typisch für uns sind, während wir uns in anderen ganz hervorragend zu behaupten wissen? Mit dem Kartenset lassen sich nun individuelle Problembereiche identifizieren, die für die Betroffenen bedeutsam sind, sowie Entwicklungspotenziale und entsprechende Entwicklungsaufgaben ableiten.

→ weiterführende Informationen: Das Leben ist eine Baustelle!

2. Das Modell der Persönlichkeitsstile

Kuhl & Kazén haben ein Selbstbeurteilungsinstrument entwickelt, mit dem die relative Ausprägung von 14 Persönlichkeitsstilen erfasst wird: das PSSI (Persönlichkeits-Stil- und Störungs-Inventar). Um einen ersten Überblick über die 14 Persönlichkeitsstile geben zu können und dabei zur Selbstreflexion anzuregen, habe ich auf Grundlage dieses Tests und der Beschreibungen aus dem Buch „Motivation und Persönlichkeit“ von Julius Kuhl für jeden Persönlichkeitsstil ein Kärtchen vorbereitet, auf dem jeweils sieben Aussagen zu finden sind, die diesen charakterisieren.

Das dimensionale Konzept der Persönlichkeitsstile (auf Grundlage der PSI-Theorie) stellt einen Kompromiss zwischen der psychiatrischen Sichtweise und Erfahrung (kategoriale Erfassung) und der dimensionalen Sichtweise der differentiellen Psychologie dar. Dieses Modell ermöglicht gleichermaßen einen ressourcenorientierten (statt einseitiger Defizitorientierung) sowie einen problemorientierten therapeutischen Zugang, indem jeder Persönlichkeitsstil in seinen Stärken und in seinen Risiken bzw. Schwächen dargestellt wird und die Betroffenen die Erfahrung machen, dass ihr oftmals seltsam und befremdlich wirkendes Verhalten als subjektiv sinnhafte Anpassungs- und Überlebensstrategie in spezifischen Sozialisationskontexten verstanden werden können.

→ weiterführende Informationen: Persönlichkeit mit Stil?

3. Transaktionsanalytische Neuentscheidungstheorie: Einschärfungen

Diese Theorie geht davon aus, „dass Menschen in der Kindheit eine Kombination von Glaubenssätzen und Verhaltensmustern entwickeln, die dazu führt, dass sie immer wieder auf die gleiche Art und Weise agieren“ (Dehner & Dehner, 2013). Eric Berne sprach in diesem Zusammenhang von einem ‘Skript’ (oder auch Drehbuch), also von einem unbewussten Lebensplan, der immer wieder zu ganz bestimmten Ereignissen führt. Dabei können sogenannte „Einschärfungen“ eine zentrale Rolle spielen. Diese haben ihren Ursprung meistens in der Kindheit, d. h. in unüberlegten Aufforderungen der Eltern bzw. der Bezugspersonen in der emotionalen Beziehung zum Kind. Anfänglich werden sie nonverbal bzw. atmosphärisch vermittelt und im Zuge der Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten des Kindes verbal untermauert. Sie können sich im weiteren Verlauf in einer Grundstimmung manifestieren, die daraufhin charakteristisch für das Leben der Betroffenen ist.

Um mit diesem Konzept praktisch arbeiten zu können, habe ich – da es bislang keinen zu geben schien – einen Test entwickelt, in dem neun der zwölf Bannbotschaften, wie diese auch genannt werden, aus dem Konzept von Bob und Mary Goulding heuristisch erfasst.

→ weiterführende Informationen: Einschärfungen und Lebensskript

4. Schema-Fragebogen

In der von Jeffrey Young konzipierten Schematherapie werden verschiedene Schemata beschrieben, die sich in funf Gruppen (Schemadomänen) unterteilen lassen. Jede dieser Schemadomänen wird mit der Nichterfüllung bestimmter Grundbedürfnisse in der Kindheit in Verbindung gebracht. Das Ziel dieser Therapie ist es, maladaptive Schemata („Lebensfallen“) zu ergründen bzw. zu modifizieren, die ursächlich für chronische bzw. langanhaltende emotionale Probleme sind. Vielleicht waren die damit einhergehenden Erlebens- und Verhaltensweisen in der Kindheit und Jugend sinnvolle Reaktionen, die im Sinne einer Bewältigungs- oder Copingstrategie eine Anpassung an schwierige Lebensumstände ermöglichten. Sie können sich im weiteren Verlauf der individuellen Entwicklung jedoch dysfunktional auswirken, wenn sie zu unflexiblen Reaktions- und Verhaltensmustern – d. h. auch unter veränderten Lebensbedingungen gezeigt – werden und einen Leidensdruck erzeugen.

Bei meiner Recherche bin ich vor einigen Jahren auf einen Fragebogen aufmerksam geworden, mit dem die potenziellen Ausprägungen (bzw. die individuellen Betroffenheiten) einiger der Schemata ermittelt werden kann: Anspruchshaltung, hohe Leistungsstandards, Unterwerfung, Selbstaufopferung, Anfälligkeit für Leid und Krankheit, Versagen, Minderwertigkeit, Misstrauen, Trennungsangst und emotionale Entbehrung.

→ weiterführende Informationen: Schematherapie & Lebensfallen

Zusammenführung der Ergebnisse

Ohne entsprechende Hilfsmittel scheint es eine regelrechte Sisyphusarbeit zu sein, die „unbewussten Flecken“ oder das „Unbekannte“ (vgl. Johari-Fenster) bewusst zu machen. Meiner Einschätzung zufolge gibt es viele Techniken, die dabei hilfreich sein können, dem auf die Spur zu kommen. Auch die hier vorgestellten Methoden gehören wohl dazu. Allerdings ergeben die entsprechenden Resultate oder Ergebnisse m. E. oftmals erst in ihrer Gesamtschau einen fundierten Einblick in das, was uns an uns selbst für gewöhnlich verborgen bleibt. Der Prozess der Selbsterkenntnis ist also vergleichbar mit einem Puzzle, bei dem sich viele einzelne Teile allmählich zu einem Ganzen zusammenfügen.

„Wenn Selbsterkenntnis der Weg zur Tugend ist, so ist die Tugend noch mehr der Weg zur Selbsterkenntnis.“ Johann Paul Friedrich Richter

Die hier in aller Kürze erläuterten Methoden eignen sich m. E. ganz hervorragend dazu, eine Idee zu bekommen, welche Veränderungsprozesse initiiert werden sollten, um die eigene Persönlichkeit in eine gewünschte Richtung zu entwickeln, bzw. jene unbewusste Reaktions- und Verhaltensmuster zu erkennen, mit denen wir uns selbst (gelegentlich) im Weg stehen, um sie modifizieren zu können.

Literaturhinweise:

  • Elmar Rauschert, Elmar & Schirrmacher, Uwe (2017). Personality Toolbox. managerSeminare Verlag.
  • Kuhl, Julius & Kazén, Miquel (2009). Persönlichkeits-Stil- und Störungs-Inventar (2. überarbeitete und neu normierte Auflage). Hogrefe Verlag, Göttingen.
  • Kuhl, Julius (2001). Motivation und Persönlichkeit. Hogrefe Verlag, Göttingen.
  • Dehner, Ulrich & Dehner, Renate (2013). Transaktionsanalyse im Coaching. managerSeminare Verlags GmbH, Bonn.
  • Schlegel, Leonhard (2002). Handwörterbuch der Transaktionsanalyse (2. Auflage). Deutschschweizerische Gesellschaft für Transaktionsanalyse.
  • Faßbinder, Eva, Schweiger, Ulrich & Jacob, Gitta (2011). Therapie-Tools Schematherapie. Beltz Verlag.

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