„Passamtsarbeit bei einschränkenden Identitätsüberzeugungen“ von Dr. Bernd Schmid

Viele menschliche Probleme sind in einschränkenden Identitätsüberzeugungen begründet. Sie zu identifizieren und mit antithetischen Identitätszuschreibungen zu entkräften, wird hier als Mittel der Wahl beschrieben. Die Methode der Passamtsarbeit stellt ein dafür hochpotentes Instrument dar.

Ein Großteil menschlicher Probleme entsteht dadurch, dass Menschen zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens einen einschränkenden Glauben darüber angenommen haben, was oder wer sie sind. In einem wesentlichen Mosaikstein ihrer Identität spiegeln sie sich in einem Irrglauben über sich. Sie leben dann diesen Glauben wie einen Fremdkörper und lassen ihn unberührt von den Erfahrungen, die sie machen. Dadurch leben sie bestimmte Seiten ihrer selbst nicht, weil sie sie als nicht zu sich passend erleben. Oder sie leben sie, bringen sie aber nicht in Verbindung mit dem eigenen Selbstbild, der eigenen Identität.

Mosaikspiegel der Identität

Im Allgemeinen wird Identität als eine in sich und in der Zeit erlebte Einheit einer Person beschrieben. Sie wird als Gesamtbild, das eine Person von sich hat, verstanden im Sinn von: „Das bin ich.“ Im Unterschied dazu verstehe ich Identität als einen Mosaikspiegel, in dem man sich in ganz verschiedener Weise sieht. Identität ist nie aus einem Guss. Sie ist ein komplexes Gebilde, das in jeder Lebensphase und in unterschiedlichen Kontexten immer anders spiegelt. Es treten immer andere Aspekte in den Vorder- bzw. in den Hintergrund. Ein wirklicher Charakter zeichnet sich dadurch aus, dass er über verschiedene Dimensionen hinweg scheinbar widersprüchlich ist. Nur die Gesamtintegrität bleibt durchspürbar. Mit dem Bild vom Mosaikspiegel wird eine Identität aus Fragmenten beschrieben. Teile, die für das Ganze stehen oder doch sinnvoll mit dem Ganzen verbunden werden können, nennt man Fragmente. Dies ist von einer dysfunktionalen Fragmentierung zu unterscheiden, bei der dieser Zusammenhang zerfällt und die Teile getrennt voneinander ein eigenes Bild ergeben und nicht integrierbar scheinen.

Die im Bild des Mosaikspiegels gemeinte funktionale und die dysfunktionale Fragmentierung liegen nahe beieinander. Jemand, der versucht, sich jeweils nur im Einzelteil zu spiegeln, fühlt sich fragmentiert. Im gelingt es gefühlsmäßig nicht, eine innere Zusammenschau zu halten. Hier hilft oft zurückzutreten. Denn das Gesamtbild wird, wie das bei Mosaiken so ist, manchmal erst aus dem Abstand erkennbar. Menschen, die sich fragmentiert fühlen, müssen einerseits lernen, die eigene Fragmentierung nicht durch starke Über- und Untertreibung aktiv vorzunehmen. Andererseits müssen sie lernen auszuhalten, die Teile zu lassen und zu respektieren, wenn kein Zusammenhang erkennbar ist. Denn vieles, was im Alter von 20 Jahren neurotisch aussieht, erkennt man mit 40 als notwendige Vorstufe für eine komplexe Persönlichkeit.

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In diesem Sinn heißt Integration, einen Schritt zurückzutreten, Gesamtschau zu halten und zu tolerieren, dass Teile des Mosaiks noch nicht fertig sind. Wenn man erkennt, dass das Mosaik nicht fertig ist, heißt das aber nicht, dass das, was da ist, verkehrt ist. Es heißt lediglich, dass noch ein paar Steinchen fehlen, die, wenn sie hinzukommen, plötzlich den Sinn dessen erschließen, was bisher unsinnig erschien, und die den Blick auf das Ganze ermöglichen. Auch deswegen ist es wichtig, als Berater auf das Fehlende achten, auf das, was noch hinzukommen müsste, um aus der Neurose einen Charakter zu machen.

Einschränkende Identitätsüberzeugungen

Ein wesentliches Erkennungsmerkmal von einschränkenden Identitätsüberzeugungen ist, dass sie von gemachten Erfahrungen unberührt bleiben. Jemand, der beispielsweise die Idee von sich hat, „Ich bin nicht liebenswert“, hält unberührt an diesem Selbstbild fest, auch wenn es in seiner Umgebung viele Menschen gibt, die sich liebevoll auf ihn beziehen. Als interner Mechanismus kann es zwar sein, dass er dieses Verhalten registriert, er wird aber plausible Erklärungen dafür finden, warum diese Menschen Ausnahmen darstellen. Möglicherweise denkt er: „Die, die sich liebend auf mich beziehen, haben nur noch nicht erkannt, dass ich im Grunde einer bin, der nicht liebenswert ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie es erkennen und dann werden sie sich abwenden.“ Es kann auch sein, dass er denkt: „Es kann zwar sein, dass diese Menschen mich mögen, aber die, die mir wirklich wichtig sind, die mögen mich nicht. Und dass die mich als denjenigen erkennen, der ich wirklich bin, nämlich als jemand, der nicht liebenswert ist, erkenne ich daran, dass sie unerreichbar bleiben.“ D.h. egal, wie sich die Menschen in seiner Umgebung ihm gegenüber verhalten, bleibt er unerschütterlich in seinem Glauben. Von außen ist ein solcher Irrglaube daran erkennbar, dass man dazu neigt, ihn zu bestätigen, wenn man dem Beziehungsangebot des Klienten folgt.

Als Berater entwickelt man nun möglicherweise Ideen über frühkindliche Traumata als Erklärung, warum er es nicht spürt. Wenn man jetzt auf der Ebene von Erleben und Verhalten mit ihm arbeitet, gerät man jedoch gerade auf Irrwege. Hier empfiehlt es sich, auf die Ebene des Denkens zu gehen. Jetzt kann sein, dass man auf den bisher nicht erkannten, nicht benannten und daher unhinterfragten Glauben über sich selbst stößt, der etwas mit einer Zuschreibung in der Kindheit zu tun haben kann. Ein Kind ist auf Realitätsbehauptungen, auf Konstruktionen von Elternfiguren angewiesen. Es übernimmt solche Annahmen über sich und verhält sich dann entsprechend. Es lernt dann geradezu die Verhaltensweisen, die zu diesem Etikett gehören. Menschen entwickeln also Glaubenssätze über sich, die letztlich auf Behauptungen, auf Selbstschlussfolgerungen oder auf Selbstverständlichkeiten beruhen. Manchmal ist es notwendig, solche Glaubenssätze durch Gegenbehauptungen zu ersetzen.

Wenn der Klient diese neue Behauptung über sich annimmt, hat er eine andere Prämisse, die Welt zu erfahren und sich im Kontakt mit Menschen zu verhalten. Auf Grund dieser Prämisse kann er einerseits Dinge, die bereits in seinem Leben vorhanden sind, anders einordnen. Andererseits kann er Verhaltensweisen und Erfahrungen machen, die in seinem bisherigen Repertoire nicht vorhanden waren, weil er jetzt überhaupt erst damit rechnet, dass es sie gibt. Jetzt entsteht erst ein Suchraster, aufgrund dessen sich Wirklichkeit kristallisieren kann, die er bisher ausgeschlossen hat. Bisher kam er gar nicht auf die Idee, dass es das in seinem Leben geben kann.

Manchmal ist es gerade ein wichtiger Aspekt des therapeutischen Vorgehens, die oft krampfhaften Versuche zu unterbrechen, am Verhalten Anzeichen feststellen zu können, dass man auch anders sein könnte. Dazu ist es notwendig, die Identitätsüberzeugung vom konkreten Verhalten los zu definieren. Man muss demjenigen die Idee geben, dass er in einem Irrtum über sich lebt und dass er sich an den Irrtum so gewöhnt hat, dass er sich identisch mit sich fühlt, wenn er diesen Irrtum lebt. Deshalb nehmen viele Menschen nicht in Anspruch, was ihnen eigentlich zusteht. Sie verharren in ihrem Irrglauben über sich und verhalten sich entsprechend. Denn jedes Verhalten schafft eine Menge es plausibel machende und aufrecht erhaltende Bedingungen.

Eine Veränderung in der Identitätsannahme über sich selbst zieht nicht automatisch eine Veränderung auf der Verhaltensebene nach sich. Es kann ein längerer und komplexer Umlernprozess sein, der manchmal sogar eine Veränderung des sozialen Milieus und vieler anderer Dinge nach und nach notwendig macht, um sich von dem zu überzeugen, was man über sich entschieden hat oder akzeptiert, wenn es jemand anderes in einem sieht. D.h. die Behauptung eilt der Realisierung voraus. Sie ist ein neues konstruktives Vorurteil, das im Sinne einer zu erfüllenden Prophezeiung erst erarbeitet werden muss. So gesehen ist ein Rückfall in alte Verhaltensweisen auch nie ein Beweis, dass die Um- bzw. Neudefinition nicht stimmt, sondern nur ein Beweis, dass sie noch nicht genügend verwirklicht wurde. Das ist der große Vorteil von Neudefinitionen. Denn solche Konstruktionen, die ja rein geistiger Natur sind, können, wenn sie für den Klienten glaubwürdig sind, nicht durch Rückfälle umgestoßen werden.

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Häufig hört man Therapeut sagen: „Du musst an den Klienten glauben, dann ist Therapie erfolgreich!“ Unseres Erachtens reicht es jedoch nicht, jemandem zu sagen : „Ich glaube jetzt an dich und alles weitere kannst Du selbst erledigen.“ Die Botschaft muss lauten: „Ich glaube an etwas anderes in Dir als Du und es kann sehr disziplinierte Arbeit an Dir notwendig sein, diesem Glauben zum Ausdruck zu verhelfen. Es kann auch sein, dass Du Dein Leben weiterhin damit verbringst, eine richtige Identität zu verleugnen und daran kann ich Dich nicht hindern. Aber wenn ich dich konfrontiere, tue ich das, weil ich weiß, dass du anders bist, als Du von Dir glaubst zu sein. Aber ich vertraue nicht, dass du das auch realisierst. Ich konfrontiere dich auf der Basis, dass Dir etwas anderes bestimmt ist, was du in Anspruch nehmen kannst. Du kannst es aber auch mit Füßen treten.“ Damit packe ich den anderen konstruktiv an seiner Scham. Er kommt nicht umhin, ein Gefühl dafür zu bekommen, dass er sich durch das, was er tut, verfehlt.

Identitätsarbeit klärt also eine Grundprämisse, vor der alles dann Notwendige geschieht. Wenn diese Grundprämisse nicht mit erfasst wird, geschieht das Notwendige in der Regel allerdings nicht.

„Passamtsarbeit“

Die Methode, die ich für den Umgang mit einschränkenden Identitätsüberzeugungen anwende, nenne ich Passamtsarbeit. Auf die Kunstfigur mit dem „Passamt“ bin ich über den Begriff der „Identity card“ gekommen. Sie ist eine durch einen Hoheitsakt dokumentierte Existenz. Mit der Passamtsarbeit bilde ich die Metapher einer sozial konstruierten Identität ab. In den deutschen Pässen gibt es die Rubrik der unveränderlichen Merkmale. In der Passamtsarbeit wende ich die Figur an, dass jemand durch die Welt läuft, als würden in seinem Pass unter „unveränderliche Merkmale“ einschränkende Wesensbehauptungen stehen.

  • Der erste Schritt in der Arbeit mit Identitätsüberzeugungen ist, den Irrglauben, den ein Klient über sich hat und lebt zu identifizieren und als ein unveränderliches Merkmal im Pass zu benennen.
  • Der zweite Schritt besteht darin zu behaupten, dass dieser Eintrag eine Fehleintragung im Pass darstellt, der gelöscht und durch einen anderen Eintrag ersetzt werden muss. Dafür bietet sich die Frage an: „Willst du die Eintragung geändert haben? Was willst du statt dessen eingetragen haben?“ Im Dialog mit dem Klienten wird der Neueintrag daraufhin formuliert. Im Allgemeinen bietet entweder der Klient/die Klientin eine Formulierung an, die er/sie für wünschenswert hält, aber nicht als mit sich identisch und wesensgleich empfinden kann oder ich schlage eine Formulierung vor. Wenn wir eine Formulierung gefunden haben, die wir beide akzeptabel finden, sage ich: „Gut wir löschen die alte Eintragung und tragen das Neue ein und das wird amtlich bescheinigt.“ Dem hatte ich dann noch das Bild hinzugefügt: „Wenn du selbst ab und zu wieder unsicher bist, was deine Identität ist, musst du nur in Deinen Pass gucken. Da steht, was du im Grunde bist. Diese Identität kannst du jederzeit in Anspruch nehmen und das dazu Notwendige lernen.“

Wichtig ist zu vermitteln, dass mit dem Neueintrag keine Verpflichtung verbunden ist, sein Verhalten zu ändern. Der Neueintrag bedeutet, ein Recht darauf zu haben, sein Verhalten zu ändern und vor allem das eigene Erleben und Verhalten aus der Perspektive der Neudefinition neu zu interpretieren.

Scham und Schuld

Scham bezieht sich auf die Identitäts-, Schuld auf die Verhaltensebene. Scham ist das Gefühl, das entsteht, wenn man die eigene Würde verletzt hat, indem man der eigenen Identität nicht entspricht. Schuld entsteht als Gefühl, wenn man im Verhalten etwas schuldig geblieben ist. Solche würdigen Positionen sind nicht möglich einzunehmen, solange jemand mit seinem Irrglauben identifiziert ist. Umgekehrt schafft diese nicht-neurotische Version von Schuld und Scham gepaart mit der Annahme, eigentlich eine würdige Position einnehmen zu dürfen und sie bisher nur verfehlt zu haben, eine enorme Motivation, dazuzulernen und neues Verhalten zu entwickeln.

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In den Heilsgeschichten der Bibel findet die Wende im Schicksalsprozess häufig durch ein Ereignis statt, durch das jemand in positiver Weise von Scham- und Schuldgefühlen ergriffen wird. Diese Ereignisse führen nie dazu, dass sich die Betroffenen in jahrelange Therapie begeben, sondern sie drehen sich um und werden vom Saulus zum Paulus. Viele Menschen leiden daran, dass sie bei sich Verhaltensprobleme kennen und auch wüssten, was zu ändern wäre. Sie müssten beispielsweise Prozeduren durchstehen, wie Abnehmen, Entziehung von Drogen jeglicher Art, bestimmte Dinge zu lernen oder von sozialen Rollen Abstand zu nehmen, die ihnen schöne Korruptionen bieten. Sie finden dafür jedoch keine Motivation in sich. Wenn sie auf diese Weise eine Position der grundsätzlichen Würde einnehmen, erhalten sie eine ganz andere Motivationskraft. Wenn andere stellvertretend in ihnen sehen, was sie bisher noch nicht als zu sich gehörend erleben, sind das auch Hilfsmotivatoren.

Sicherlich ist bei dieser Art von Identitätszuschreibungen wesentlich, dass die Begriffe greifen, die als Passeintrag gewählt werden. Sie müssen einen Kontrast, eine Antithese zu der bisherigen Präsentation des Klienten darstellen. Wahrscheinlich kann man mit diesem Instrument auch nicht wirklich wirksam umgehen, wenn man sich nicht in Wesensschau übt. Man braucht die Kraft der Vision, die Ahnung für die spezifische Besonderheit, die bisher unerlöst gelebt wird. Daran muss man glauben können und zwar nicht im Sinne von: „Ich vertraue Ihnen, nun machen Sie schon.“ Sondern im Sinn von: „Das sehe ich in Ihnen.“

Dr. Bernd Schmid ist Leitfigur des isb-Wiesloch www.isb-w.eu  und der Schmid-Stiftung http://schmid-stiftung.org sowie Begründer der systemischen Transaktionsanalyse, Ehrenvorsitzender im Präsidium des Deutschen Bundesverband Coaching www.dbvc.de, Ehrenmitglied der Systemischen Gesellschaft, Preisträger u. a. des Eric Berne Memorial Award 2007 der Internationalen TA-Gesellschaft ITAA, Life Achievement Awards der Petersberger Trainertage 2014 und der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse 2017.

Der Orginaltext mit dem Titel „Umgang mit einschränkenden Identitätsüberzeugungen“ wurde im April 2018 von mir (Rainer Müller) zur Veröffentlichung in diesem Blog überarbeitet. Sie finden ihn hier: http://bibliothek.isb-w.eu/alfresco/d/d/workspace/SpacesStore/f891135b-8c4b-46e2-9f97-2462cdf76a81/073-UmgangMitEinschraenkendenIdentitaetsueberzeugungen(TA)-Schmid_1998.pdf.

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