“Ob es um das Überbringen einer Todesnachricht oder die organisatorischen Probleme bei Großschadensereignissen mit Schwerverletzten und Toten geht – die Notfallpsychologie beschäftigt sich mit den Belastungen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten bei Notfallopfern, Helfern und sonstigen Beteiligten. So umfassend und fundiert wurde das spannende Fachgebiet selten dargestellt: Grundlagen und Anwendungswissen – von Psychischer Erster Hilfe über Psycho-soziale Notfallhilfe bis hin zur pychotherapeutischen Behandlung.” Klappentext
Im Folgenden finden Sie ausgewählte Ausschnitte aus dem Kapitel “Geschichte der Notfallpsychologie” aus dem Buch “Notfallpsychologie” von Prof. Dr. Bernd Gasch und Prof. Dr. Frank Lasogga.
Belastungen und Folgen bei Notfallopfern
Vereinzelte Berichte über Belastungen und Folgen bei Notfällen gibt es schon im Mittelalter. Pepys berichtet z.B., dass nach einem Großbrand in London 1666 niemand schlafen konnte, weil den Beteiligten die Gedanken an das Feuer nicht losgelassen hätten (zitiert nach Saigh 1995). Somis beschreibt 1755 einen Lawinenabgang in den Alpen und die psychologische Begleitung einer Familie nach dem Ereignis (Juen et al.2004). Im Jahr 1906 behauptet der Psychiater Edouard Stierlin, dass bei einem Erdbeben in Messina 25 % der Bevölkerung Schlafstörungen und Albträume hatten (zitiert nach Juen et al. 2004); Hesnard (1894, zitiert nach Weisaeth 1996) berichtet ähnliches über zwei Schiffsexplosionen.
Für die neuere Zeit liegen mehr Berichte vor. So finden sich in den 40-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts diverse Beschreibungen, beispielsweise bezüglich eines Brandes in Boston (Coconut Grove Night Club) im Jahr 1943 mitsamt seinen Folgen (Hausmann 2005). Demnach gab es bei den Überlebenden zahlreiche psychische Störungen (Lindemann 1944).
In den 50-er und 60-er Jahren folgen eine Reihe weiterer Studien über die Folgen von Naturkatastrophen, z.B. von Bloch, Silber und Perry (1965) über 88 Kinder, die 1953 einen Wirbelsturm überlebt hatten. Burgess und Holmstrom (1974) sowie Kilpatrick, Veronen und Resick (1979) (jeweils zitiert nach Saigh 1995) widmen sich den psychischen Folgen bei Vergewaltigungsopfern und konstatieren z.B., dass die Werte in einem Angstfragebogen 6-10 Tage nach dem Ereignis deutlich über den Normwerten lagen, dann aber abflachten.
In den 90 er Jahren wuchs die Zahl der Publikationen explosionsartig an, insbesondere über eine spezielle Folgeerscheinung von Notfällen, die „Posttraumatische Belastungsstörung“. Diese war 1980 in das DSM III, dem diagnostischen und statischen Manual psychischer Störungen, aufgenommen worden. Im DSM I war sie schon unter dem Begriff „schwere Belastungsreaktion“ zu finden gewesen, wurde dann aber im DSM II wieder gestrichen (Lueger-Schuster 2006). Bis heute steht diese Diagnose im Zentrum der Forschung über Folgen von Notfällen. Über die viel häufigeren psychologischen Belastungen der Opfer und die möglichen Folgen sowie intervenierenden Variablen liegen allerdings nur wenige Publikationen vor. Eine systematischere Auflistung der Belastungen und Folgen wurde erst Ende der 90-er Jahre vorgenommen (Lasogga & Gasch 1997).
Psychische Betreuung von Notfallopfern
Eine psychische Betreuung von Notfallopfern gab es vermutlich schon immer in irgendeiner Form, z.B. durch die Familie, Freunde, Geistliche. Lindemann forderte z.B. bei dem zitierten Brand in Boston gezielte psychiatrische Hilfe, die er dann auch organisierte (Ciompi 1996). Schnyder & Sauvant (1996) bezeichnen die darauf bezogene Publikation von Lindemann „Symptomatology and management of acute grief“ (1944) als die erste Veröffentlichung über „Krisenintervention“.
1976 wurde der „Weißen Ring“ gegründet, dessen Mitglieder sich überwiegend um Kriminalitätsopfer kümmern. Für alle psychischen Notsituationen gibt es seit 1997 eine bundeseinheitliche Rufnummer der Telefonseelsorge; der Anruf ist kostenlos; die Organisation erfolgt in ökumenischer Zusammenarbeit durch die beiden großen Kirchen (Geschichte der Telefonseelsorge 2006).
Ende der 80-er und insbesondere in den 90-er Jahren wurde der psychologische Umgang von professionellen Helfern wie Rettungsdienstmitarbeitern, Notärzten, Polizeibeamten, Feuerwehrleuten mit Notfallopfern immer kritischer gesehen und die Vernachlässigung des psychologischen Umgangs, beispielsweise mit Unfallopfern, bedauert (Gorgaß und Ahnefeld 1994, Linde 1994).
1990 erschien der erste Kongress-Beitrag, in dem empirisch fundiert Regeln für Laienhelfer und professionelle nicht psychologische Helfer (Einsatzkräfte) zum Umgang mit Opfern von Unfällen vorgestellt wurden (Gasch und Lasogga 1990), im Jahre 1997 folgte von den gleichen Autoren eine erste Buchpublikation.
Zwischenzeitlich hatte sich gezeigt, dass einige Notfallopfer über eine „Psychische Erste Hilfe“ hinaus weitergehende Betreuung benötigen. Infolge dieser Erkenntnis und auch auf Grund von einzelnen spektakulären Notfällen wurden in einigen Städten „Kriseninterventionsteams“ gegründet; eines der ersten war 1994 das KIT in München. Auch Notfallseelsorger“ traten in den 90-er Jahren das erste Mal in größerem Ausmaß in Erscheinung. Im Jahre 1997 wurde in den „Kasseler Thesen“ hierfür ein übergreifendes Konzept dargelegt; im Jahre 1998 fand der erste Bundeskongress der Notfallseelsorger statt.
Gleichzeitig waren auch spezielle psychotherapeutische Verfahren zur Behandlung von schwereren Folgen von Notfällen bei Opfern und Helfern entwickelt und erforscht worden (Traumatherapie). Mit diesen Verfahren sollten primär die „Posttraumatische Belastungsstörung“, aber auch andere Beeinträchtigungen aufgrund von Notfällen behandelt werden,
Ein Gesamtkonzept für den Umgang mit Notfallopfern unter Berücksichtigung von präventiven Maßnahmen, Psychischer Erster Hilfe, Psycho-sozialer Notfallhilfe und Psychotherapie wurde im Jahr 2002 im ersten Buch im deutschsprachigen Raum, das den Titel „Notfallpsychologie“ trug, vorgelegt (Lasogga & Gasch, 2002). Ein weiteres Buch einer systematischen Darstellung der Notfallpsychologie erschien ein Jahr später in Österreich (Hausmann, 2003). In den letzten Jahren folgten zahlreiche weitere Publikationen, die aber häufig der Kategorie „anekdotische Fallbeschreibung“ zuzurechnen sind. In ihnen werden vorwiegend Einsätze oder therapeutisches Vorgehen beschrieben, diese aber nur selten systematisch reflektiert oder einem theoretischen Hintergrund zugeordnet.
Psychische Betreuung von Helfern
Auch die Belastungen der Helfer, insbesondere die der Rettungsdienstmitarbeiter und Ärzte, sowie die daraus resultierenden Folgen wurden in den 80-er und 90-er Jahren zunehmend thematisiert (beispielsweise Pühl 1991, Geier 1994, Falk 1994, Hermanutz & Buchmann 1994; Kuntz & Bengel 1994; Bengel, Bordel & Carl 1998;). Für die professionellen Helfer wurde in den 80-er Jahren von Everly und Mitchell ein spezifisches Konzept zur Verarbeitung der Belastungen entwickelt, das „Critical Incident Stress Management (CISM)“ (deutsche Übersetzung 1998). Dieses Konzept ist inzwischen weltweit verbreitet. Allerdings zeigen neuere Forschungsarbeiten, dass es häufig nicht die ursprünglich erwarteten Effekte hat.
Kriege und Großschadensereignisse
Eine bedeutende, aber auch strittige geschichtliche Linie der Notfallpsychologie darf nicht unterschlagen werden: der Krieg. Neben dem Krieg haben insbesondere Großschadensereignisse die Notfallpsychologie vorangetrieben. So wurde etwa ab Ende des 20. Jahrhunderts auch in der Tagespresse über die psychologischen Folgen und die Betreuung der direkten und indirekten Notfallopfer sowie der Helfer berichtet, beispielsweise bei dem Zugunglück in Eschede, dem Anschlag auf das World Trade Center, beim Massaker in der Schule in Erfurt, den Überschwemmungen in Ostdeutschland und in Österreich, der Lawinenkatastrophe in Galtür, dem Tunnelbrand in Kaprun oder der Tsunami Katastrophe.
In der BRD wurde zum ersten Mal eine groß angelegte intensive Nachbetreuung der Helfer bei dem Zugunglück in Eschede vorgenommen und dokumentiert (Koordinierungsstelle Einsatznachsorge 2002). Heutzutage ist bei Großschadensereignissen weitgehend für eine psycho-soziale Nachbetreuung der Opfer und der Helfer gesorgt, wenn auch in unterschiedlicher Qualität. Seitens des Bundes wurde im Jahr 2004 das „Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK)“ errichtet. In dem Informationssystem „deNIS“ werden dort Informationen insbesondere zu großflächigen Schadenslagen zusammengefasst und dargestellt.
- Die „Betroffenheit“ bei Notfällen war möglicherweise in früheren Zeiten kleiner
- Seit den Neunziger-Jahren wächst die Zahl der Publikationen explosionsartig an.
- Seitdem wird auch die Belastung der Helfer ein Thema.
- Kriege waren auch bei dieser Thematik Anlass zur Forschung
Frank Lasogga & Bernd Gasch (2011). Notfallpsychologie (2. Auflage). Springer: Heidelberg. Hier finden Sie das Buch auf der Seite des Verlags.
Beispiele für Einzelthemen in der Publikation:
- Psychische Belastungen, Folgen und Interventionen bei Notfällen
- „Psychologische Erste Hilfe“
- Psychotherapeutische Methoden
- Psychische Belastungen bei speziellen Situationen und speziellen Personengruppen
- Großschadensereignisse
- Amokläufe an Schulen
- Suizid
- „Notfall-Organisations-Psychologie“
- u. a.
Prof. Dr. (em.) Bernd Gasch, geb. 1941, Dipl-Psych. Promotion an der Universität Erlangen. Tätig in Augsburg, Mannheim. Seit 1979 Professur an der Universität Dortmund, Forschungsaufenthalte in Mailand, Australien, USA. Forschungsgebiete: Pädagogische Psychologie, Organisationspsychologie, Notfallpsychologie.
Prof. Dr. Frank Lasogga, geb. 1951, Dipl-Psych. Promotion an der Universität Hamburg, Habilitation an der Universität Dortmund. Professor für Klinische Psychologie i. R. an der Universität Dortmund. Forschungs- und Lehrbereich: Klinische Psychologie, Notfallpsychologie.