Rezension: “Unser empathisches Gehirn” von Christan Keysers

In „Unser empathisches Gehirn“ beschäftigt sich Christian Keysers mit den Wirkungsmechanismen der Spiegelneuronen, deren Erforschung in den letzten Jahren durch die neuen bildgebenden Verfahren (fMRT) einen großen Sprung gemacht hat. Der Erzählstil dieses Buches lädt dazu ein, dem Forscher bei seiner Arbeit über die Schulter zu gucken, und macht Wissenschaft dadurch erlebbar. So bindet er gerade zu Beginn des Buches immer wieder autobiographische Elemente mit ein, die verdeutlichen, dass das Wissen über unser Gehirn mit jenen Menschen verknüpft ist, die es produzieren. Im Grunde genommen geht es Keysers aber um eine Erklärung dessen, was Empathie eigentlich ist und wie sie neurophysiologisch funktioniert. Die Darstellungsweise der Studien und Experimente, die der Autor heranzieht, um seine Aussagen zu belegen, entbehrt zwar in mancherlei Hinsicht jener Exaktheit, die von einem Fachbuch zu erwarten wäre, regt aber dazu an, sich mit einzelnen Aspekten tiefergehend zu befassen. Gerade der erzählende Stil macht das Buch leicht verständlich und lässt die Inhalte lebendig werden.

Zunächst erläutert Keysers sehr detailliert, wie Spiegelneuronen funktionieren, und macht deutlich, wie wichtig sie für das Verständnis unserer Empathiefähigkeit sind. Um andere Menschen zu verstehen, stellt sich unser Gehirn ihm zufolge die Frage, wie es sich anfühlen würde, das Gleiche zu tun? Spiegelneurone stellen eine direkte Verbindung zwischen der Wahrnehmung anderer Menschen und jenen Hirnregionen dar, die für das eigene Verhalten zuständig sind. Durch den handlungsbezogenen Nachvollzug dessen, was wir bei anderen beobachten, lässt es sich real nachempfinden. Das Lernen am Modell hat in den Spiegelneuronen also eine Art Korrelat gefunden, mit dem sich viele bekannte Annahmen auf ein neues wissenschaftliches Fundament stellen lassen. Kurzum lässt sich sagen, dass wir uns in andere hineinfühlen, um besser von ihnen lernen zu können. Der Mensch ist also auch neurophysiologisch betrachtet ein soziales Wesen.

Doch wie lernen wir von anderen? Besonders wichtig für das Verstehen sind die Ziele, mit denen eine Handlung bzw. ein Verhalten verbunden ist. Die Wahrnehmung eines Ziels bestimmt maßgeblich, welche Hirnregionen bzw. Spiegelneuronen aktiviert werden. So gibt es allgemeine, die die grobe Marschrichtung vorgeben, und streng kongruente, die sich konkret auf das Beobachtete beziehen. Dadurch wird die Flexibilität des entsprechenden Systems deutlich und auch der Unterschied zum klassischen Verständnis des Lernens durch Imitation. Sogar gegenüber Tieren und Gegenständen sind empathische Gefühle von großer Bedeutung, wie der Autor an ausgewählten Beispielen verdeutlicht. Keysers betrachtet den Körper zudem als festen Bestandteil des Geistes und plädiert für eine Auflösung der dualistischen Denkweise, da Körper, Gehirn und bewusster Geist in einem ständigen und partnerschaftlichen Austausch miteinander stehen.

Im mittleren Teil des Buches wird die Entwicklung der menschlichen Sprache ausführlich beleuchtet. So sorgen Spiegelneuronen z.B. durch einen zirkulären Wirkmechanismus dafür, dass man das Gefühl hat, dass eine gesendete Botschaft beim Gegenüber ankommt. Das Spiegelsystem bildet also eine Brücke zwischen zwei Menschen und ist für die Entstehung von Kommunikation von großer Bedeutung. Keysers beschäftigt sich zudem mit den Ursachen und Implikationen von Autismus und Soziopathie und stellt mit dem Interpersonal Reactivity Index von Davis einen Test bereit, mit dem sich die Ausprägung der eigenen Empathiefähigkeit in vier Bereichen messen lässt: Perspektivübernahme, Fantasie, emotionale Einfühlung und persönliche Betroffenheit. Obwohl wir selbstverständlich alle über Spiegelneuronen verfügen, ist die Fähigkeit, empathisch zu empfinden, sehr unterschiedlich ausgeprägt und abhängig von den individuellen (Vor-)Erfahrungen. Auch auf grundsätzliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern weist Keysers hin. Unter Zuhilfenahme der hebbschen Lernregel macht er die Plastitzität unseres Gehirns deutlich und erörtet u. a., dass Empathie, gemeinsame Schaltkreise und Spiegelneurone im Grunde genommen erlernte Assoziationen sind. Die Folgerungen daraus legen zudem eine einheitliche Theorie der sozialen Kognition nahe. Zum Ende des Buches leitet Keysers eine Ethik ab, die auf Empathie basiert, welche fest in unserem Gehirn verankert und somit grundlegend für unser ethisches Empfinden und für die daraus abgeleiteten Gesetze ist. Die „gemeinsamen Schaltkreise“, von denen er in diesem Zusammenhang spricht, sind sozusagen unsere moralische Stimme.

Auch wenn die Erforschung der Spiegelneuronen neue Perspektiven eröffnen, ist doch nur Weniges von dem, was Christian Keysers schreibt, wirklich überraschend. Der Hauptnutzen des Buches besteht wohl in der Aufschlüsselung der neurophysiologischen Korrelate bereits kursierender Annahmen über das Empfinden von Empathie. Mittels der Beschreibung diverser Studien und Experimente gelingt es dem Autor, die wissenschaftlichen Erkenntnisse so plastisch darzustellen, dass sie auch für Laien nachvollziehbar und zu einem spannenden und unterhaltsamen Lesegenuss werden.

Christian Keysers (2014). Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen. btb Verlag.