„Spiritualität ist für die einen ein Hingucker, für die anderen ein Weggucker. Die Psychologie hat sie allerdings bereits vor Jahren als ernstzunehmende Ressource in Therapie und Beratung entdeckt und wertet sie nicht mehr länger als vertaubtes Konzept oder gar als Ausdruck einer neurologischen Störung.“ Klappentext
Wie denken Sie darüber? Sind Sie der Meinung, dass „Glaube“ Privatsache ist und in der Psychotherapie nichts zu suchen hat? Ist die Vorstellung von einem behütenden oder strafenden Gott lediglich das Symptom einer psychopathologischen oder unreifen Persönlichkeit? Wirkt sich Gläubigkeit störend auf den therapeutischen Prozess aus? Oder kann es sein, dass Religiosität bzw. Spiritualität eine personale Ressource darstellt, die aufgrund ihres hohen Sinn-Niveaus ein wichtiger Moderator zwischen den Widerfahrnissen des Lebens und der Neuregulation des Wohlbefindens ist?
Allein diese Fragen sind schon spannend. Der Buchtitel erweckte mein Interesse jedoch noch aus zwei anderen Gründen: Zum einen wurde ich im Rahmen meiner Arbeit immer wieder mit stark religiös geprägten und zugleich dysfunktionalen Grundannahmen konfrontiert, die sich mittels gängiger Disputationstechniken nur schwerlich auflösen ließen. Zum anderen war mir nie so ganz klar, wie offen ich meine eigenen religiösen Überzeugungen im Kontakt mit Klienten kommunizieren sollte, vor allem dann nicht, wenn ich direkt danach gefragt werde.
Bereits das Vorwort von Prof. Dr. Michael Utsch (Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen) macht deutlich, warum sich das Lesen lohnt: „Eine psychotherapeutische Behandlung setzt voraus, Ursachen für die seelische Störung eines Patienten herauszufinden. […] Bedauerlicherweise hat die deutschsprachige Psychiatrie und Psychotherapie die Beschäftigung mit religiösen und spirituellen Themen lange vermieden. Es ist ein Anliegen dieses Buches, hier eine Lücke zu schließen, den gegenwärtigen Forschungsstand darzustellen und Anregungen und Handlungsempfehlungen für die psychotherapeutische Praxis zu liefern.“
Die Autoren bemühen sich in dem vorliegenden Werk also darum, Glaube, Religion und Spiritualität in ihren krankmachenden und gesundheitsförderlichen Auswirkungen verständlich zu machen und auf diesem Wege eine Einbindung in die psychosoziale Beratung und Psychotherapie zu ermöglichen. Nachdem einleitend über die grundlegende Wirkung von religiösen Überzeugungen sowie über die Bedeutung von Religion in der Psychotherapie berichtet wird, geht es anschließend um den professionellen Umgang mit Sinnfragen und Transzendenz, existenzielle Fragen und Sehnsüchte, Orientierungskonflikte und um die Suche nach tragfähigen Werten. Ein wichtiges Fazit daraus ist, dass Religion, wenn sie anerzogen und unreflektiert ist, das Wohlbefinden zwar beeinträchtigen kann, sie sich in der Regel aber positiv auswirkt, wenn sie verinnerlicht bzw. überzeugungsgeleitet ist und mit einer vertrauensvollen Gottesbeziehung einhergeht. Da die Psychologie auf die drei Grundfragen nach Sinn („Wozu?“), Schuld („Warum?“) und Tod („Wohin?“) keine Antworten gibt, scheint der Blick über den Tellerrand für diejenigen, die sich mit existenziellen Krisen beschäftigen, nahezu unerlässlich. Doch wie lässt sich „Glaube“ eigentlich psychologisch erfassen oder messen? Und welchen Unterschied macht es, ob man nun religiös, spirituell oder gläubig ist? Darf man als Psychotherapeut zu seinem Glauben stehen oder gilt man deswegen als Esoteriker? Welche Gefahren gehen von weltflüchtigen Idealisierungen und Projektionen aus? Welche Herausforderungen entstehen durch kulturspezifische Unterschiede, die den Autoren zufolge in einem Einwanderungsland wie Deutschland bislang zu wenig Beachtung finden (vgl. Leitlinien zur interkulturellen Psychotherapie)? Mit einer den Themen angemessenen wissenschaftlichen Exaktheit und mit Bezug auf die entsprechende Fachliteratur wird diesen Fragen nachgegangen.
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit der psychotherapeutischen Sichtweise. Dabei geht es um therapeutische Interventionen, die einen Bezug zu verschiedenen Glaubensrichtungen haben (wie zum Beispiel achtsamkeitsbasierte oder meditative Verfahren), um grundlegende Konzepte unterschiedlicher therapeutischer Schulen und deren religiösen Bezüge, sowie um die Einbindung spiritueller Methoden, von denen viele in anderen Kulturen gängige Praxis sind. In einem der Kapitel widmet sich Dr. Raphael M. Bonelli dem Thema der „Schuld“, das zu einer großen Belastung werden kann, und erörtert auf spannende Weise den Unterschied zwischen Reue bzw. Sühne und der Wirkung einer religiösen Beichte. Im dritten und vierten Teil wird dann die Bedeutung von Spiritualität im Zusammenhang mit verschiedenen Störungsbildern (z. B. Depressionen, Neurosen, Zwangsstörungen, Traumata, religiöser Wahn) und der Persönlichkeitsentwicklung im Allgemeinen beleuchtet. Spannend hierbei war für mich u. a. die Aussage, dass die Überzeugung, ein subjektives Leid sei durch ein magisches Auge (bzw. einen „bösen Blick“) verursacht worden, per se nichts Wahnhaftes ist, das korrigiert werden sollte, da der Glaube daran von einer größeren Gruppe geteilt wird. Als ich in einem Gespräch mit einer Klientin einmal mit einer solchen Vermutung konfrontiert wurde, wusste ich jedenfalls zunächst auch nicht, wie ich sie vom Gegenteil hätte überzeugen können…
Des Weiteren werden die psychohygienische Wirkung von Vergebung (anstelle einer anhaltenden Verbitterung) und des Gebetes sowie die Frage, wie eine spirituelle Suche nach Sinn professionell begleitet werden kann, in dem Buch besprochen. Einen ersten Eindruck davon, wie das gelingen kann, vermitteln z. B. die Kriterien einer spirituellen Haltung als therapeutisches Basisverhalten nach Hundt und die ethischen Leitlinien für eine kulturell-spirituell sensitive Psychotherapie nach Sperry.
Immer wieder weisen die Autoren auf empirische Untersuchungen hin, mittels derer sie ihre Aussagen stützen, bleiben dabei aber in jeglicher Hinsicht respektvoll und zugleich kritisch. Das stetige Abwägen von Pro- und Contra-Argumenten zu vielen Fragestellungen macht mir deutlich, wie groß der Forschungsbedarf in diesem Bereich bis heute noch zu sein scheint. Diskutiert werden zudem verschiedene Psychodynamiken, die mit einem religiösen Glauben einhergehen, aber auch Spannungsfelder, denen gläubige Menschen ausgesetzt sind. So benennt Dr. Samuel Pfeifer (Chefarzt der psychiatrischen Klinik Sonnenheide) z. B. sieben Konfliktbereiche, die er in klinischen Interviews mit Menschen ermittelte, die eine „neurotische“ Verarbeitung von religiösen Fragen beklagten: (1) Generelle, neurotische (übersensible) Konflikthaftigkeit, (2) Konflikte zwischen Familienloyalität und subjektiv erlebten Traumata bzw. Ungerechtigkeiten, (3) Konflikte zwischen (religiösen) Idealen und der Realität, (4) generell erhöhte Ängstlichkeit (auch in religiösen) Fragen, (5) Schuldgefühle als ubiquitäres menschliches Phänomen, (6) Übernahme von eigenständiger Verantwortung bei gleichzeitigem Wunsch nach göttlicher Führung, (7) Menschliche und kirchliche Gesetzlichkeit und Morallehre im Gegensatz zu persönlicher christlicher Freiheit
Fazit: Das Buch ist spannend wie ein Kriminalroman. Es ermutigt dazu, sich im Rahmen der therapeutischen Arbeit gezielter mit religiösen Fragestellungen zu befassen, und es kann dabei helfen, das Unbeweisbare und Unbegreifliche auf nützliche Weise in den Heilungsprozess einzubinden. Des Weiteren finden sich in den verschiedenen Kapiteln viele Hinweise auf wirksame Interventionen für spezielle Frage- und Problemstellungen.
Michael Utsch, Raphael M. Bonelli & Samuel Pfeifer (2014). Psychotherapie und Spiritualität. Mit existenziellen Konflikten und Transzendenzfragen professionell umgehen. Springer-Verlag.