„44 mögliche und unmögliche Arten, eine Therapiesitzung zu beginnen“ von Thomas Prünte

In dieser Leseprobe finden Sie zwei Kapitel aus „Wie geht es mir heute?“ von Thomas Prünte. Dieses inspirierende Buch hilft Therapeuten und Beratern, ihr Repertoire für den Einstieg in die Sitzungen zu erweitern. Der therapeutische Prozess gewinnt dadurch an Lebendigkeit und Prägnanz, das Wesentliche wird fokussiert und der Klient zur produktiven Mitarbeit angeregt. In den hier ausgewählten Ausschnitten geht es um den Dialog mit dem inneren Richter sowie um Entschleunigung…

Kapitel 37: Gehen wir in den Gerichtssaal – Für einen fairen Prozess sorgen

Der Staatsanwalt ist gut in Form. Seit Stunden martert er den Angeklagten. Mit eiserner Stimme listet er unerbittlich die Anklagepunkte auf. Kein Detail ist ihm entgangen. Die Vorwürfe sind gnadenlos und überwältigend. Der Angeklagte ist längst zu einem Häufchen Elend zusammengesackt. Aus den Augenwinkeln sieht er den strengen Blick des Richters, der den Daumen mit verächtlicher Miene langsam nach unten senkt. Das Urteil ist vernichtend. Der Angeklagte fühlt sich erbärmlich, von Gott und der Welt verlassen. Er ist hoffnungslos allein!

Sie halten dieses Szenario für einen Albtraum oder einen Auszug aus einem aktuellen Thriller? Weit gefehlt, denn diese überzeichnete Sequenz spiegelt in etwa das innere Erleben eines Menschen, der unter starken Schuldgefühlen leidet. Für ihn ist es tatsächlich so, als säße er im falschen Film, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Doch warum eigentlich? Vermutlich ist Ihnen aufgefallen, dass in der Eingangsszene etwas Wesentliches fehlt. Der Angeklagte ist anscheinend vollkommen sich selbst überlassen. Gehört zu einem fairen Prozess nicht zumindest ein Anwalt, der die Interessen des Angeklagten vertritt? Ich möchte mich bei dem sensiblen Thema der Schuldkomplexe auf genau diesen Aspekt beschränken.

Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, Schuldgeplagte gleich am Beginn der Sitzung mit dem Szenario des Gerichtssaales und dem Gedanken an einen Pflichtverteidiger vertraut zu machen. Dieser stellt die Sachverhalte differenziert dar und macht mildernde Umstände geltend.

Frau T. hat sich nach langem Ringen von ihrem Mann getrennt. Obwohl sie ihre Entscheidung »eigentlich« richtig findet, fahren ihre »Gefühle noch Achterbahn«.

  • Frau T.: Ich hadere und quäle mich mit Selbstvorwürfen, fühle mich schlecht und schuldig. So schlecht war unsere Ehe doch gar nicht.
  • Th.: Sie haben mir berichtet, dass Sie oft schlaflose Nächte haben, in denen Sie sich mit Selbstvorwürfen martern.
  • Frau T.: Ja. Ich denke dann an meinen Mann. Eine Freundin hat mir erzählt, er würde unter der Trennung »leiden wie ein Schwein«.
  • Th.: Und das hat viel in Ihnen ausgelöst!?
  • Frau T.: Ich werfe mir vor, alles falsch gemacht zu haben. Vielleicht habe ich zu früh aufgegeben und hätte uns noch eine Chance geben müssen. So schlecht war unsere Ehe doch gar nicht.
  • Th.: Ich habe den Eindruck, dass Sie in diesem inneren Prozess wichtige Themen verhandeln. Als würden Sie wie im Gerichtssaal einem unerbittlichen Staatsanwalt und strengen Richter gegenüber stehen. Wenn Sie einverstanden sind, würde ich gern für einen fairen Prozess sorgen. Was halten Sie davon?
  • Frau T.: Ja, auf jeden Fall. Es ist wie Sie sagen, ich verurteile mich über alle Maßen und mache mich fertig.
  • Th.: Dann schlage ich vor, dass Sie sich vorstellen, ein guter Rechtsanwalt wäre als Verteidiger an Ihrer Seite. Würde Ihnen das gefallen?
  • Frau T.: Ich weiß nicht genau. Was soll der machen?
  • Th.: Er soll hauptsächlich mildernde Umstände geltend machen und dafür sorgen, dass alle Beweggründe für die Trennung gehört werden.
  • Frau T.: Sie meinen, weil es sonst so einseitig zugeht?
  • Th.: Das ist mein Eindruck.
  • Frau T.: Ja, das stimmt. Ich orientiere mich zu stark an meinen Eltern. Die mochten ihren Schwiegersohn sehr und haben dazu geraten, bei ihm zu bleiben. Ein Eheversprechen müsse man halten.
  • Th.: Dann lassen Sie bitte Ihren Verteidiger zu Wort kommen. Er kann jetzt schildern, welche nachvollziehbaren Beweggründe es für die Trennung gegeben hat.
  • Frau T.: Er würde wohl sagen, dass ich mich schon längere Zeit in der Beziehung unwohl gefühlt habe. Am Beginn der Ehe war mein Mann noch aufmerksam, doch das hat abgenommen. Er war kaum noch zu Hause, die Arbeit und seine Karriere gingen vor. Das fing an, nachdem es mit dem Kinderwunsch nicht gleich geklappt hat. Er hat sich in eine Affäre gestürzt.
  • Th.: Wie klingt das in Ihren Ohren, wenn diese Informationen im Raum stehen?
  • Frau T.: Schon richtig, ich war ihm vollkommen gleichgültig. Aber sofort kommt wieder die Anklage: Man muss durch dick und dünn gehen, so leicht sollte man nicht aufgeben. Das ist die Stimme meiner Mutter. Vielleicht hätten wir ja doch noch eine Chance gehabt.
  • Th.: Was sagt der Verteidiger?
  • Frau T.: Meine Mandantin hat alles versucht! Sie hat sogar darauf bestanden, eine Paartherapie zu versuchen, die jedoch der Mann nach einigen Sitzungen abgebrochen hat.
  • Th.: Wie hört sich das an?
  • Frau T.: Schon besser. Trotzdem denke ich immer noch, dass ich eine Versagerin bin und den Makel der Geschiedenen trage. Ich schäme mich auch nachträglich noch vor den Hochzeitsgästen.
  • Th.: Dann lassen Sie bitte wieder Ihren Verteidiger für sich sprechen.
  • Frau T.: Er sagt ganz eindeutig, dass ich keine Versagerin bin und mich nicht schämen muss. Er weist darauf hin, dass es schon fast normal ist, sich zu trennen. Es ist ein Zeichen von Kompetenz, sich aus einer unbefriedigenden Beziehung trennen zu können. Er zeichnet sogar ein Bild von mir, das mich als starke Frau darstellt. Ich könnte ein Vorbild für andere Frauen sein, die sich noch nicht trauen, ihre Männer zu verlassen.
  • Th.: Das ist in der Tat ein interessantes Bild. Wie finden Sie das?
  • Frau T.: Das tat richtig gut, es mal so zu sehen. Mir kommen auf einmal ungewöhnliche Gedanken und Worte in den Sinn.
  • Th.: Welche denn?
  • Frau T.: Dass es möglich ist, mit Grazie, Anmut und Würde zu einer Scheidung zu stehen!

Was für ein überraschendes Ende! In der folgenden Sitzungen schildert Frau T. einen für sie neuen und entlastenden Gedanken: »Mir ist klar geworden, dass nicht ich gescheitert bin, sondern wir. Jeder hat seinen Anteil dazu beigetragen. Damit kann ich viel besser leben.« Nach dem Scheidungstermin einige Monate später stellt sie erleichtert fest: »Ich konnte meinen Mann gut loslassen und hatte den Eindruck, dass ich in dieser Hinsicht schon weiter bin als er. Ich gehöre zu den glücklich Geschiedenen!«

Quintessenz: Schuldgeplagte neigen zu grober Vereinfachung:

»Ich bin eine schlechte Mutter und habe vollkommen versagt. Ich zerfleische mich selbst«, sagt eine Mutter, deren Tochter im Dro- genmilieu gelandet ist. Milde Töne, die in der Folge auch mildernde Umstände bewirken könnten, werden ausgeblendet. So wird eine differenzierte Betrachtung aller beteiligten Faktoren verhindert. Durch die Metapher des Gerichtssaals und die Einführung eines Pflichtverteidigers beginnt der Patient zu verstehen, wie einseitig und unfair es in seinem inneren Prozess zugeht.

Der Therapeut kann den Prozess begleitend moderieren und die folgenden Fragen in Erinnerung rufen:

  • Was könnte ein guter Verteidiger zu Ihrer Entschuldigung anführen? Welche mildernden Umstände könnte er geltend machen?
  • Welche Entlastungszeugen könnte er aufrufen?
  • Wie würde ein gütiger und weiser Richter urteilen?
  • Was würden Sie einem guten Freund sagen, der sich, wegen eines ähnlichen Problems, heftige Vorwürfe macht?

Was zu beachten ist

Schuldgedanken basieren auf dem Eindruck, dass man etwas getan hat, was man nicht hätte tun sollen. Sie haben viel mit verinnerlichten Normen zu tun. Eine moralisch-ethische Instanz – in der Psychoanalyse das Über-Ich genannt – tritt gebieterisch auf die emotionale Bühne. Die Fähigkeit, Schuldgedanken haben zu können, ist auch ein Zeichen seelischer Gesundheit. So beschreibt ein gekränkter Mann sein inneres Erleben: »Ich war so wütend und wollte meiner Freundin eine Ohrfeige verpassen. Plötzlich hatte ich die Stimme meines Vaters im Ohr, der sagte: ›Eine Frau schlägt man nicht! ‹«

Übermäßige Schuldvorwürfe hingegen schaden der seelischen Gesundheit und verursachen Leiden. Von daher ist es wichtig, sie aufzulösen. Dennoch ist es erforderlich, ihre Funktion für den Betreffenden zu verstehen. Mitunter ist es nämlich leichter, sich schuldig zu fühlen, als ein anderes Gefühl wie Ärger, Angst und Trauer zu empfinden. Diese Schutzfunktion der Schuldgefühle sollte man kennen, um das darunter liegende Motiv besser verstehen zu können. Insbesondere Schuld und Scham liegen oft nah beieinander. So quälte sich ein Mann, der von seiner Frau ungewollt verlassen wurde, lange mit der Frage herum, was er in der Beziehung alles falsch gemacht hat. Erst nach einer Weile offenbarte sich ein tieferliegender Schmerz. Es beschlich ihn das beschämende Gefühl, den Ansprüchen seiner Frau nicht genügt zu haben. Er erlebte sich in dieser Phase als unattraktiv, minderwertig und schämte sich seines »Mann-Seins.« Erst allmählich entfaltete sich ein differenzierteres Bewusstsein für seine Stärken und Schwächen. Es gelang ihm besser, sich »anzunehmen, so wie ich nun einmal bin: ein menschlicher Mann.«

Kapitel 10: Heute mal gaaanz langsam – Tempolimit für die Seele

Herr Meier redet schon seit zehn Minuten wie ein Wasserfall! Er kommt »vom Hölzchen aufs Stöckchen«, denn er ist emotional aufgewühlt. Jedes Detail erscheint bedeutsam. Zu jedem Gedanken gesellt sich in Millisekunden gleich ein Nebengedanke. Dieser Aspekt muss nochmals erläutert und jener besonders hervorgehoben werden. Der Therapeut soll ein vollständiges Bild der schwierigen Situation erhalten, in der er sich befindet. Deswegen möchte Herr Meier auch noch darauf hinweisen, wie wichtig …

Kennen Sie solche Sitzungen, in denen man Mühe hat mitzukommen, weil der Patient so schnell redet und von einem Gedanken zum nächsten springt? Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind nicht allein – dem Patienten geht es genauso!

Menschen mit einem großen Leidensdruck möchten sich möglichst schnell von ihrer seelischen Last befreien. Sie schweifen dann ab und bringen all ihre Empfindungen zunächst unsortiert zum Ausdruck. Es tut ihnen gut, im Therapeuten endlich jemanden gefunden zu haben, dem man sich anvertrauen kann. Das ist verständlich, denn ihre Not ist groß und entsprechend groß ist ihr Rededrang. Es kommt vor, dass sowohl der Patient als auch der Therapeut in diesem Tempo gar nicht so schnell erfassen können, worum es eigentlich geht. Patienten bemerken dies durchaus und stellen dann fest: »Mein Gott, ich rede so wirr und viel. Sie verstehen vermutlich gar nicht, was ich sagen will!«

Selbstverständlich gibt man sich als Therapeut Mühe und hört am Anfang geduldig zu. Man versucht, auf diese Weise ein erstes Bild von der Situation des Patienten zu gewinnen. Doch nach einer gewissen Zeit ist es hilfreich, wenn man den Redefluss rechtzeitig unterbricht und zur Verlangsamung einlädt. Denn erst dadurch wird eine vertiefte Bearbeitung und ein tieferes Verständnis möglich. Eine Sitzung könnte dann in etwa so beginnen:

Therapeutisches Entschleunigen

Mir ist aufgefallen, dass Sie innerlich sehr aufgewühlt und bewegt sind. Das kann ich gut verstehen. Allerdings neigen Sie dazu, dann sehr schnell zu sprechen, sodass es schwer fällt, genau zu erfassen, was Sie meinen. Ich möchte daher vorschlagen, dass wir heute bewusst kleinschrittig vorgehen und langsamer werden.

Durch das Umschalten von Zeitraffer auf Zeitlupe werden nicht selten Einzelheiten sichtbar, die sonst verloren gegangen wären. Dazu ein Beispiel: Herr Z. kommt nach einem Klinikaufenthalt und einer schweren depressiven Episode in die ambulante Therapie. Er hat bereits erste Erkenntnisse über die Zusammenhänge seiner Erkrankung erarbeitet, neigt allerdings dazu, diese in einem Redeschwall vorzutragen. So entsteht der Eindruck, dass viele Konflikte und Themen zwar oberflächlich berührt, jedoch nicht adäquat vertieft werden können. Daher vereinbare ich mit ihm, sich im Gespräch bewusst zu entschleunigen:

Wenn es für Sie in Ordnung ist, würde ich im Verlauf unseres Gespräches darauf achten, wann es mir zu schnell geht und Sie dann bitten, innezuhalten. Dann können die Inhalte und Informationen besser reflektiert werden und wir stellen sicher, dass ich Sie richtig verstanden habe. Und auch Sie können prüfen, ob Sie genau das zum Ausdruck gebracht haben, was Sie meinen.

Langsam geht es schneller

  • Herr Z.: Ich habe mich immer angepasst und gefällig verhalten, wollte soziale Bestätigung bekommen, weil ich mit mir selbst nicht im Reinen bin und …
  • Th.: Könnten wir an dieser Stelle bitte etwas langsamer vorgehen und innehalten? Ich habe den Zusammenhang so schnell nicht verstanden. Ich wiederhole noch einmal: Sie wollten soziale Bestätigung bekommen, weil Sie mit sich selbst nicht im Reinen waren? Was bedeutet das und wie kann ich mir diesen Zusammenhang vorstellen?
  • Herr Z.: In der Vergangenheit habe ich immer gelogen, wenn es mir schlecht ging und ich mich ohnmächtig oder hilflos gefühlt habe und …
  • Th.: Ich würde gern nochmals unterbrechen, um mitzukommen: Sie haben gelogen, wenn es Ihnen schlecht ging?
  • Herr Z.: Ja, das ist bizarr! Ich wollte von außen eine Bestätigung bekommen, die ich mir selbst nicht geben konnte und …
  • Th.: Lassen Sie uns langsam vorgehen: Sie haben also gelogen, um eine Bestätigung zu bekommen, die sie sich selbst nicht geben konnten. Ich verstehe den Zusammenhang noch nicht wirklich.
  • Herr Z.: Ich habe so getan »als ob«, habe Handlungen vorgetäuscht und so getan, als würde ich etwas tun, weil ich dachte, das wird von mir erwartet, ich war…
  • Th.: Bitte noch einmal zurückspulen und langsam: Sie haben Dinge behauptet, weil sie sozial erwünscht waren?
  • Herr Z.: Ich dachte, das wäre das Richtige und …
  • Th.: Bitte nochmal entschleunigen: Was meinen Sie genau?
  • Herr Z.: Ich habe zum Beispiel meine Mutter angelogen und ihr gesagt, dass es mir ganz gut geht und ich meine Post erledigt habe, regelmäßig rausgehe und …
  • Th.: Bitte Stopp! Ich verstehe, dass Sie das getan haben, um Ihre Mutter zufriedenzustellen und sie zu beruhigen, obwohl es Ihnen eigentlich schlecht ging?
  • Herr Z.: Ja, ich habe mich aufgebläht und gedacht, ich schaffe das dann am nächsten Tag. Manchmal ging das gut, und manchmal nicht und dann ging es bergab und dann …
  • Th.: Lassen Sie uns noch einmal rechts ranfahren und kurz anhalten, um nachzudenken: Wie hat sich das ausgewirkt?
  • Herr Z.: Das war anstrengend, denn ich musste mir ja merken, was ich wem und wann gesagt hatte. Ich hatte immer Angst, entlarvt zu werden und …
  • Th.: Bitte etwas langsamer: Was war der Sinn dieses Vorgehens?
  • Herr Z.: Es war wie ein Schutzmechanismus, der mir Atemluft und Zeit verschaffte. Ich hatte Rückzugsmöglichkeiten und Distanz und …
  • Th.: Langsam bitte: Wie verstehen Sie das, wie ist die innere Logik dieses Arrangements?
  • Herr Z.: Ein Arzt hat mal zu mir gesagt, dass ich wohl jemand bin, der nirgendwo dazugehören will, und es stimmt …
  • Th.: Sie wollen nirgendwo dazugehören?
  • Herr Z.: Es gibt mir immer zu viele Faktoren von außen. Ich habe mich immer fremdbestimmt gefühlt und mein Leben lang …
  • Th.: Bitte kurz innehalten: Das heißt, worum ging es Ihnen letztlich wirklich?
  • Herr Z.: Ich muss und will selber klar kommen. Ich will selbstbestimmt sein und die Impulse sollen aus mir heraus kommen, diese innere Freiheit ist mir wichtig.
  • Th.: Ich verstehe es richtig: Sie haben eigentlich durch dieses Arrangement versucht, innere Momente der Selbstbesinnung zu finden, um aus sich heraus und selbstbestimmt leben zu können?
  • Herr Z.: Ja, genau. Das ist mein Grundkonflikt: Ich wollte herausfinden, wer ich wirklich bin! Und …
  • Th.: Bitte noch einmal Stopp! Sie nennen es Ihren Grundkonflikt, wieso?
  • Herr Z.: Weil ich oft gegen mein Innerstes gehandelt habe, ich habe mich oft verraten und schlecht gefühlt. Konnte mich nie entfalten. In meinem letzten Job gab es viele solcher Situationen, in denen ich …

Lassen wir das Gespräch an dieser Stelle ausklingen. Wie man hört, ist das Entschleunigen mitunter mühsam und erfordert vom Therapeuten eine konsequente Haltung. Doch es hilft dem Patienten, wenn der Therapeut innehält und manchmal wie ein Papagei wiederholt, was er gehört und verstanden hat – oder auch nicht verstanden hat und dann entsprechend nachfragt. Durch diese Rückkopplung hört der Patient seine Worte ein zweites Mal und erhält die Gelegenheit, die Informationen zu bestätigen, zu korrigieren oder zu vertiefen. Statt eines Monologes kann sich so ein Dialog entwickeln, in dessen Verlauf man bestimmte Aspekte genauer unter die Lupe nehmen kann.

Tempolimit für die Seele

Fassen wir noch einmal zusammen: Menschen in Not erleben oft eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Ihre Gedanken rasen ohne Tempolimit durch den Kopf. Die meisten Menschen streben schnelle Veränderungen an. Das ist nachvollziehbar, denn wer verbringt schon gern Wochen im emotionalen Stau? Andererseits kann hektisches Strampeln einen Menschen noch tiefer ins Unwohlsein hineinziehen. Da ist es gut, wenn zumindest der Therapeut lenkend eingreift und das Tempo drosselt. Das kann zu Beginn ungewohnt sein, doch es hilft beiden Seiten, wenn der therapeutische Tempomat auf Tempo 30 für die Spielstraße eingestellt wird. Zwischendurch mal einen Parkplatz aufzusuchen, um sich auszuruhen und Erfahrungen sacken zu lassen, fördert die emotional-kognitive Verarbeitung. Gerade wenn es emotional und gedanklich viel zu verarbeiten gibt, ist es ist wie bei der Nahrungsaufnahme: Hat man zu schnell zu viel in sich hineingestopft, braucht man Zeit und Ruhe, um die Speisen zu verdauen. Mit Informationen und Gefühlen ist es nicht anders. Beschleunigung ist der falsche Weg, denn wer sich innerlich auf der Überholspur einrichtet, übergeht sich selbst. Um nicht aus der Bahn geworfen zu werden, ist ein emotionales Tempolimit äußerst hilfreich!

Was zu beachten ist

Neurologen haben herausgefunden, dass unser Gehirn in Zeiten des Innehaltens und Ruhens eine Art Selbstinspektion in Gang setzt. Im Offline-Modus organisiert es die Netzwerke aus Nerven- zellen neu, ordnet das Gelernte und verarbeitet die Eindrücke. Diese nach innen gerichtete Aktivität ist äußerst wertvoll, denn in diesen Momenten bilden sich neue Strukturen, das Erlebte kann sich »setzen«. Langsamkeit fördert den späteren Fortschritt. Übertragen auf unser Gefühlsleben bedeutet dies, dass wir einen Resonanzraum brauchen, in dem unsere Erfahrungen »nachschwingen« können. Die Seele braucht Zeit, um mitzukommen. Singen Sie als Therapeut das Loblied der Langsamkeit der Seele. Treten Sie in die Fußstapfen der Hopi-Indianer, die auf ihren Reisen oft rasten und anhalten, damit ihre Seelen nachkommen können. Ihre Patienten werden es Ihnen danken!

Quelle:

Thomas Prünte, geb. 1958 in Unna/Westfalen, ist Diplom-Psychologe, Psychotherapeut, Paar-Therapeut, Dozent und Coach. Seit mehr als 25 Jahren ist er in eigener Praxis tätig und verfügt über einen breiten Ausbildungshintergrund (www.thomas-pruente.de).

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