In seinem Buch „Was Stress und Burnout mit uns machen und was wir dagegen tun können“ (2014) bringt der Diplom-Psychologe, Psychotherapeut und Coach Christoph Brechtel eine Vielfalt praktischer und nachvollziehbarer Alltagsbeispiele ein, die selbst komplexe Zusammenhänge in unterhaltsamer Weise verständlich machen. Dennoch sind seine Schilderungen über die weitgreifenden Veränderungen und Prozesse bei Stress und Burnout sehr systematisch und bis ins Detail ausgeführt. Dies gilt sowohl für die Entstehung von Stress und Burnout und deren Konsequenzen, als auch für die ausführlich beschriebenen Maßnahmen zur frühzeitigen Wahrnehmung, Vorbeugung, Bewältigung und Abbau von Stressfolgen.
Stress
[…] Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Sie befinden sich hinter dem Steuer Ihres Autos und nähern sich bei starkem Verkehr einer Ampel. Die Ampel zeigt Rot. Sie halten, hinter Ihnen bildet sich rasch eine Autoschlange. Die Ampel schaltet auf Gelb, Sie legen den Gang ein, die Ampel zeigt Grün – und nun würgen Sie Ihren Motor ab! (…zugegeben: Bei einem Automatikgetriebe wäre das wahrscheinlich nicht passiert…)
Hinter Ihnen ist wütendes Hupkonzert. In Ihrem Körper beginnt die Stressreaktion: Die nervöse Spannung erhöht sich, die Muskulatur verspannt. Das Herz schlägt schneller und kräftiger, die Atmung wird flacher. Veränderungen im Blut treten auf, die Blutverteilung des Organismus wird verändert: Blut fließt aus den Bauchorganen in die Muskulatur, dadurch erhöht sich Ihre Hauttemperatur. Die Muskelspannung nimmt weiter zu. Gleichzeitig steigert sich Ihre Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit. Die Pupillen sind geweitet. Hormone wie z.B. Adrenalin und Noradrenalin werden ausgeschüttet. Kohlenhydrate werden mobilisiert, aus der Bauchspeicheldrüse wird Insulin freigesetzt usw.
Diese biologische Reaktion ist entwicklungsgeschichtlich bedingt und stellt sich bei Mensch und Tier gleichermaßen ein, wenn ein Reiz zum Stress wird. […]
Diese Reaktion stellt dem Organismus sämtliche Energie in Sekundenschnelle zur Verfügung, die er braucht, um entweder zu kämpfen oder zu fliehen. Eine archaische Reaktion des Überlebenstriebs! In der geschilderten Situation aber völlig sinnlos. Was nützt es Ihnen, dass Sie jetzt „aufgeladen“ genug sind, um zu kämpfen? Und gegen wen? Das Auto zerstören? In dieser Stimmung könnten Sie das. Vielleicht hätten Sie sogar Lust dazu. Macht aber keinen Sinn. Und fliehen? Das Auto stehen lassen? Schnell abhauen? Macht auch keinen Sinn. Wenn Sie aber weder das eine noch das andere tun, werden diese Anspannungen, die sich aufgebaut haben, nicht oder nur ganz allmählich abgebaut. Was machen Sie? Sie starten das Auto neu und kommen sich blöd vor.
Wird Ihnen diese Reaktion bewusst? Nur Teile davon. Sie spüren vielleicht, dass Ihr Herz schneller schlägt und es Ihnen warm wird. In der geschilderten Dramatik wird Ihnen das vermutlich nur beim ersten Mal so deutlich bewusst. Wenn das öfter passiert, „gewöhnen“ Sie sich daran. Das heißt, Ihr Organismus merkt, dass dies nicht wirklich lebensbedrohlich ist und lernt, mit der Situation umzugehen, entwickelt also eine neue „Routine“. Im besten Fall passiert es Ihnen nicht mehr, dass Sie Ihr Auto abwürgen, weil Sie dann gelernt haben, wie Sie das verhindern können, indem Sie sich auf das ausgewogene Spiel von Gaspedal und Kupplung konzentrieren. Wenn Sie sich stattdessen ein Automatikgetriebe zulegen, dann haben Sie zwar nicht gelernt, Ihre Stressreaktion zu bewältigen, aber Sie haben die Ursache, also den Stressor, zumindest für diese eine Situation, beseitigt. Beides ist möglich und macht mehr oder weniger Sinn.
Mit Stress-Situationen souverän umzugehen, erfordert Übung. Das bedeutet: Wir müssen uns Stress immer wieder aussetzen, um zu lernen, wie wir damit umgehen sollen. So wird neues Verhalten gelernt. Stressoren zu vermeiden – oder noch besser – sie endgültig zu beseitigen, macht immer dann Sinn, wenn sie danach nicht mehr auftreten. In den meisten Fällen ist dies allerdings die zweitbeste Lösung. Neues Verhalten (das betrifft unser Denken, Fühlen, Wollen und Tun) zu lernen, um anstehende (Stress-)Probleme zu lösen, ist dagegen die Meisterklasse.
Ihre Stressreaktionen völlig auszuschalten, wird wohl nicht gelingen, weil Sie sich nie auf alles, was kommt, vorbereiten und üben können. Ob Sie etwas stresst oder nicht, hängt einerseits von der Dosis ab und andererseits von Ihrer Belastbarkeit und Einstellung. Was für andere Stress bedeutet, kann Sie völlig kalt lassen oder sogar Spaß machen. Was andere in Angst und Schrecken versetzt, könnte Sie lediglich amüsieren. Stress ist – bis auf ganz wenige Ausnahmen – individuell und subjektiv.
Kennen Sie die Messer-Szene aus „Crocodile Dundee“? Er und seine begleitende Journalistin werden am Abend in New York von einer jugendlichen Ghetto-Gang mit einem Messer bedroht. Die Journalistin rät ihm ängstlich, denen die Brieftasche zu geben. Dundee lächelt nur und fragt mit Blick auf das Messer: „Das soll ein Messer sein?“ Dann greift er hinter seinen Kopf und zieht sein gigantisches Buschmesser, das er auf dem Rücken trägt, hervor. „Das ist ein Messer!“ Die Jungs sind völlig verunsichert und fliehen. Die Journalistin will zur Polizei gehen, um Anzeige zu erstatten. Doch Dundee sagt: „Ach komm, das sind Jungs! Die wollen nur ihren Spaß haben.“
Für alle, die den Film nicht kennen: Crocodile Dundee, ein Naturbursche und Überlebenskünstler aus dem australischen Outback, wird von einer Journalistin entdeckt und nach New York gebracht. Durch die Anpassungsversuche an die unbekannte Zivilisation ergeben sich amüsante, aber auch gefährliche Verwicklungen. Es gibt zwei Teile des „Action-Films“, die beide spannend und humorvoll sind und ohne Blutvergießen auskommen.
Ich nehme hier bewusst ein Beispiel aus einem Hollywood-Film, weil es unter anderem eines sehr deutlich macht: Was der New Yorker Journalistin Angst macht, amüsiert Dundee nur. Er erlebt diese Szene gar nicht als Stress und erkennt die Gefahr nicht. Das mag leichtsinnig sein: Aber da er in einer solchen Situation „cool“ bleiben kann (und das größere Messer hat und auch weiß, damit umzugehen), reduziert sich sein Risiko ziemlich stark. Besonders, weil er solche Situationen kennt und sie schon oft gemeistert hat.
Natürlich macht es Sinn, wenn die Polizei rät, bei solchen Überfällen lieber das Geld herzugeben als das Leben oder in Gefahr zu geraten, verletzt zu werden. Diesen Rat kennen aber auch die jugendlichen Gangster. Und deshalb erwarten sie diese Reaktion. Schließlich machen die das auch nicht zum ersten Mal. Wenn aber eine völlig unerwartete Reaktion kommt, mit der nicht zu rechnen war, dann werden plötzlich die, die andere „stressen“ wollten, selbst zu Gestressten. Zumindest im Film. Da schätzt Dundee selbstverständlich alles richtig ein und rettet sich immer, selbst aus lebensbedrohlichen Situationen. Warum? Weil es so im Drehbuch steht. Weg von Hollywood, zurück zu uns.
Was steht im Drehbuch unseres Lebens? Welche Regieanweisungen haben wir für unseren Auftritt auf der Bühne des Lebens? Und akzeptieren wir das? Wer schreibt denn dieses Drehbuch? Das Leben oder wir selbst?
Das Thema, das oben angesprochen wurde, ist Frustrationstoleranz. Diese ist ein wesentlicher Teil der „Belastbarkeit“. Frustration tritt immer dann auf, wenn sich unsere Erwartungen nicht erfüllen, wenn unsere Motive nicht befriedigt werden und wir unser anvisiertes Ziel nicht erreichen. Frustrationstoleranz ist das Maß der Frustration, die wir tolerieren (ertragen) können, ohne dass es zu Nervosität, Angst, Aggression oder unbewussten Abwehrmechanismen kommt, wir also „cool“ bleiben. Diese Frustrationstoleranz ist individuell unterschiedlich und zählt zu den Fähigkeiten der sogenannten persönlichen Kompetenz. Die gute Nachricht: Sie ist trainierbar. Genauso, wie man auch seine eigene Persönlichkeit und seine körperliche Ausdauer und Belastbarkeit weiterentwickeln kann.
Wenn eine Person ihre hohe Frustrationstoleranz über längere Zeiträume aufrechterhalten kann, ohne gesundheitliche Stressfolgen ertragen zu müssen, dann bezeichnet man das als Resilienz (= Widerstandsfähigkeit). Dies ist so etwas wie das Immunsystem der Psyche. Genauso wie Frustrationstoleranz ist sie als bewusste Fähigkeit nicht angeboren. Es gibt natürlich individuell unterschiedliche genetische Grundvoraussetzungen, wie viel Belastung jemand aushalten kann, zum Beispiel Schmerzen. Dies sind zwar unbewusste Veranlagungen, die wir aber bewusst trainieren können. So können wir z.B. auch lernen, unsere Schmerzschwelle zu erhöhen. Wer hier von Anfang an „gut ausgestattet“ ist, hat Vorteile.
Wichtig für die Verbesserung unserer Resilienz ist aber die Überzeugung, dass wir unser Leben beeinflussen können (also unser „Drehbuch des Lebens“ selbst schreiben) und dass wir die Verantwortung für unser Handeln übernehmen (uns also nicht als Opfer fühlen). Weiterhin ist es hilfreich, wenn wir Selbstvertrauen haben und emotionale Bindungen zu anderen aufbauen können. Dabei andere sowohl um Hilfe bitten können als auch die Fähigkeit haben, unsere Probleme selbst zu lösen. Darüber hinaus entwickelt sich Resilienz durch jede positive Erfahrung, die wir mit Bewältigung schwieriger Situationen oder Krisen gemacht haben.
Ein weiterer Begriff, der manchmal im Zusammenhang mit Stressbewältigung genannt wird, ist Flow (= Schaffensrausch, Funktionslust). Dieses Phänomen wurde von dem ungarischen Psychologen Mihály Csikszentmihályi (*1934) entdeckt. Flow ist ein Zustand zwischen Überforderung und Unterforderung und besteht in der völligen Harmonie zwischen dem limbischen System, welches die Emotionen steuert, und dem Cortex, dem Sitz für Bewusstsein und Verstand. In diesem Zustand entstehen trotz extremem Stress Lustgefühle ohne Aufmerksamkeits- bzw. Qualitätsverlust. Vielleicht haben Sie das auch einmal erlebt: Sie arbeiten stundenlang hochkonzentriert an einer Sache, die Sie sehr fasziniert, und vergessen dabei völlig Zeit und Raum. Wäre dies eine „normale“ Arbeit gewesen, wären Sie erstens nicht solange drangeblieben und hätten es zweitens als Stress erlebt.
Die Hoffnung, dass Flow möglicherweise zur dauerhaften Stressbewältigung einsetzbar wäre, wird sich allerdings nicht erfüllen. Diese Superleistung funktioniert nur kurzzeitig, z.B., wenn Sie einen 4000er ersteigen, einen Marathon gewinnen oder ein dringendes Projekt unbedingt heute zum Abschluss bringen wollen. Also eine kurzfristige Höchstleistung, auf die Sie sich mit allem, was Sie haben, konzentrieren. Diese Begeisterung bringen Sie nicht dauerhaft für die Bewältigung der alltäglichen, lästigen Stress-Situationen auf. Stressbewältigung muss man langfristig, komplex und systematisch angehen.
Aber zurück zum Anfang: Was stresst Sie eigentlich? Wie nehmen Sie Stress wahr? Wie reagiert Ihr Organismus? Welches Verhalten kennzeichnet Ihre Stress-Reaktion? Wie steht es um Ihre Belastbarkeit? Was tun Sie, um diese zu erhöhen?
Quelle:
- Christph Brechtel (2014). Was Stress und Burnout mit uns machen und was wir dagegen tun können. tredition ®.
- Hier finden Sie das Buch auf der Webseite des Verlags tredition ®.
Christoph Brechtel ist Diplom-Psychologe, Psychotherapeut und Coach. In seinen Sachbüchern beschäftigt er sich mit Themen der Menschenkenntnis, Stressbewältigung, Persönlichkeitsentwicklung, Führungsverantwortung und Psychosomatik aus psychologischer Perspektive.