Rezension: „Die erschöpfte Gesellschaft“ von Stephan Grünewald

„Unsere hektische Betriebsamkeit verdeckt, dass wir im Inneren eine tief erschöpfte Gesellschaft sind. Stephan Grünewald hält uns einen Spiegel vor. Mit Scharfsinn und Humor öffnet er uns die Augen für unsere Lebenswirklichkeit. Und für den Ausweg: Nur der Mut zum Träumen kann uns aus unserem rasenden Stillstand befreien.“ (Klappentext)

Welchen Wert haben Träume in unserer heutigen Gesellschaft und welchen Beitrag leisten Sie für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft? Diesen Fragen geht Stephan Grünewald vom rheingold institut in seinem Buch nach, welches im Campus Verlag erschienen ist. Seine Aussagen basieren auf tausenden von psychologischen Tiefeninterviews, die das Institut in den vergangenen Jahren durchgeführt und ausgewertet hat.

Die Frankfurter Rundschau beschreibt den Grundtenor des Buches als eine „beschwingte Partitur mit optimistischem Grundton“. Die kafkaeske Krisenpermanenz oder die Angst vor dem Schwarzen Loch hat sicherlich etwas düsteres – allerdings wird diese von den Menschen vollkommen ausgeblendet. Wie durch das Pfeifen im Walde, soll die Düsternis durch Überbetriebsamkeit vertrieben werden. Und so sind notorische Unruhe und Rastlosigkeit jene Merkmale einer Gesellschaft, die von einem sich immer weiter steigernden Effizienzwahn gekennzeichnet ist. Die Erhöhung des Burnouts als eine Art „Tapferkeitsmedaille“ (im Sinne eines „Erschöpfungsstolzes“) und die Hoffnung auf eine immerwährende Jugend sind nur zwei ihrer Eckpfeiler, die er benennt und kritisch hinterfragt. Er betrachtet die Gegenwart als eine durch wenig real spürbare Krisen gekennzeichnete Zeit der Unsicherheit, in der sich das Selbstwertgefühl vieler Menschen durch das Voting einer anonymen Massen definiert, und untermauert dies zum Beispiel durch die Erfolge von Castingshows und die über die „I like it“-Buttons kommunizierten Bestätigungsmechanismen der Web 2.0-Community.

Schon Sigmund Freud betrachtete den Traum „als eine sinnvolle seelische Produktion, die mit unserem Alltagsleben zusammenhängt“. Die Aufgabe des Traumes ist es also, jene Dinge metaphorisch zur Sprache zu bringen und zu verarbeiten, die unserem Bewusstsein am Tage entgehen. Der nächtliche Traum eröffnet uns demnach eine neue Sicht auf die Dinge, schlägt aber keine Lösungen vor. Er kann somit als Korrektiv zur Betriebsblindheit des Tages bzw. als „Verdauungshilfe“ bei der Auflösung schwieriger Probleme betrachtet werden. Dabei wird er allerdings oftmals von zu vielen ungelösten Problemen überfrachtet, was zur Folge hat, dass Schlafstörungen in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren sprunghaft zugenommen haben. So leidet rund jeder zehnte Erwachsene an einer krankhaften Schlaftsörung und 20% der Schulkinder haben Schlafprobleme. Stephan Grünewald sieht eine Ursache des Problems darin, dass wir den Bezug zu unseren Träumen verloren haben: „Wir träumen [zwar] jede Nacht, ob wir das wollen oder nicht. [Der] Punkt ist, dass wir [unsere Träume] weitgehend abgespalten haben von unserer Alltagswirklichkeit. Wir springen aus der Traumlogik direkt in die effiziente Tageslogik. Die Traumlogik gerät also nicht mehr in einen dialektischen und befruchtenden Austausch mit unseren Tagwerken. Dadurch drehen wir dann in den immer gleichen Drehungen des Hamsterrades durch.“

Auf seiner Suche nach den diesem Phänomen zugrunde liegenden Entwicklungen geht er auf die Bedeutung des Deutschseins im Alltag sowie auf spezifische und sich verändernde Rollenmuster und -erwartungen unserer Gesellschaft ein. So thematisiert er zum Beispiel die Rolle der Mutter, der Jugend und der Senioren.

Der Autor ermutigt in seinem Buch zu einer „produktiven Verrücktheit“, um den automatisierten und durchstrukturierten Alltagsabläufen – also dem „Hamsterrad“ – für einige Momente zu entweichen. Tagträume sind – ebenso wie die nächtlichen Träume – eine Quelle der Kreativität und der Weiterentwicklung und sie ermöglichen uns einen Umgang mit der Realität, der unserem innersten Wesen eher entspricht, als das ängstliche Klammern an gesellschaftlich determinierten Effizienzmaximen. Lesenswert ist dieses Buch vor allem deshalb, weil es einem immer wieder das Gefühl des „Ertappt-Seins“ vermittelt, und es die eigenen Werte und Richtlinien einer grundsätzlichen Prüfung unterzieht. Subtile und unterschwellige Ängste, die mir zum Teil sehr vertraut sind, greift er unter Betrachtung ihrer gesellschaftlichen Ursächlichkeiten auf und verweist dabei auf einen Weg, dem Dilemma zu entfliehen. Wir sollen also mehr Mut zum Träumen haben?

„Die erschöpfte Gesellschaft“ unterscheidet sich deutlich von den vielen glücksversprechenden Ratgebern, die einem suggerieren, mittels der „richtigen“ Technik oder Methode ein erfülltes Leben führen zu können. Es geht ihm nicht um den Traum von einem vermeindlich „besseren“ Leben, der dazu dient, persönliche Ziele schneller zu erreichen. Er lässt zwar auch erahnen, wie sehr er an die Kraft der Suggestion glaubt, doch erliegt er nicht der Versuchung, Tagträume „effizient“ einsetzen zu wollen. Im Gegenteil: Er sieht die Quelle kreativer Inspiration (oder „Anbahnung“) gerade im Müßiggang. Träume ermöglichen es dem Menschen, dem „Hamsterrad“ für eine Weile zu entkommen. Sie geben dem Leben Tiefe und Bedeutung und sie sind ein Motor für jenen gesellschaftlichen Fortschritt, der den Faktor „Mensch“ berücksichtigt – weit ab von jeglicher Effizienzmaximierung.

Dieses Buch bietet dem Leser die Möglichkeit, die eigenen Tag- und Nachtträume einmal in einem anderen Sinnzusammenhang zu betrachten und die eigenen Einstellungen dazu kritisch zu hinterfragen. Es ist trotz der anspruchsvollen Thematik und der darin enthaltenen Gesellschaftskritik leicht verdaulich und inspirierend, und es regt an zum Träumen!

Stephan Grünewald (2013). Die erschöpfte Gesellschaft. Warum Deutschland neu träumen muss. Campus Verlag GmbH.

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