„Natürlich mit links“ von Marina Neumann

Die Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Marina Neumann ist selbst Linkshänderin, wurde aber in der 1. Klasse zum Schreiben mit rechts gezwungen. Sie kennt die problematischen Auswirkungen einer Umerziehung von der linken auf die rechte Hand also aus persönlicher Erfahrung. In dem Buch „Natürlich mit links“ beschreibt sie, dass eine Befreiung aus dieser Unterdrückung auch im Erwachsenenalter noch möglich ist und eine Vielzahl neuer Entwicklungschancen bietet. Im Folgenden finden Sie ausgewählte Passagen aus Ihrem Buch:

Vorwort

Über vierzig Jahre lang hatte ich mich als umerzogene Linkshänderin durchs Leben gequält, ohne zu ahnen, dass es die Unterdrückung meiner Händigkeit war, die mich in meiner Leistungsfähigkeit und in meiner Persönlichkeitsentwicklung stark beeinträchtigt hatte. Ich wusste immer, dass ich eigentlich Linkshänderin bin, und konnte mich gut daran erinnern, wie ich in der ersten Schulklasse zum Schreiben mit rechts gezwungen worden war. Dass die Unterdrückung der angeborenen Linkshändigkeit tiefgreifende Folgen haben kann, wurde in der Fachliteratur aber nirgendwo thematisiert: Weder im Psychologiestudium noch in meinen zahlreichen Weiterbildungen als Psychotherapeutin stieß ich auf die Problematik des unterdrückten Linkshänders.

Viele Jahre lang suchte ich vergeblich nach den Ursachen meiner Probleme – bis mich im Jahr 1999 ein Bekannter, ebenfalls ein umgeschulter Linkshänder, wiederholt auf meine unterdrückte Händigkeit ansprach. Er hatte sich offensichtlich schon eine ganze Weile mit seiner gewaltsamen Umerziehung auf rechts beschäftigt. Alles, was er darüber sagte, klang stimmig für mich, und ich erkannte mich in vielen seiner Schwierigkeiten wieder. Durch ihn inspiriert, begann ich zur Problematik des umgeschulten Linkshänders zu recherchieren. Im Internet entdeckte ich schließlich den ausführlichen Erfahrungsbericht einer umgeschulten Linkshänderin. Sie beschrieb eindrucksvoll, wie sehr sie durch die nicht gelebte Linkshändigkeit in ihrem Lebensgefühl und ihren kreativen Möglichkeiten beeinträchtigt worden war. Genauso eindrucksvoll beschrieb sie dann, wie sie sich auf die linke Hand zurückgeschult hatte und wie sehr dieser Schritt ihr ganzes Leben zum Positiven verändert hatte.

Die Lektüre dieses Berichtes war ein echtes Aha-Erlebnis für mich. Danach stand mein Entschluss fest: Ich wollte mich auf meine dominante linke Hand zurückschulen und als Linkshänderin leben. Also stellte ich mir mein eigenes Übungsprogramm zusammen und lernte ganz langsam, mit links zu schreiben. Auch andere Tätigkeiten, die ich vorher mit rechts ausgeführt hatte, stellte ich nach und nach auch auf links um. Das war eine große feinmotorische und psychische Befreiung!

Einleitung: Schattendasein

Links- und Rechtshändigkeit sind angeboren. Viele Forscher gehen davon aus, dass fünfzig Prozent der Menschen Linkshänder und fünfzig Prozent Rechtshänder sind. Dennoch waren Linkshänder immer in der Minderheit. Jahrhundertelang wurden sie unterdrückt und auf die rechte (Schreib-)Hand umerzogen. Bis in die Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts war es in der Schule üblich, linkshändige Kinder zum Schreiben mit rechts anzuhalten. Sowohl in der ehemali-gen DDR als auch in der Bundesrepublik wurden Linkshänder umgeschult. Deshalb gibt es heute so viele linkshändige Erwachsene, die von der Umerziehung betroffen sind. Doch auch derzeit noch werden viele linkshändige Kleinkinder hierzulande sanft auf das „richtige“ Händchen umgewöhnt.

Welche Folgen die Unterdrückung der angeborenen Linkshändigkeit für die Betroffenen haben kann, ist allgemein immer noch zu wenig bekannt. Die Problematik des unterdrückten Linkshänders wird weder von der Medizin noch von Psychologie und Pädagogik wirklich ernst genommen. Unterdrückte erwachsene Linkshänder führen mit ihren Problemen eine Art Schattendasein: Aus offizieller wissenschaftlicher Sicht gibt es sie nicht. Die Rückschulung auf die linke (Schreib-)Hand gilt nicht als ernst zu nehmender Prozess. Von Ärzten und Psychotherapeuten wird er entweder bagatellisiert oder es wird davon abgeraten.

Seit meiner eigenen erfolgreichen Umstellung auf die linke Hand arbeite ich als Psychotherapeutin schwerpunktmäßig mit umgeschulten Linkshändern. Ich teste Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf ihre Händigkeit, berate sie und begleite sie bei der Rückschulung. Mit diesem Buch möchte ich aufzeigen, dass eine Befreiung aus der Unterdrückung auch im Erwachsenenalter möglich ist und wie eine Hinwendung zur angeborenen Linkshändigkeit gelingen kann. Ich will unterdrückten Linkshändern, die ernsthaft nach einem Ausweg aus ihrem Dilemma suchen, Mut machen, diesen Weg zu gehen, und sie darin unterstützen.

Persönliche Erfahrungsberichte von mir selbst und anderen Betroffenen geben dabei wichtige Einblicke in die Situation unterdrückter Linkshänder – und zeigen, wie sich das Leben eines Menschen zum Positiven verändern kann, wenn er beginnt, seine Linkshändigkeit wieder zu leben.

Händigkeit und Hemisphären

Wie viel Prozent der Bevölkerung geborene Linkshänder sind, kann niemand mit Gewissheit sagen, denn gerade unter Erwachsenen gibt es hierzulande nach wie vor viele umerzogene Linkshänder. Manche von ihnen wissen nicht einmal, dass sie eigentlich linkshändig sind. Erfreulich ist aber, dass es heute schon mehr sogenannte belassene Linkshänder gibt als noch vor zwanzig Jahren. Das hängt damit zusammen, dass zumindest in der Schule nicht mehr auf die rechte Schreibhand umerzogen wird. Wenn heute ein Lehrer sieht, dass ein Kind den Stift in die linke Hand nimmt, respektiert er das in der Regel. Linkshändige Kinder werden beim Schreibenlernen mit links zwar meist noch nicht unterstützt und eher sich selber überlassen, aber kein Schulkind in Deutschland wird heute mehr zum Schreiben mit rechts gezwungen.

Bei Linkshändern dominieren biologisch determiniert die linke Hand und die rechte Gehirnhälfte. Bei Rechtshändern verhält es sich, ebenso biologisch determiniert, genau umgekehrt: Die rechte Hand und die linke Gehirnhälfte dominieren.

Handdominanz bedeutet, dass es eine angeborene Rollenaufteilung zwischen beiden Händen gibt: Die dominante, „starke“ Hand ist die Arbeits- oder auch Führungshand, die nicht dominante, „schwache“ ist die Hilfs- oder Halte-hand. Die Führungshand hat mehr Kraft, Ausdauer und ist feinmotorisch geschickter als die Hilfshand. Die dominante Hand reagiert schneller, ist aus-drucksfähiger, und mit ihr zu hantieren, zu malen, zu schreiben und zu musizieren erzeugt subjektiv ein gutes Gefühl.

Händigkeit bedeutet immer auch Dominanz einer Gehirnhälfte. Das Gehirn besteht bekanntlich aus zwei Hemisphären, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Beide Gehirnhälften sind durch den sogenannten Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden und arbeiten normalerweise reibungslos zusammen. Linkshänder haben, wie gesagt, ihre angeborene Dominanz in der rechten Gehirnhälfte, Rechtshänder in der linken. Wenn ein Linkshänder mit seiner dominanten Hand schreiben lernt, werden die dafür notwendigen Bewegungsabläufe von der rechten Gehirnhälfte gesteuert und kontrolliert. Beim Rechtshänder steuert die linke Gehirnhälfte diese Bewegungsabläufe. Wenn man sich die unterschiedlichen Funktionen beider Gehirnhälften anschaut, wird verständlich, wieso Linkshänder anders sind als Rechtshänder.

Die linke Gehirnhälfte ist für das lineare, abstrakte, logisch-rationale Denken zuständig, ebenso für den verbalen Ausdruck und das Zeitempfinden. Aktivität und Schnelligkeit sind ebenfalls in der linken Hemisphäre verankert. Zugespitzt könnte man sagen, dass sie die „männliche“ Seite der Menschen repräsentiert. Die rechte Gehirnhälfte hingegen ist für den nonverbalen Ausdruck zuständig, für das konkrete, ganzheitliche und räumliche Denken, für Subjektivität, Kreativität und Spiritualität. Die visuelle Wahrnehmung und das Melodiengedächtnis sind ebenfalls Funktionen der rechten Hemisphäre, genauso wie Emotionen und soziales Empfinden, aber auch Langsamkeit und Passivität. Wiederum zugespitzt ausgedrückt: Die rechte Gehirnhälfte repräsentiert die „weibliche“ Seite der Menschen.

Bei jeder Tätigkeit sind stets beide Gehirnhälften beteiligt, dennoch gibt es aufgrund der Hemisphärendominanz Unterschiede zwischen Links- und Rechtshändern.

Vielfältige Störungen durch unterdrückte Linkshändigkeit

Bei einem Neugeborenen ist die Anlage zur Links- oder Rechtshändigkeit noch nicht sichtbar, doch bereits der Säugling trägt sie in sich. In den ersten Lebensmonaten ist sein Verhalten von frühkindlichen Reflexen bestimmt und er muss zunächst einige motorische Entwicklungsschritte durchlaufen, bevor sich die angeborene Händigkeit zu zeigen beginnt. Nach neun bis zehn Monaten vermag der Säugling meistens schon zielgerichtet nach einem Gegenstand zu greifen, etwa nach seinem Fläschchen, einem Spielzeug oder einer Hand. Hier zeigt sich dann erstmals seine Händigkeit: Der Linkshänder greift bevorzugt mit links, der Rechtshänder mit rechts. Viele Eltern, die ich bezüglich der ungeklärten Händigkeit ihres Kindes beraten habe, erinnerten sich daran, dass ihr Kleinkind bevorzugt die linke Hand benutzt hatte. Diese Bevorzugung ließ dann zugunsten der rechten Hand nach und verschwand fast komplett, sobald das Kind regelmäßig in die Krippe oder Kindertagesstätte gebracht wurde.

Wenn Linkshänder gezwungen werden, mit rechts schreiben zu lernen, kann es zu Beeinträchtigungen im Lern- und Leistungsbereich sowie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung kommen. Das Schreiben mit der Hand ist feinmotorisch und mental eine sehr komplexe Tätigkeit – viel anspruchsvoller als beispielsweise Zähneputzen, Kämmen oder Bügeln. Wenn ein Linkshänder solche praktischen Tätigkeiten mit rechts durchführen muss, fühlt sich das vielleicht nicht gut oder stimmig an, aber es sind lösbare Aufgaben. Muss ein Kind jedoch mit der nicht dominanten Hand schreiben, so muss es eine extreme, widernatürliche Anpassungsleistung vollbringen. Das ist nicht nur anstrengend, sondern bedeutet für viele Betroffene eine permanente feinmotorische Überforderung.

Schulkindern schmerzt beim Schreiben oft die Hand, vor allem dann, wenn sie mehrere Seiten vollschreiben müssen. Mit der rechten Hand kann sich meist kein richtiges Gefühl für den Stift entwickeln, die Kraftdosierung misslingt. Oftmals erkennt man umgeschulte Linkshänder schon daran, dass sie beim Schreiben viel zu stark aufdrücken. Die nicht dominante Hand kann die dominante niemals ersetzen, sie bleibt trotz allen Übens immer nur ein zweitklassiger Ersatz.

Die Umerziehung auf rechts wirkt sich auch auf die Zusammenarbeit beider Gehirnhälften störend aus. Wenn der Linkshänder nicht mit seiner dominanten Hand schreiben lernt, wird die dominante rechte Gehirnhälfte gleichfalls unterdrückt: Sie darf nicht am Lernen teilnehmen, obwohl beim Linkshänder gerade diese Hemisphäre die entscheidende ist. Die Umerziehung zwingt das Kind, seinen spontanen rechtshemisphärisch gesteuerten Impuls, die linke Hand zu benutzen, zu unterdrücken. Stattdessen muss es auf die linke Gehirnhälfte umschalten. Daher muss ein linkshändiges Kind, das mit rechts zu schreiben lernt, jedes Mal zuerst umdenken, bevor es zu schreiben oder zu hantieren beginnt. Das führt in vielen Fällen zu einer verlangsamten Reaktion – einem typischen Kennzeichen unterdrückter Linkshänder.

Die nicht dominante linke Gehirnhälfte wird durch die Umerziehung einseitig belastet beziehungsweise überlastet. Betroffene Kinder ermüden deshalb schneller und können sich nicht so gut konzentrieren. Vielen fällt es schwer, sich Lerninhalte einzuprägen und längerfristig zu merken. Eine Umerziehung auf rechts bedeutet für das Gehirn eine permanente Überforderung.

Das Gefühl, leistungsmäßig überfordert zu sein, war auch mir nur allzu vertraut. Es begann mit der Einschulung, und mit dem Wechsel aufs Gymnasium wurde es zu einem inneren Dauerzustand: Zu diesem Zeitpunkt begann ich, rechtshändig Geige zu lernen.

Die meisten umerzogenen linkshändigen Kinder, die ich auf ihre Händigkeit getestet habe, machten auf mich den Eindruck, als hätten sie bereits die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit erreicht. Besonders überfordert wirkten die Kinder, die gleichzeitig rechtshändig ein Musikinstrument lernten.

An rechtshändige Eltern, die mich mit ihrem Kind in meiner Praxis aufsuchen, richte ich etwa diese Bitte: „Stellen Sie sich einmal vor, dass Sie anspruchsvolle Tätigkeiten wie Schreiben oder Musizieren mit ihrer ‚schwachen‘ linken Hand erlernen müssten.“ So können sie sich in die schwierige Situation ihrer umgeschulten linkshändigen Kinder besser hineinversetzen.

Die linke Hand bleibt beim Linkshänder immer die starke und die rechte Gehirnhälfte immer die dominante. Deshalb ist es grundsätzlich möglich, noch im Erwachsenenalter wieder mit links schreiben zu lernen. Und deshalb kann man linkshändige Kinder zwar auf der Verhaltensebene zu Pseudo-Rechtshändern umerziehen – ihre angeborene Händigkeit lässt sich dadurch aber nicht verändern. Körperlich und tief im Innern bleibt ein Linkshänder immer ein Linkshänder; seine Art, zu denken oder Probleme zu lösen, wird stets mehr von seiner rechten als von der linken Gehirnhälfte bestimmt.

Die Umerziehung auf die rechte Hand bedeutet psychologisch gesehen eine Selbstentfremdung, die den Linkshänder von seinen Stärken und Begabungen abschneidet.

Feinmotorische Probleme

Die konkreten Schwierigkeiten beginnen für viele umerzogene Linkshänder, wenn sie mit der für sie falschen Hand schreiben lernen müssen. Die meisten von ihnen drücken mit rechts unwillkürlich sehr stark auf und halten den Stift verkrampft. Vielen dieser Kinder sieht man die Kraftanstrengung regelrecht an. Sie erfassen intellektuell, was sie aufs Papier bringen sollen. Aber schon bei einzelnen Buchstaben kann die Umsetzung schwierig werden: Die einen haben Mühe, überhaupt die Linie im Heft zu treffen, anderen gelingt es nicht, einen Buchstaben ordentlich und schön hinzuschreiben, auch wenn sie noch so viel üben. Jedes intelligente und lernwillige Kind hat eine klare Vorstellung von dem, was es schreiben oder malen will. Die Frustration darüber, dass die rechte Hand die Idee nicht umsetzen kann, wird immer größer, je öfter sich diese Erfahrungen wiederholen.

Ein typisches Beispiel ist ein sechsjähriger Junge, den ich kurz vor der Einschulung auf seine Händigkeit getestet habe. Er hatte viele Ideen im Kopf und wollte mir mit rechts ein kompliziertes Labyrinth aufmalen – dabei war er eindeutig ein unterdrückter Linkshänder. Er fing fröhlich an, aber nach wenigen Minuten wurde sein Dilemma sichtbar: Seine rechte Hand konnte die Linien einfach nicht so hinbekommen, wie er sich das vorgestellt hatte. Die Enttäuschung über sein Unvermögen wuchs und entlud sich schließlich fast in einem Tobsuchtsanfall. Seine Mutter und ich mussten ihn festhalten, sonst hätte er Teile meiner Praxiseinrichtung zerstört. Dann weinte er nur noch. Ich konnte seine Wut und Enttäuschung gut nachempfinden. An ähnliche Situationen und Befindlichkeiten erinnern sich viele erwachsene umerzogene Linkshänder aus ihrer eigenen Kindheit. Die feinmotorischen Probleme und die extremen Gefühlsausbrüche können sich meist weder Lehrer noch Eltern erklären. Und natürlich kann sich auch das Kind selbst dazu nicht äußern und einen Zusammenhang zu seiner Umerziehung herstellen.

Das Schreiben mit rechts bleibt immer eine feinmotorische Überforderung. Die meisten erwachsenen umgeschulten Linkshänder schreiben höchst ungern mit der Hand und sind froh, wenn sie auf den Computer ausweichen können.

Beeinträchtigte Lern- und Leistungsfähigkeit

Nicht alle umerzogenen Linkshänder haben massive feinmotorische Probleme. Dafür leiden sie jedoch meist noch im Erwachsenenalter unter anderen Beeinträchtigungen ihrer Lernfähigkeit, vor allem unter Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Andere haben Lese- und Rechtschreibprobleme oder eine Rechenschwäche; auch diese Beeinträchtigungen bleiben meist bis ins Erwachsenenalter bestehen.

Immer mehr Kinder und auch Erwachsene geraten heutzutage in den Verdacht, ADS oder ADHS zu haben. Manche nehmen dann Medikamente. Bisher hat es die Forschung versäumt, unterdrückte Linkshändigkeit als mögliche Ursache für dieses Störungsbild in Betracht zu ziehen.

Ich habe etliche Kinder und Erwachsene, bei denen dieser Verdacht nahelag oder denen bereits ADS oder ADHS bescheinigt worden war, auf ihre Händigkeit getestet. Die meisten von ihnen waren umerzogene Linkshänder. So auch ein achtjähriger Junge, der überdurchschnittlich musikalisch war und im Kinderchor seiner Grundschule sang. Bei den Proben mussten die Kinder meistens stehen; jedes hatte sein eigenes Notenblatt. Dieser Junge war kaum in der Lage, ruhig zu stehen und sich auf seine Noten zu konzentrieren. Er hampelte nur herum und konnte das Blatt nicht ruhig halten. Für die Chorleiterin war er eine echte Herausforderung; sie war es dann auch, die die Eltern auf eine mögliche Linkshändigkeit ihres Sohnes aufmerksam machte. Nach der erfolgten Rückschulung ist der Junge heute wie ausgewechselt. Seine musikalischen Fähigkeiten konnte er seither viel besser entfalten. Er kann jetzt in den Chorproben ruhig stehen, sich voll auf seine Noten konzentrieren und mit unbeeinträchtigter Begeisterung singen.

Auch Sprachstörungen wie Stottern oder Stammeln sowie Rechts-/Links-Unsicherheit können durch die Umerziehung auf die rechte Schreibhand entstehen. Wie sehr Stottern das Leben eines Menschen beeinträchtigen kann, wird eindrucksvoll in dem Film „The King‘s Speech“ dargestellt. Auch King George VI., der Vater von Queen Elisabeth II., war ein umgeschulter Linkshänder und hat nur dank der einfühlsamen jahrelangen Unterstützung durch seinen Sprachtherapeuten dieses Problem einigermaßen kompensieren können.

Die Beeinträchtigungen im Lern- und Leistungsbereich lassen sich allein durch Nachhilfe und Förderunterricht oder lerntherapeutische Maßnahmen nicht beheben. Man kann die rechte Hand eines Kindes nicht zur starken umtrainieren, sie bleibt immer die nichtdominante Hand und kann die linke nie ersetzen. Dasselbe gilt für die linke Gehirnhälfte.

Identisch mit sich selbst

Vielen Betroffenen im Erwachsenenalter ist die Erfahrung, dauerhaft mit sich selbst identisch zu sein, durch die Umerziehung auf rechts abhandengekommen. Welche tiefgreifenden Auswirkungen die Rückschulung auf ihre Psyche haben kann, spüren sie meist bereits nach kurzer Übungszeit. Die Umstellung auf links kann die verlorengegangene Verbindung zu uns selbst wiederherstellen.

„Die Rückschulung ist ja wie innerlich nach Hause kommen“, beschrieb eine Frau ihren Prozess, tief erschüttert und dankbar zugleich.

„Ich bin jetzt sicher, dass ich nur durch das Schreiben mit links endlich zu mir selbst finden kann“, so äußerte sich eine andere, fast 45-jährige Frau über ihre Erfahrungen nach wenigen Wochen Rückschulung. Sie hatte seit Jahren vergeblich durch Psychotherapie einen Zugang zu sich selbst gesucht und sich dann für den Händigkeitstest bei mir entschieden. Allein schon durch das Aus-probieren mit links während des Tests bekam sie eine Ahnung davon, welche Möglichkeiten ihr die Rückschulung eröffnen könnte.

„Ich habe das Gefühl, wirklich bei mir zu sein, wenn ich mit links übe, außerdem bekomme ich dann immer ganz warme Füße. Das fühlt sich sehr gut und stimmig an“, erzählte mir eine Frau, die ich eine Zeitlang telefonisch begleitete. Ganz andere, für mich völlig neue und unerwartete Erfahrungen machte ich bei meiner Rückschulung: Das Schreiben war nicht anstrengend, sondern entspannend. Es lockte mich jeden Tag an den Schreibtisch. Die Selbstfindung gelang schrittweise, ausschließlich durch das praktische Tun, jeden Tag ein bisschen mehr. Durch den Akt des Schreibens mit links fügte sich spürbar etwas in mir zusammen.

Besonders in den ersten Wochen der Umstellung auf links hatte ich während des Übens so manche kleine Sternstunde. An etlichen Tagen hatte ich beispielsweise das Gefühl, dass sich in meinem Gehirn etwas zu verändern begann, dass quasi eine neue Ordnung hergestellt wurde. An anderen Tagen fühlte ich mich in meinem Körper so richtig zu Hause – ein mir bis dahin unbekanntes Gefühl. Dann stellte sich wieder das deutliche Identitätsgefühl ein, das ich bis dahin nur in seltenen, von meinem Alltag abgetrennten Moment erlebt hatte. Jede dieser Erfahrungen bestätigte mir, dass ich endlich auf dem richtigen Weg war.

Meine Erfahrungen während des Übens entfalteten mehr und mehr eine nachhaltige Wirkung. Ich spürte recht bald, dass ich mich in einem Veränderungsprozess befand, der mich psychisch und energetisch ziemlich in Anspruch nahm. An manchen Tagen war ich sehr müde, aber trotzdem glücklich. An anderen Tagen erlebte ich einen Energiezuwachs wie niemals vorher.

Altes loslassen und Neues wagen

Erwachsene Linkshänder können durch die Rückschulung so viel Mut bekommen, dass sie sich trauen, etwas Neues zu wagen, etwa in ihrem Beruf.

Eine Frau Ende fünfzig, die ich eine Zeitlang bei ihrer Umstellung auf links begleitete, war in ihrem damaligen Beruf schon lange sehr unzufrieden gewesen. Ihr war aber nichts eingefallen, was sie stattdessen machen wollte. Doch als rückgeschulte Linkshänderin kam sie auf die Idee, wie ihr nächster Schritt aussehen sollte. Sie wollte freiwillig in Frührente gehen, wohlwissend um die finanziellen Einbußen, die ihr dadurch entstehen würden. Sie fühlte deutlich, dass sie zunächst Zeit für sich selbst und ihre innere Umstellung brauchte. Dabei wollte sie sich keinesfalls schon zur Ruhe setzen; dafür fühlte sie sich viel zu fit und zu jung. Sie wollte einfach frei sein, um herausfinden zu können, was sie wirklich interessierte und in welchem Bereich sie tätig sein wollte.

Da sie ahnte, dass ihre Absicht, sich vorzeitig berenten zu lassen, bei ihrem Arbeitgeber nicht so einfach durchzusetzen war, bat sie mich, sie mit einem Gutachten zu unterstützen. Ich freute mich für die Frau, die mit Ende fünfzig den Mut hatte, noch einmal etwas ganz anderes zu versuchen, und unterstützte sie gerne.

Immer wieder habe ich auch erlebt, dass Studenten mich während ihrer Rückschulung um Unterstützung baten, weil sie merkten, dass sie das falsche Studienfach gewählt hatten. Durch die Umstellung auf links hatten sie herausgefunden, was sie wirklich interessierte, und wollten so schnell wie möglich den Studiengang wechseln. Dabei spielte es für sie keine Rolle, wie viele Semester sie vorher mit dem falschen Fach vergeudet hatten. Sie wollten nur endlich das machen können, was ihrem inneren Interesse entsprach.

Ein kreativ hochbegabter Student hatte sein Psychologiestudium schon fast beendet, als er merkte, dass ihn dieses Fach eigentlich nicht interessierte. Er wollte Filme machen und auf einer Filmhochschule das nötige Handwerk lernen. Ich ermutigte ihn, seiner inneren Stimme zu folgen und sich bei mehreren Filmhochschulen zu bewerben. Endlich getraute er sich und wurde dann recht bald an einer Hochschule angenommen.

Nicht alles war ganz falsch

Nicht alle umerzogenen Linkshänder haben einen vollkommen falschen Beruf gewählt. Manche erkennen im Laufe der Rückschulung allerdings, dass sie sich für einen anderen Schwerpunkt ihrer bisherigen Tätigkeit interessieren und dort viel besser aufgehoben sind.

So erging es einer Frau, die in einem mittelständischen Unternehmen gearbeitet hatte und wegen eines Burn-Out Syndroms länger krankgeschrieben war. In dieser Zeit hatte sie sich bei mir gemeldet und unter meiner Begleitung die Umstellung auf links begonnen. Dadurch ging es ihr innerlich deutlich besser, und sie freute sich darauf, als Linkshänderin in ihren Beruf zurückzukehren. Während ihrer Abwesenheit hatte ein Kollege ihren Tätigkeitsbereich übernommen und sich darin so profiliert, dass der Chef ihn dort belassen wollte. Der Frau wurde eine andere Tätigkeit zugewiesen, die sich zu ihrer Überraschung als die absolut richtige erwies.

„Sie glauben gar nicht, wie froh ich mit meiner jetzigen Tätigkeit bin. Sie gefällt mir viel besser“, erzählte sie mir. „Sie ist vielleicht nicht ganz so anspruchsvoll wie meine vorherige Aufgabe, aber sie macht mir einfach Spaß. Ich habe das Gefühl, dass ich hier genau richtig bin. Ich muss mich natürlich erst einarbeiten, aber das finde ich nicht schlimm. Ein Kollege, der etwas Ähnliches macht, hat mir angeboten, dass ich ihn immer fragen kann, wenn ich etwas nicht weiß. Auch der Chef hat mir gesagt, dass ich ihn ruhig fragen kann. Und das Schöne ist, dass ich jetzt wirklich frage, wenn ich allein nicht weiterkomme. Vor meiner Rückschulung habe ich mich das nie getraut, sondern immer versucht, alles allein herauszufinden. Das hat mich sehr angestrengt und mich so viel zusätzliche Arbeitszeit gekostet, dass dieses Verhalten mit zu meiner Erkrankung beigetragen hat.“

Der Aufbau meiner Arbeit mit umgeschulten Linkshändern war einerseits vollkommen neu für mich, andererseits aber auch vertrautes Gelände. Neu war, dass ich mir eine eigene inhaltliche Position erarbeiten musste, etwa zu der Frage, wie ich in der Testung von umgeschulten Linkshändern oder auch in der Begleitung während der Rückschulung vorgehen wollte. Auf meiner Website fand diese Position dann erstmalig ihren Ausdruck.

In der konkreten Arbeit mit Betroffenen konnte ich jedoch auf eine fast zwanzigjährige einzeltherapeutische Berufserfahrung mit Kindern und Erwachsenen zurückgreifen. Es war für mich immer selbstverständlich gewesen, mich auf jeden einzelnen Menschen einzustellen, mit dem ich zu tun hatte. Und diese Wertschätzung jeder Person floss von Anfang an in meine neue Tätigkeit mit ein.

Wenn ich bei Betroffenen – seien es nun Kinder, Jugendliche oder Erwachsene – eine verdeckte Linkshändigkeit feststelle, möchte ich ihnen diese Einschätzung nicht einfach überstülpen. Mir ist es wichtig, dass sie verstehen, wie ich dazu komme. Vor allem aber sollen sie aus eigenem Erleben bemerken, dass einiges mit links besser und leichter geht als mit rechts. Das subjektive Wohlgefühl, dass Betroffene bei der Benutzung der linken Hand erleben können, ist ein ganz wichtiger Schritt bei der Annäherung an die eigene Händigkeit und trägt oft entscheidend dazu bei, dass sie sich selbstbestimmt für die Rückschulung entscheiden.

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