Rezension: „Irren ist menschlich“ von Klaus Dörner et al. (Hg.)

Bei diesem Buch handelt es sich um die Neuauflage eines Klassikers, von dem ich schon während meines Studiums gehört hatte. Wie bei jedem anderen „Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie“, begann ich nun also damit, zunächst nur ausgewählte Kapitel zu lesen. Das führte allerdings zu einer nicht unbeachtlichen Irritation. Überschriften, wie bspw. „Der sich und Andere niederschlagende Mensch“, lösten sie aus. Die Art der Annäherung an die verschiedenen Störungsbilder verstärkten sie im weiteren Verlauf maßgeblich. Obwohl es mir irgendwie gefiel, wie die Erlebniswelten der Betroffenen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wurden, musste ich mir eingestehen, dass ich den Sinn dieser – zumindest in Teilen – ungewöhnlichen Sichtweisen nicht auf Anhieb verstand. Zugänglich wurden sie mir erst nach dem Lesen der Einleitung bzw. der „Gebrauchsanweisung“. Also fing ich nochmals von vorne an…

So erfuhr ich, dass hier von einer „Begegnungs-Psychopathologie“ die Rede ist, bei der insbesondere der therapeutischen Haltung eine wesentliche Rolle beigemessen wird. Das, was (auch in den folgenden Kapiteln) hierzu geäußert wird (z. B. dass Therapeuten und Therapeutinnen lediglich günstige Rahmenbedingungen für eine Selbst-Therapie der Betroffenen schaffen und somit ein „Sich-Wahrmachen“ ermöglichen können), fand nicht nur meine Zustimmung, sondern führte mich hier und da sogar dazu, das Verständnis meiner eigenen (beruflichen) Rolle abermals zu reflektieren. Unterstützt wurde dieser Prozess durch zahlreiche, in die einzelnen Abschnitte eingestreute Fragen, die mir abermals deutlich machten, wie fragil wir Menschen mit unseren Wirklichkeitskonstruktionen eigentlich sind. Wie viele glückliche Fügungen sind dafür nötig, um psychisch stabil bzw. gesund zu bleiben? Lassen sich die manchmal befremdlichen Reaktionen, die mit einer Symptombildung einhergehen, nicht allesamt als Bemühungen des Individuums auffassen, mit den nahezu unausweichlichen Widrigkeiten des Lebens irgendwie zurechtzukommen? Bedeutet es eventuell lediglich, an einer (mehr oder weniger offensichtlich) ungünstigen Überlebensstrategie festzuhalten, wenn man psychisch erkrankt?

Eine detaillierte Inhaltsangabe möchte ich Ihnen hier nun ersparen. Sie werden diese sicher an anderer Stelle finden. Für bedeutsamer halte ich es, auf die Beschreibungen jener Umstände aufmerksam zu machen, die im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung zur Ausprägung ganz unterschiedlicher Störungsbilder führen können. Getreu dem Titel „Irren ist menschlich“, wird beim Lesen dieses Buches verständlich, warum wir Menschen manchmal dazu neigen bzw. dazu veranlasst werden, die Pfade des Normalen zu verlassen. Am Beispiel des „sich und Andere aufbrechenden Menschen“, was für eine Manie steht, wird dies deutlich: „Wer manisch wird, hat ein paar Grundprobleme der Existenz schon gelöst und sich bereits ein Stück weit auf die realen Probleme des Erwachsenendaseins einlassen können, steht schon im Bruch mit der Tradition, dabei allerdings Angst machend statt in Angst lebend“ (S. 289). Ein „erstickter Unabhängigkeitswunsch“ und unterdrückte Angst, die die Betroffenen innerlich traurig und verzweifelt und sie gleichzeitig immer dranghafter und übertriebener werden lässt, kann irgendwann zu einer Explosion führen, also zu einem „unzurechnungsfähigen“ Zustand, in dem sich die entsprechenden Gefühle und Bedürfnisse in einer erschreckenden Klarheit offenbaren. Da das sicher jeder von uns (wenigstens ansatzweise) kennen bzw. selbst erfahren haben dürfte, wird spürbar, wie schmal der Grat zwischen einer „gesunden“ und einer „psychopathologisch bedenklichen“ Entwicklung ist. Das gilt ebenso für die meisten anderen Erkrankungen, denn wer hat nicht (wenigstens) schon einmal andere „in Versuchung geführt“ oder „niedergedrückt“?

Vielleicht mögen einzelne Passagen ein wenig befremdlich wirken und sich die Herleitungen der Symptome nicht eins-zu-eins mit der Selbstwahrnehmung der Betroffenen in Einklang bringen lassen, dennoch eröffnen sie aufgrund ihres ungewöhnlichen Stils zahlreiche Möglichkeiten einer Annäherung, die sich auf angenehme Weise von jenen unterscheiden, die ich aus anderen Lehrbüchern kenne. Obwohl bereits zu Beginn erläutert wird, dass sich psychische Krankheiten nicht allein auf besondere Gene oder entgleiste Stoffwechselstörungen reduzieren lassen, werden auch diese Aspekte sowie die damit in Verbindung stehenden (psychiatrischen und psychotherapeutischen) Interventionsstrategien kritisch beleuchtet. Somit eignet sich die Lektüre sowohl für Fachleute, wie auch für die Betroffenen selbst sowie für ihre Angehörigen.

Fazit: „Irren ist menschlich“ berührt, inspiriert und verstört zugleich. Die Autoren scheinen sich jederzeit mit Erfolg darum bemüht zu haben, komplexe Sachverhalte so darzustellen, dass sie (auch für Laien) verständlich sind und dennoch jene fachliche Tiefe haben, die man von einem Lehrbuch erwarten darf. Mir hat es jedenfalls sehr gut gefallen. Beeindruckt hat mich auch die Offenheit, mit der z. B. am Ende des Kapitels über die Depression eingestanden wurde, dass man – trotz aller wissenschaftlicher Bemühungen, die Bedingungen ihrer Entstehung zu erforschen – eigentlich nicht genau wisse, warum Menschen depressiv werden. „Wer sich [also] auf psychisch erkrankte Menschen wirklich einlässt, wird in der Psychiatrie das spannendste Fach der Medizin, in der klinischen Psychologie den vielfältigsten Ausdruck der Psychologie, in der Fachpflegeausbildung oder in vergleichbaren Spezialisierungen einen Zugang zum ganzen Menschen finden“ (S. 37). Diesem Zitat wird dieses Buch m. E. jedenfalls in jeglicher Hinsicht gerecht.

Quelle:

  • Klaus Dörner, Ursula Plog, Thomas Bock, Peter Brieger, Andreas Heinz, Frank Wendt (Hg.). Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie (24. Auflage). Psychiatrie Verlag, 2017.

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