“Die erste Bindung” von Nicole Strüber

Die Einleitung („Was wollen wir?“) geht an die Adresse der Eltern. Der Rest des Buches aber auch an alle anderen, die mit Kindern zu tun haben, und manchmal mit deren Eltern. […] Und auch an alle, die einmal Kinder waren, und sich fragen, warum sie so sind wie sie sind. Diese Frage kann das Buch zwar nicht beantworten, vielleicht aber den einen oder anderen Impuls zum Nachdenken liefern.

Dr. Nicole Strüber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen.

Was wollen wir?

Alles beginnt mit einem kleinen roten Streifen auf Weiß. Manchmal ist er auch lila. Aber immer zeigt er sich bereits wenige Sekunden, nachdem wir die Angelegenheit mit der Probenentnahme hinter uns gebracht haben.

Dieser banale kleine Akt verändert alles. Wir wissen nun: Wir sind der Ursprung neuen Lebens. Kaum fassen können wir das. Wir werden Eltern sein! Mutter. Vater. Wie es wohl wird, das Kleine? So wie ich? So wie mein Partner? […] Wie wird sich mein Leben ändern? Werde ich eine gute Mutter sein? Ein guter Vater? Wir sind aufgeregt und wollen gut vorbereitet sein. Gleich von Anfang an alles richtigmachen. Kaum ist der Teststreifen getrocknet, beginnt es zu rattern. Zumindest für die werdenden Mutter unter uns. Was muss ich bedenken und vor allem, welche Konsequenzen hat es für das Kind, wenn ich etwas bedenke? Oder nicht bedenke? Entscheidungen stehen an, Fragen tauchen auf. Wie muss ich mich in der Schwangerschaft verhalten? Beeinflusst das, was ich tue, mein Kind?

Und werden wir als Eltern nach der Geburt alles bewältigen können? Wir wissen, dass die Fürsorge unseres Babys mehr benötigt, als die bloße Nahrungszufuhr und ein wenig Licht und Ruhe. Kinder sind keine Topfpflanzen. Kinder brauchen Liebe. Liebe, Nahe und Zeit. Wie werden wir alles zeitlich managen? Wo stehen wir beruflich? Können wir so weitermachen wie bisher? Oder wird einer zu Hause bleiben? Wenn ja, wer? Aber vielleicht können wir unser Kind ja auch früh in die Krippe geben? Schon bald nach der erstmaligen Betrachtung des rot-lila Streifens drangt sich diese letzte Frage immer mehr und immer beharrlicher in unser Bewusstsein. Schließlich will das Thema ja bereits während der Schwangerschaft geklärt sein. Der Arbeitgeber mochte es wissen und der Anmeldebogen für die Krippe wurde auch schon gerne auf dem Stapel der ersten Eingange liegen.

Ein wenig Angst haben wir vielleicht auch, vor all dem, was kommt. Was, wenn nicht alles so gut läuft wie geplant? Wenn wir es doch nicht schaffen, uns während der Schwangerschaft den Stress auf Abstand zu halten, die Geburt nicht optimal verläuft, es mit dem Stillen nicht so recht klappen will? Wird dies unser Kind unwiederbringlich negativ beeinflussen? Das wollen wir nicht.

Vielleicht kriegen wir auch ein Schreibaby. Himmel, nein. Kinder schreien, Kinder schlafen schlecht. Zumindest manche. Wir sind nicht die erste Generation, in der Kinder dies so handhaben. Erst hieß es, man dürfe sich keinen kleinen Despoten heranziehen, der bereits im Säuglingsalter die Familie zu tyrannisieren weiß. Heutzutage haben wir mehr Verständnis für die Bedürfnisse des Kindes. Gleichzeitig werden wir aber mit der Notwendigkeit konfrontiert, auf allen Ebenen perfekt zu sein. Perfekte Mutter, lieb und fürsorglich; perfekte Arbeitnehmerin, zuverlässig, wach und strukturiert; perfekte Ehefrau, gutaussehend, rückendeckend und sportlich. Ach ja, kochen sollen wir auch noch können. Und zwar vom Bio-Babybrei bis zum Rindercarpaccio fur die Gäste. Und für den Vater gilt all dies inzwischen ebenso. Wo bleibt da das schreiende Kind? Wie lernt ein Kind, vernünftig und im Einklang mit seiner Umwelt zu agieren? Und vor allem wann? Und wie können wir unser Kind darin unterstützen, eine hohe Bindungsfähigkeit aufzubauen und gute Stressbewältigungsstrategien sowie eine hohe soziale Kompetenz zu entwickeln?

All diese Fragen wollen beantwortet sein und hierfür soll dieses Buch Denkanstöße liefern. Denkanstöße, die auf der aktuellen psychologischen Forschung und der Bindungstheorie beruhen, ebenso wie auf dem Wissen um ein Organ, das all den beschriebenen Fragen, überhaupt jeglichem menschlichen Verhalten, zugrunde liegt: dem Gehirn.

Es wird darum gehen, dass sich diese geheimnisvolle Struktur, die gerne Schokolade mag und sich vor Spinnen fürchtet, die Liebe fühlt und wütend werden kann, aus einem einfachen kleinen Zellhaufen entwickelt. Darum, dass sich das Gehirn wahrend seiner Entwicklung an seine Umwelt anpasst, in einer stetigen Wechselwirkung mit den Genen des dazugehörigen Menschen. Ich werde darauf eingehen, dass es die tief im Gehirn erzeugten Emotionen sind, die über die Ausschüttung chemischer Substanzen unbewusst und mächtig unser Handeln anleiten und deren frühe Prägung unser dauerhaftes emotionales Erleben und unsere spätere Bindungsfähigkeit beeinflusst. […].

In Kapitel 3 werde ich die zuvor beschriebenen Prinzipien der Hirnentwicklung mit Inhalten füllen, werde erläutern, wie die Gene, die wir als Mutter und Vater unseren Kindern mitgeben, seine kleine Persönlichkeit beeinflussen und welche Bedeutung vorgeburtliche Erfahrungen dafür haben. Dabei geht es nicht darum, ob das Baby Mozart oder Avicii, Coldplay oder Adele hört, sondern um Stresserfahrungen. Darum, wie Stresshormone vom Blut der Mutter in den Kreislauf des Kindes wandern und dort die kindliche Entwicklung prägen. Es geht auch um die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen und darum, ob es überhaupt Unterschiede gibt und wenn ja, was es ist, das Mädchen mädchenhaft und Jungen jungenhaft macht. Geboren werden sie wiederum alle. Wie das ablauft, ob natürlich oder als geplanter Kaiserschnitt, kann das Baby und sein Temperament auch langfristig erheblich beeinflussen. Ebenso wie die Muttermilch. Wobei vermutlich nicht nur die Muttermilch selbst von Bedeutung ist, sondern auch das Kuscheln und die Nähe beim Stillen. Denn das Gehirn wird dadurch von einem Stoff überschwemmt, der uns das ganze Buch hindurch begleiten wird: dem Oxytocin.

Eben schwamm das Baby noch im körperwarmen und schützenden Fruchtwasser, nun ist es draußen, in der kalten Welt – für die es eigentlich noch viel zu klein, viel zu schwach und unreif ist. Es braucht Nahrung, Warme und Liebe, eine sensible und zuverlässige Fürsorge, damit sich die Nervenzellen optimal vernetzen können und das innere chemische Milieu ein ausgewogenes Gleichgewicht findet. Sobald das Baby mobil wird und beginnt, seine Umwelt zu erkunden, benötigt es darüber hinaus ein sicheres Band, das es mit seinen Bezugspersonen verbindet und ihm Schutz und Geborgenheit in der unvorhersehbaren Umwelt gewährleistet. Ist das Band, die Bindungsbeziehung, sicher und stark, versetzt dies das Gehirn in einen optimalen Lernzustand. Stressfrei kann das Baby alles über die Gesetzmäßigkeiten seiner neuen Umwelt lernen. Es lernt, dass Dinge von oben nach unten fallen, wenn man sie loslasst, es lernt, dass sich sein Verhalten innerhalb bestimmter Grenzen bewegen muss, man die gefüllte Salatschüssel nicht einfach loslassen darf, damit sie von oben nach unten fallt. Es lernt seine eigene innere Welt kennen. Es lernt, das große Repertoire menschlicher Emotionen auseinanderzuhalten, zu benennen und zu identifizieren. Und es lernt die Bedeutung des sozialen Miteinanders, von Rücksicht, Empathie und Vertrauen kennen. Es entwickelt sich zu einer emotional stabilen, bindungsfähigen und sozial kompetenten Persönlichkeit. Wie wird all dies im Gehirn realisiert? Welche Substanzen und Netzwerke sind daran beteiligt? Und vor allem: Wie prägen Eltern diese Netzwerke? Darum wird es in Kapitel 4 gehen. Aber auch darum, dass manchmal nicht alles so einfach ist.

Nicht immer läuft es so, wie wir es gerne hatten: Wir setzen einen großen Topf auf den Herd, geben eine wunderbare und stressfreie Schwangerschaft hinein, eine natürliche Geburt, erfüllende Stillerfahrungen, eine feinfühlige und aufopfernde Mutter, einen sensiblen und sorgsamen Partner. Wir rühren kräftig um, streuen eine gute Portion Liebe drauf und warten, bis alles gebunden ist. Wann läuft es denn so optimal, nun mal ehrlich?

Manchmal kommen Kinder mit einem Temperament auf die Welt, das es den Eltern schwermacht, immer feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen. Oft ist dies der Fall, wenn die Schwangerschaft von erheblichem Stress überschattet und die Geburt dramatisch war. Das Stillen will nicht funktionieren, das Baby schreit ununterbrochen und das eigene Belohnungssystem überlegt vorübergehend, ob eine Tafel Schokolade in der Badewanne nicht einfacher gewesen wäre, als gleich ein Kind zu bekommen. Wenn es auch schwierig ist, scheint es dennoch so zu sein, dass insbesondere diese reizbaren Kinder mehr als andere eine feinfühlige und verlässliche Bezugsperson benötigen. Gelingt es ihnen, eine sichere Bindung aufzubauen, können sich gerade diese Kinder ausgesprochen gut entwickeln.

Die wichtigste, wenn auch nicht die einzige Quelle von Liebe, Schutz und Geborgenheit ist für das Kind zunächst die Mutter. Sie lernt das Kind bereits wahrend der Schwangerschaft kennen, an ihrer Brust wird es gestillt. Im mütterlichen Gehirn ist alles auf die Zeit mit dem Baby vorbereitet. Dort sprudelt es vor Oxytocin. Dieser Stoff hilft ihr, die Signale des Babys zu lesen, mit ihm zu fühlen und angemessen zu reagieren.

Doch was passiert genau im weiblichen Gehirn, wenn es zum mütterlichen Gehirn wird? Wie passt sich das Gehirn an die neue Rolle an? Und was ist mit den Vätern? Abgesehen von dem unglücklichen Umstand, dass Vater rein technisch nicht stillen können, gibt es weitere Unterschiede zwischen Frau und Mann, zwischen Mutter und Vater. Oder gibt es sie nicht? Sind Männer mit ihrem mit Testosteron angereicherten Blut ebenso gut in der Lage, auf die Bedürfnisse kleiner Kinder einzugehen wie Frauen? Auf diese Fragen werde ich in Kapitel 5 eingehen. Ich werde erklären, dass sich die Natur für die Vater einen ganz besonderen Mechanismus einfallen lassen hat – der allerdings nicht bei jedem gleich gut funktioniert.

Die Feststellung, dass nicht alle Mutter, nicht alle Vater gleich sind, ist grundsätzlich enorm wichtig. Mutter und Vater werden in ihrem Verhalten und in ihren Fähigkeiten von ihren eigenen Genen und ihren eigenen Erfahrungen geprägt. Dies kann manchmal eine problematische Bedeutung bekommen, nämlich dann, wenn Eltern ihre eigenen Traumatisierungen noch nicht verarbeitet haben oder unter erheblichem chronischen Stress leiden. Schlimm wird es, wenn negative Auswirkungen früher Erfahrungen über epigenetische Mechanismen von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Teufelskreise generationsübergreifender Störungen können entstehen. Glücklicherweise gibt es auch Engelskreise, in denen sich die Fähigkeit zu fürsorglichem und liebevollem elterlichen Verhalten von einer Generation auf die nächste übertragt. […]

Was bedeuten die psychologischen Befunde und die Erkenntnisse aus der Hirnforschung für die Eltern? Für all die zu treffenden Entscheidungen? Wie lange soll die Mama zu Hause bleiben? Kann der Vater ein Mutterersatz sein? Oder ist und bleibt ein Vater ein Vater? Wann geben wir unser Kind in die Krippe? Kann eine Krippenbetreuerin ein Mutterersatz sein? Sind Krippen gut für die Kinder, gut um soziale Kompetenzen zu erlernen, um möglichst frühzeitig das Gehirn auf die schwierigen sozialen Manöver vorzubereiten, mit denen es auch später konfrontiert sein wird? Oder benötigt das Baby hierfür seine Mama? Seinen Papa? Uns schwant die tiefgreifende Bedeutung dieser Entscheidungen und wir haben doch nicht lange Zeit, darüber nachzudenken. Um uns herum, das merken wir, gibt es verschiedene Meinungen. Und in uns drinnen, dort, wo die Intuition zu Hause ist, ebenso. Wir wollen doch alles richtig machen. Für uns, für unsere kleine Familie und für unser Ungeborenes. Kapitel 6 soll mit Denkanstößen aus Hirnforschung und Psychologie die Beantwortung dieser Fragen erleichtern.

Was bedeutet all dies für die Gesellschaft, und auch für die Politik? Darum wird es in einem Ausblick gehen. Darf ich mich als Mutter überhaupt noch entscheiden, mein Kind nicht früh abzugeben? Auf dem seit einigen Jahrzehnten von uns Frauen beschrittenen Weg zur Gleichstellung einfach stehen bleiben, mich auf dem roten Sand der Laufbahn, kurz vor dem Ziel hinsetzen, mit dem Baby auf dem Arm und dem Kochlöffel in der Schürze?

Die entgegengesetzte Frage ist: Nehmen wir das kindliche Gehirn und seine Bedürfnisse ernst genug? Die Möglichkeit, unsere Kinder frühzeitig betreuen zu lassen, ist eine Chance für uns Frauen. Aber ist die Gesellschaft darauf vorbereitet? Haben wir genügend Ressourcen, damit dieser Weg den Kindern nicht schadet? Oder ist der derzeitig gegangene Weg zu kurz gedacht, zu übereilt realisiert? Ist es wirklich das, was wir selbst wollen? Wir alle?

Quelle:

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