Rezension: „Spirituelle Intelligenz“ von Julius Kuhl

Cover - Spirituelle IntelligenzPsychologie und Religion – sind das nicht zwei vollkommen unterschiedliche Welten? Ist ein Dialog zwischen ihnen möglich oder sogar sinnvoll – und wie kann er aussehen bzw. funktionieren? Was haben religiöse Vorstellungen mit unserer Persönlichkeitsstruktur zu tun? Welche Ursachen gibt es für die weit verbreitete „epistemische Apartheid“ bzw. für den „Kalten Krieg im Kopf“ und was sind ihre bzw. seine möglichen Folgen?

Meine Begeisterung für die PSI-Theorie von Prof. Dr. Julius Kuhl steckt zwar noch in den Kinderschuhen, da ich sie gerade erst für mich entdeckt habe, dennoch halte ich sie für die großartigste Persönlichkeitstheorie, die ich kenne. Dieses Buch verdeutlichte mir noch einmal, wie viel Potenzial in ihr steckt. Um mit den Worten des Autors (S. 287) zu sprechen: „Eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung wird gefördert durch das Zusammenkommen von Ich und Selbst, Denken und Fühlen, Wissen und Glauben. Um immer wieder dasjenige Gleichgewicht zwischen diesen Erkenntnisformen zu finden, das für eine authentische Selbstentwicklung wichtig ist, braucht es einen beständigen Dialog zwischen dem logisch denkenden Ich und dem ganzheitlich fühlenden Selbst.“

Obwohl in diesem Buch Bezug auf die Arbeiten zahlreicher Philosophen (Immanuel Kant, Søren Aabye Kierkegaard etc.) genommen wird, die Analytische Psychologie von Carl Gustav Jung eine wichtige Rolle spielt, zahlreiche wissenschaftliche (experimentalpsychologische) Studien dargestellt sowie etliche Inhalte der Bibel zitiert bzw. erkenntnistheoretisch beleuchtet werden, wobei hier und da auch Querverweise zu Eugen Drewermann hergestellt werden, kann man es sehr gut lesen, auch ohne entsprechende Vorkenntnisse haben zu müssen.

Dem Vorwurf, dass die Texte von Julius Kuhl nur schwer verständlich seien, kann ich mich nicht ohne Weiteres anschließen. Zwar ist auch „Spirituelle Intelligenz“ sicher keine einfache Lektüre, allerdings bemüht sich der Autor wirklich sehr darum, verstanden zu werden, indem er bspw. wichtige Begriffe wiederholt erläutert. So bleibt einem das ewige Nachschlagen erspart, wie ich es aus anderen Büchern kenne („Was meinte der Autor noch mit XY?“). Überrascht hat mich Prof. Kuhl zudem dadurch, dass sogar sein Schreibstil enorm dazu beiträgt, die Kommunikation zwischen den verschiedenen Systemen (vgl. PSI-Theorie), die im vierten Kapitel detailliert erläutert werden, zu unterstützen. Die Tatsache, dass ich einzelne Passagen nicht auf Anhieb verstanden hatte oder wesentliche Gedanken nicht sofort nachvollziehen konnte, weil ich manchmal dazu neige, zu schnell zu lesen, unterstützte jedenfalls die Aktivierung meines Objekterkennungssystems: Ich musste mich also häufiger bremsen und auf Details (bzw. auf jedes einzelne Wort) konzentrieren, bevor ich fortfahren konnte. Die Mühe hat sich aber in jedem Fall gelohnt!

Äußerst gut gefallen haben mir jene Abschnitte, in denen er sein Modell mit verschiedenen psychotherapeutischen Ansätzen verknüpft. Auf einigen Seiten erschien es mir sogar fast so, als würde ich gerade etwas von Fritz Perls (Gestalttherapie) oder von Steve de Shazer (Lösungsorientierte Kurzzeittherapie) lesen. Berührt haben mich übrigens auch seine (nicht nur „funktionsanalytischen“) Aussagen über das „Vater unser“. Insbesondere der Teil, in dem es um die Vergebung der Schuld geht, hat mich persönlich sehr angesprochen: „Gerade bei dem komplexen Schuldthema ist es wichtig, auf eine Ebene zu gelangen, die alle Erkenntnisse zu den eigenen Schwächen ganzheitlich fühlbar macht, so dass man die gewonnenen Einsichten unmittelbar in das eigene Handeln einfließen lassen kann.“ Diesem Zitat (S. 269) habe ich nichts hinzuzufügen!

vergib-uns-unsere-schuldMein Fazit? Auch Psychologen ist es möglich und erlaubt, gläubig zu sein, ohne sich dafür rechtfertigen oder sogar schämen zu müssen. Wer daran zweifelt, sollte dieses Buch unbedingt lesen. Mich hat es jedenfalls überzeugt und begeistert.

Julius Kuhl (2015). Spirituelle Intelligenz. Glaube zwischen Ich und Selbst. Verlag Herder.

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