Ich möchte mich nicht mit den biographischen Einschränkungen der eigenen Selbstfindungen beschäftigen. Das scheint mir eh routinemäßig und im Übermaß zu geschehen. Die Grundannahme, dass Freiheitseinschränkungen in so weitgehendem Maße durch internalisierte Beziehungserfahrung verursacht werden, ist mir zunehmend fragwürdig geworden. Hier kommen mindestens allerlei Passungsschwierigkeiten zwischen Eigenarten und Ambitionen und kontextgeeigneten Ausdrucks- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten hinzu. Das Ringen auch auf unausgegorene Weise mit solcher Selbstentfaltung kann zwar auch zu schwierigen Beziehungserfahrungen führen, wird aber nicht primär durch schlechte Beziehungserfahrung verursacht. z.B. verweist das Adlersche Konzept des Minderwertigkeitskomplexes auf nicht befriedigend bewältigte Herausforderungen aller Art hin. Folgt man dieser Idee, dann geht es eher darum, die liegengelassenen und durch Problemerleben und -verhalten ersetzten Herausforderungen wieder zeit- und kontext-geeignet zum Thema zu machen.
Mein Interesse richtet sich also auf frei für mehr als auf frei von. Und frei für hat etwas mit Eignung, Kompetenzen, geeignete Milieus, angemessene Unterstützung, komplementäre Interessen und Wirklichkeitsinszenierungen zu tun. Dabei ist es natürlich wichtig (oft verschüttete) Gütekriterien und seelische Ausrichtungen auch aus der Biographie kennenzulernen. Wir tun dies in vielfältigen Spiegelungsübungen, in denen wir uns gegenseitig Inspiration und Konfrontation liefern. Andere stellen ihre Intuitionen für Entwicklungen zur Verfügung, die Resonanz erzeugen. Resonanz zwischen dem Gewohnheits-Ich des Gegenübers und den Bildern möglicher Entwicklung, die in anderen aufsteigen. Dadurch kommen automatisch Selbstkonzepte als soziale Konstruktionen mit ins Spiel. Geschieht ein solcher Austausch in gemeinsamen Lebensfeldern, wie etwa bezogen auf berufliche Rollen, dann hat das den Vorteil, dass andere komplementär handeln und damit die Etablierung neuer Wirklichkeiten kontextgemäß unterstützten können. Z.B. können andere deutlich machen, dass sie brauchen, dass jemand nachhaltig Zuverlässigkeit zeigt, um seine tollen Ideen würdigen zu können und aufzeigen, was das konkret in beruflichen Beziehungen in bestimmten Feldern heißen würde. Das ganze ist abzugleichen mit inneren Bildern, was wir z.B. durch Bilder-Interviews, geleitete Phantasie und Traumdialoge tun. Begegnet jemand auf diese Weise unerledigten Entwicklungs- oder Ergänzungsaufgaben und stellt sich diesen Herausforderungen, verlieren in der Regel biografische Belastungen an Gewicht. Vorwiegend Ablöse-Bemühungen können auch binden. Neufindung kann entbinden. Durch Befreiung für wird man frei von.
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Dr. Bernd Schmid ist Leitfigur des isb-Wiesloch www.isb-w.eu, der Schmid-Stiftung http://schmid-stiftung.org/ und des International Network for Organization Development and Coaching www.inoc-network.org. Essays unter www.blog.bernd-schmid.com. Er ist u.a. Ehrenvorsitzender Präsidium DBVC, Ehrenmitglied der Systemischen Gesellschaft, Preisträger des EATA-Wissenschaftspreises 1986 und des Eric Berne Memorial Award 2007 der Internationalen TA-Gesellschaft, Life Achievement Award 2014 der deutschen Weiterbildungsbranche.