Die Integration des Unliebsamen

Gibt es Facetten der eigenen Persönlichkeit, die zwar im hohen Maße charakteristisch für einen sind, die allerdings immer wieder zu Konflikten – mit sich selbst oder mit anderen Menschen – führen, ist es sinnvoll, sich mit ihnen zu befassen, um sie so integrieren zu können, dass sie sich weniger dysfunktional auswirken. Das Ziel dabei sollte jedoch nicht nur eine vordergründige Selbstoptimierung sein, sondern … Was denken Sie?

Das Modell des Inneren Teams von Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun ist m. E. besonders hilfreich, um sich seiner verschiedenen Persönlichkeitsanteile bewusst zu werden und mit ihnen besser zurechtzukommen, d. h. sich mit ihnen in einer sich stetig verändernden Lebenswelt zu arrangieren. Angelehnt an den Begriff des „Selbst“ geht Schulz von Thun davon aus, dass es in jedem Inneren Team ein sogenanntes Oberhaupt gibt, welches darum bemüht sein sollte, die unterschiedlichen Interessen der Teammitglieder „unter einen Hut“ zu bringen“, die verschiedenen Anteile also synergetisch zusammenzuführen, Polarisierungen aufzulösen und abgespaltene Mitglieder zu integrieren. Im dritten Teil von „Miteinander Reden“ erläutert er, worauf es dabei ankommt:

„Die eine Spur ist nach außen gerichtet, sucht den situativen Kontext auf: Welches sind seine Bestandteile, wie hängen sie miteinander zusammen? Welche Gebote und Forderungen sind darin enthalten, so dass Kommunikation ‘situationsgerecht’ ausfallen kann? Die andere Spur ist nach innen gerichet, sucht den inneren Kontext des kommunizierenden Subjekts auf: Wer meldet sich in ihm und möchte sich zur Geltung bringen? Mit welcher Äußerung wäre es ‘in Übereinstimmung mit sich selbst’? Welche inneren Gebote und Forderungen werden laut und wollen, damit die Kommunikation ‘authentisch’ sei, berücksichtigt sein?“

Vielleicht haben Sie bereits die Erfahrung machen dürfen, dass es dauerhaft nicht unbedingt sinnvoll ist, unliebsame Persönlichkeitsanteile zu unterdrücken oder sie komplett vom bewussten Erleben abzuspalten? Sie also einfach „in die Wüste zu schicken“, ist meiner Ansicht nach jedenfalls keine gute Idee. Doch wie kann man sie „zähmen“ oder – besser gesagt – integrieren?

Bild: Manfred Evertz

Die Vorgehensweise, die Tom Diesbrock zum Beispiel für den Umgang mit dem inneren Kritiker vorschlägt, ist in diesem Zusammenhang äußerst hilfreich. Sie lässt sich m. E. in vier Schritten zusammenfassen:

  1. Verstehen: Was macht diesen Anteil aus? Warum ist er entstanden? Wie hat er sich entwickelt? Warum hat er es auf diese Weise getan? Was will er?
  2. Akzeptieren: Das Modell des Inneren Teams von Friedemann Schulz von Thun hilft dabei, inneren Anteilen eine Gestalt zu geben, um mit ihnen in einen Dialog zu kommen. Das Alter, in dem man war, als die betreffenden Anteile zum ersten Mal in einem auftauchten, spielt dabei m. E. eine zentrale Rolle: Welche Möglichkeiten hatte ich damals? Warum habe ich mich seinerzeit für eine bestimmte „(Verhaltens-)Strategie“ entschieden? Da sich Vergangenes – also auch die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit – nicht ungeschehen machen lässt, stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, Frieden damit und mit sich selbst zu schließen? Eine innere Haltung, die geprägt ist von (Selbst-)Akzeptanz, kann im hohen Maße dazu beitragen, gemäß der Formel: Leid = Schmerz x Widerstand.
  3. Würdigen: Jeder Persönlichkeitsstil dient der Umsetzung bestimmter Motive oder der Befriedigung gewisser Bedürfnisse. Sind die Lebensumstände, in denen ein Kind aufwächst, eher ungünstig oder die Beziehungserfahrungen, die es macht, konfliktträchtig, ambivalent oder unzureichend liebevoll, lernt es, irgendwie in dieser Welt, in der es aufwachsen muss, zu überleben und entwickelt dafür dienliche Reaktions- und Verhaltensmuster, die manchmal extreme Formen annehmen können. Auch wenn diese später zu Problemen führen, waren sie in einer früheren Entwicklungsstufe in einem spezifischen Millieu vermutlich im hohen Maße nützlich bzw. funktional. Das darf man ruhig auch anerkennen bzw. würdigen.
  4. Integrieren: Heute haben wir im Vergleich zu unserer Kindheit andere Möglichkeiten, für uns zu sorgen und Halt zu finden. Das innere Kind in uns (bzw. ein damit korrespondierender Persönlichkeitsanteil) versucht jedoch manchmal noch, genau das zu tun, was damals funktioniert hat. Das ist eine Art Automatismus, dem wir allerdings nicht ausgeliefert sind. Wir können diesen „Reflex“ nämlich stoppen und uns bewusst für ein anderes Reaktions- bzw. Verhaltensmuster entscheiden, das uns heute im reiferen Alter zur Verfügung steht. Metaphorisch ausgedrückt: Ich nehme mein inneres Kind an die Hand und zeige ihm, wie man das als Erwachsener macht. Prof. Dr. Julius Kuhl würde dazu wohl in etwa Folgendes sagen: “Wir können lernen, unsere emotionale Erstreaktion wahrzunehmen, und uns daraufhin selbst regulieren, d. h. eine emotionale Zweitreaktion zu etablieren.”

Meinen eigenen inneren Kritiker habe ich auf diese Weise übrigens schon vor einigen Jahren ganz gut integrieren können. Die seelischen Konflikte, die ich wegen dieses Anteils hatte, sind seither tatsächlich kaum noch spürbar. Das hat mich damals überrascht, weil ich bis dahin schon sehr viel ausprobiert hatte, aber mit keiner der von mir gewählten Strategien so erfolgreich war, wie mit dieser.

Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass ein solches Vorgehen (Verstehen → Akzeptieren → Würdigen → Integrieren) grundsätzlich sinnvoll ist, wenn es darum geht, sich mit “unliebsamen” Persönlichkeitsanteilen zu arrangieren. 

Literaturhinweise:

  • Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden 3 – Das „Innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation. Sonderausgabe, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011 (Die Originalausgabe erschien erstmals 1981).
  • Tom Diesbrock (2011). Hermann! Vom klugen Umgang mit dem inneren Kritiker. Patmos Verlag.

Weitere Werke von Manfred Evertz finden Sie hier: www.manfred-evertz-art.com

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