In „Motivation und Persönlichkeit“ beschreibt Prof. Dr. Julius Kuhl seine integrative Persönlichkeitstheorie, die Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (PSI-Theorie). Dieses Buch ist 2001 erschienen, also in dem Jahr, in dem ich mein Psychologie-Studium abgeschlossen habe. Zwar hörte ich bereits damals davon, dass es so etwas wie eine Lage- und eine Handlungsorientierung gibt, die PSI-Theorie war mir seinerzeit jedoch noch nicht bekannt. Inzwischen ist das vorliegende Werk schon ein richtiger Klassiker.
Worum es darin geht, wird auf den Seiten 66 bis 67 kurz erläutert: Nachdem in den ersten beiden Kapiteln Beispiele für Themen und Fragestellungen der Persönlichkeitspsychologie und die Besonderheiten des in diesem Buch verfolgten Ansatzes dargestellt werden, wird im nächsten Kapitel mit dem Aufbau der Persönlichkeit begonnen. Zunächst geht es in Kapitel 3 darum, jene Fragen zu identifizieren, die durch eine funktionsanalytisch konzipierte Persönlichkeitstheorie beantwortet werden sollen. Aus den verschiedenen Persönlichkeitstheorien werden die zentralen Erklärungsbegriffe herausgelöst und zu einer Liste funktionsanalytisch explizierbarer Grundbegriffe zusammengestellt, woraus sich sieben Funktionsebenen der Persönlichkeit ergeben. In Kapitel 4 werden die zentrale Grundbegriffe diskutiert und klassische Persönlichkeitskonstrukte, Basisdimensionen der Persönlichkeit und typologische Taxonomien aus einer einheitlichen Prozesstheorie abgeleitet. Im 5. Kapitel geht es um die Theorie der willentlichen Handlungssteuerung, wobei die sieben Modulationsannahmen eine zentrale Rolle spielen. Daraufhin folgt in Kapitel 6 eine detaillierte Darstellung der affektmodulierten Willensfunktionen, woraufhin es in Kapitel 7 um eine Funktionsanalyse der Befunde zu aktuellen Themen der Persönlichkeitsforschung geht (objektive versus selbstwertschützende Informationsverarbeitung, Selbstaufmerksamkeit, Selbstdarstellung, Erwartungen, Dissonanzreduktion etc.). Es folgen die Kapitel 8 bis 14, in denen die verschiedenen Systemebenen vor dem Hintergrund empirischer Befunde ausführlich erörtert werden.
Es ist schon einige Jahre her, als ich beschloss, mich mit den Grundzügen des Modells vertraut zu machen, um darüber in Seminaren sprechen zu können. Im Laufe der Zeit habe ich allerhand Texte gelesen, die im Zusammenhang mit dem Modell erschienen sind, wodurch ich mir zum Beispiel allmählich immer besser erklären konnte, warum verschiedene psychotherapeutische Interventionen manchmal einfach nicht funktionieren. Spannend fand ich auch einen Text des Autors (PSI-Impuls), in dem nach den möglichen Ursachen für eine Prokrastination geschaut wurde. Obwohl ich in meinen Beratungen bislang äußerst selten mit diagnostischen Verfahren gearbeitet habe, begann ich mich deshalb immer mehr für sein Modell der Persönlichkeitsstile zu interessieren.
Was ist ein Persönlichkeitsstil? In diesem Modell wird davon ausgegangen, dass die Umsetzung von Motiven durch Affekte moduliert wird, und zwar durch den Einfluss, den Affekte auf die Aktivierung jener kognitiven Systeme ausüben, die dafür gerade benötigt werden. Psychische Systeme konfigurieren sich – je nach situativen Anforderungen und in Abhängigkeit von der aktuellen Bedürfnislage eines Individuums – immer wieder neu. Diese Systemkonfigurationen werden als Formen der Motivumsetzung betrachtet, die mehr oder weniger adaptiv sein können. Affektive und kognitive Einseitigkeiten – wie sie bei den Persönlichkeitsstörungen unterstellt werden – können demzufolge zu enormen Problemen führen. Demzufolge werden Persönlichkeitsstile und ihre pathologischen Übersteigerungen in der PSI-Theorie als stabile bzw. chronische Varianten entsprechender kurzfristig auftretender Systemkonfigurationen verstanden. Statt einseitiger Defizitorientierung ermöglicht das dimensionale Konzept der Persönlichkeitsstile nun aber zugleich einen ressourcenorientierten sowie einen problemorientierten, therapeutischen Zugang, indem jeder Persönlichkeitsstil in seinen Stärken und Schwächen dargestellt und als subjektiv sinnhafte Anpassungs- und Überlebensstrategie in spezifischen Sozialisationskontexten verstanden wird. Die durch den jeweils vorherrschenden Persönlichkeitsstil erklärbaren emotionalen (Erst-)Reaktionen treten zwar spontan auf (abhängig vom Temperament, den vorherrschenden Motiven, den konditionierten Reaktionsmustern etc.), sie lassen sich im Nachhinein aber durch selbstgesteuerte Affektregulation beeinflussen (emotionale Zweitreaktion). Je geübter eine Person darin ist, desto weniger ist sie einem Persönlichkeitsstil „ausgeliefert“.
„Das PSSI ist ein Selbstbeurteilungsinstrument, mit dem die relative Ausprägung von [14] Persönlichkeitsstilen erfasst wird. Diese sind als nicht-pathologische Entsprechungen der in den psychiatrischen diagnostischen Manualen DSM-IV und ICD-10 beschriebenen Persönlichkeitsstörungen konzipiert.“ (Hogrefe Verlag)
Um die Hintergründe und Charakteristika dieser Persönlichkeitsstile besser zu verstehen und fundiert über sie sprechen zu können, besorgte ich mir nun also das besagte Buch. Angefangen zu lesen habe ich deshalb mit den Kapiteln 15 und 16, in dem neun Persönlichkeitsstile bzw. die verschiedenen Persönlichkeitsstörungen erklärt werden. Schon beim Blick ins Inhaltsverzeichnis stellte ich enttäuscht fest, dass einige Stile, die das PSSI erfasst, hier überhaupt nicht auftauchten. Daraufhin begann meine Odyssey durch das tausendseitige Buch, bei der ich mithilfe des Schlagwortverzeichnisses nach sämtlichen Informationen suchte, die ich zur Erklärung heranziehen konnte. Relativ oft stolperte ich dabei über Begriffe und Zusammenhänge, die an anderen Kapiteln des Buches erklärt wurden, die ich daraufhin las. Immer wieder zogen mich einzelne Passagen aus den Kapiteln 8 bis 14 so sehr in ihren Bann, dass ich für Herausarbeitung der Charakteristika der verschiedenen Persönlichkeitsstile eine gute Woche benötigte. Besonders spannend waren für mich die funktionsanalytischen Erklärungen hinsichtlich der verschiedenen Bewältigungs- bzw. Verdrängungsstile sowie alles, was mit den Themen Selbstkontrolle, Selbstregulation und Volitionshemmung zu tun hatte. Gleiches galt auch für das 17. Kapitel, in dem es um die Entwicklung der Persönlichkeit ging, d. h. um ihre Prägung sowie ihre spätere Ausgestaltung.
Immer wieder sah ich mich dazu veranlasst, mein Wissen über das ein oder andere psychologische Konstrukt (Temperament, Wille etc.) nochmals aufzufrischen, um zum Beispiel in Seminaren auf etwaige Fragen antworten zu können, ohne dabei allzu sehr ins Stocken zu geraten. Ebenfalls musste ich zahlreiche Definitionen verschiedenster Fachbegriffe nachschlagen, was aber vermutlich in erster Linie daran lag, dass ich beim Lesen in dem Buch wild umhergesprungen bin. Manchmal habe ich mir dann die Frage gestellt, ob man gewisse Dinge nicht auch hätte einfacher ausdrücken können? Im Rahmen einiger meiner bisherigen Seminare habe ich es ja schließlich auch geschafft, die Grundzüge des Modells in aller Kürze so zu veranschaulichen, dass es möglich gewesen sein sollte, die Kernaussagen zu verstehen. Wenn ich ehrlich bin, muss ich mir allerdings eingestehen, dass ich im Zuge dessen Vieles sehr stark vereinfacht habe, was gewiss nicht immer optimal war. Die Komplexität der menschlichen Persönlichkeit lässt sich nun einmal nicht ohne Weiteres (d. h. ohne Informationsverlust) auf einfache Muster (wie z. B. auf einen Charaktertyp) reduzieren. Mit anderen Worten: Die PSI-Theorie ist äußerst komplex, was sie manchmal etwas sperrig erscheinen lässt, sie aber auch zu dem macht, was sie ist, nämlich eine der m. E. großartigsten Errungenschaften der Persönlichkeitspsychologie. Hätte ich damals in Osnabrück studiert, wäre sie bestimmt zum Thema meiner Diplomarbeit geworden. Jetzt fühle ich mich – zwanzig Jahre später – wieder wie ein Student, der sich durch ein Lehrbuch arbeitet, in dem zahlreiche Namen und Modelle auftauchen, die mir damals schon begegnet sind. Da mir viele von ihnen leider nicht mehr so präsent waren, wie sie es vielleicht hätten sein sollen, war es hier und da recht mühsam für mich, sämtliche Aussagen des Autors nachzuvollziehen und so zu verinnerlichen, dass ich sie ohne Weiteres korrekt wiedergeben kann.
Inzwischen habe ich übrigens auch das PSSI vom Hogrefe Verlag erhalten, so dass ich überprüfen konnte, inwieweit meine Annahmen über die charakteristischen Merkmale der verschiedenen Persönlichkeitsstile, die ich aus dem Buch extrahiert habe, korrekt waren. Einfacher wäre es vermutlich gewesen, wenn ich diese Möglichkeit schon von Anfang an gehabt hätte. So stand ich nun aber vor der Herausforderung, einige Aspekte zunächst selbst zu durchdenken und auf Grundlage meines bisherigen Modellverständnisses entsprechende Hypothesen abzuleiten. Zwar sind mir dabei hier und da auch Fehler unterlaufen, d. h. Ungenauigkeiten in der Zuordnung von Merkmalen, die sich aus einer spezifischen Systemkonfiguration ableiten lassen, dennoch hat mir insbesondere diese Art der „Gehirnakrobatik“ unglaublich viel Spaß gemacht! Jetzt hoffe ich natürlich, dass es mir künftig gelingen wird, auf Grundlage individueller Profile entsprechende Entwicklungspotenziale bzw. -aufgaben abzuleiten, die für die Betroffenen tatsächlich nützlich sind. Das vorliegende Buch sollte mir dabei jedenfalls eine gute Hilfe sein.
Vermisst habe ich manchmal Schaubilder oder Tabellen, auf denen man sich schnell einen ersten Überblick über die wichtigsten Zusammenhänge verschaffen kann. Hier und da wurden zwar welche eingefügt, die auch – zum großen Teil – nützlich waren, dennoch hätte es m. E. ruhig mehr von ihnen geben dürfen. Das ist aber auch der einzige Kritikpunkt, den ich habe. Die Ausführungen von Prof. Kuhl wirken so, als würde er auf nahezu jeden möglichen Einwand, den man gegen seine Annahmen hervorbringen könnte, bereits eine präzise Antwort parat haben und diese unter Heranziehung empirischer Studien, die er in der Regel kurz skizziert, auch begründen können. Wurden seine Annahmen (noch) nicht empirisch bestätigt, stellt er das immer klar. Das hat mir ausgesprochen gut gefallen!
Das Buch zeichnet sich durch eine extrem hohe Informationsdichte aus. Beim Lesen bin ich jedenfalls immer wieder an die Grenzen meiner Gedächtniskapazität gekommen. Zum Glück gibt es aber ein Glossar, in dem aufgeführt wird, auf welchen Seiten die unterschiedlichen (Fach-)Begriffe thematisiert werden. Voraussichtlich werde ich künftig noch sehr viel Zeit mit diesem Buch verbringen. Die letzten hundert Seiten (Teil V: Anwendung) und etliche andere Abschnitte werde ich mir deshalb erst genauer anschauen, wenn sich mir ein konkreter Anlass dafür bietet oder ich hinreichend intrinsisch motiviert bin, es zu tun.
Wer einen strukturierten und wissenschaftlich fundierten Einblick in die Komplexität der menschlichen Persönlichkeit bekommen möchte und bereit dazu ist, sich auf eine neue (funktionsanalytische) Betrachtungsweise einzulassen, dem sei dieses Buch empfohlen! Die PSI-Theorie führt die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschung aus der Persönlichkeits-, Motivations-, Kognitions- und Entwicklungspsychologie sowie neurobiologische Befunde zusammen und stellt somit eine integrative Persönlichkeitstheorie dar. Mich hat das Modell der Persönlichkeitsstile (ebenso wie die PSI-Theorie) fachlich und persönlich vollkommen überzeugt, auch weil es mir dabei geholfen hat, auf einige Fragen, die mich schon seit Beginn meiner Pubertät beschäftigen, endlich stimmige Antworten zu finden. Jetzt kann ich mir jedenfalls erklären, warum ich mich insbesondere in Phasen, in denen ich Stress oder einer hohen Belastung ausgesetzt bin (also eigentlich fast immer), so eigenartig verhalte.
Prof. Dr. Julius Kuhl (geb. 27.07.1947) vertrat von 1986 bis 2015 den Lehrstuhl für Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung an der Universität Osnabrück und war 2008-2016 Leiter der psychologischen Abteilung der Forschungsstelle Begabungsförderung im Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe). Webseite: www.psi-theorie.com/.
- Julius Kuhl (2001). Motivation und Persönlichkeit. Hogrefe Verlag, Göttingen.
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