“Das Dilemma mit dem Narzissmus” von Wolfram Kölling

Die Theorie des Narzissmus wurzelt in der Triebtheorie von Freud und bleibt deshalb immer irgendwie schwierig, ja manchmal sogar gefährlich. Auch wichtige Nachfolger von Freud, wie beispielsweise Kohut oder Kernberg, haben diese Herkunft letztlich nicht verlassen, und somit bleiben die Probleme weiter bestehen und können in der heutigen Zeit der Postmoderne sogar noch wuchern und wachsen.

Was ist gemeint? Narzissmus wird dort allgemein verstanden als Rückzug der Triebenergie, die Libido genannt wird, von den Objekten auf das Selbst. Dies führt dazu, dass es immer zu zwei möglichen Szenarien kommen kann:

  • Erstens, der Rückzug ist so stark, dass sich im Ich-Selbst eine extreme Aufblähung, also eine Art Grandiosität bilden kann. Dies wird dann oft als böser, kranker oder maligner Narzissmus bezeichnet und man spricht immer auch von Krankheit. Entwertungen, Demütigungen oder Missachtungen und Verobjektivierungen anderer Menschen gehören genauso dazu wie extremes Machtverhalten, Besserwisserei oder eben offene Größenideen.
  • Eine zweite Möglichkeit besteht für den Menschen immer darin, dass er den Triebrückzug auf das Ich-Selbst (wenn er dieses Phänomen überhaupt erkennen kann) als positiv erfährt und somit seinen Narzissmus immer als notwendig, wichtig und gesund betrachtet. So gesehen haben wir dann (scheinbar) immer einen positiven Narzissmus, den wir nicht infrage stellen können, ja, den wir sogar brauchen. Die anderen sind dann immer die Bösen oder die Kranken. Diese Sicht führt sehr oft dazu, dass die schwierigen Anteile des eigenen Narzissmus nicht mehr gesehen werden, die es dennoch immer geben kann und wirklich oft auch gibt.

Ich schlage eine andere Sichtweise vor, bei der nach meiner Überzeugung der erste Blick bereits die Notwendigkeit einer möglichen Veränderung aufzeigt. Dies kann bedeuten, dass der Wandel oder die Veränderung des Narzissmus immer sofort als der eigentliche und tatsächliche Sinn des menschlichen Dasein erkannt wird . Die gilt für den eigenen Narzissmus jedes Individuums, für den Narzissmus des anderen Menschen und für den Narzissmus überall in der Kultur und der Gesellschaft.

Ich betrachte Narzissmus als die Bewegungen und damit auch die Spannungen zwischen den immer vorhandenen (triebartigen) Bestrebungen des Holons Mensch. [Hier wird erläutert, was ein Holon ist: wikipedia.org/wiki/Holon.] Jedes Holon, und damit auch das Holon Ich-Selbst, hat die vier Bestrebungen: 1. Selbsterhaltung, 2. Selbstanpassung, 3. Selbstauflösung und 4. Selbsttranszendenz. Im günstigen Fall kommt es immer wieder zum Ausgleich, zu einer inneren Balance oder einer Art Harmonisierung zwischen den vier Bestrebungen. Es ist eine Spannungstoleranz, die der Mensch braucht und die dazu führt, dass fließende, strömende oder besser gleitende Bewegungen zwischen den Bestrebungen möglich werden. Ich nenne das, ruhiges Gleiten. Die innere Arbeit an diesem “ruhigen Gleiten”, verstehe ich dann als den wirklichen Sinn des menschlichen Lebens.

Durch Erschütterungen des Ich-Selbst auf allen Stufen des Bewusstseins, nach Spiral-Dynamics (SD), von BEIGE bis GRÜN, kommt es jedes Mal zur Schamentwicklung und dadurch zu den Schattenanteilen jeder Stufe.

In meinem Buch “Narzissmus in der Wandlung” beschreibe ich nicht nur sehr ausführlich die Entwicklung der Stufen sondern auch die Erschütterungen und die damit verbundenen pathologischen Entwicklungen. Der Integrale Narzissmus kann sich dann auf jeder Stufe zeigen und für alle Stufen schlage ich sogenannte Einstellungssätze vor, die für eine Wandlung der inneren Einstellungen hilfreich sein können. Das Buch kann somit ein integraler Leitfaden zur Persönlichkeitsentwicklung sein.

Weitere Informationen finden Sie in meinem Buch (siehe unten). Außerdem gibt es Vorträge der Arbeiterkammer Feldkirch bei YouTube sowie mehrere Vorträge auf CD (erhältlich bei www.foerder-kreis.de).

Literaturhinweis:

Wolfram Kölling ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut mit jahrzehntelanger Erfahrung als Gruppen- und Seminarleiter. Er war siebzehn Jahre Leitender Psychologe in einer Psychosomatischen Klinik. Nach intensiven Fort- und Weiterbildungen sowie Selbsterfahrungen u.a. in Kathatym Imaginativer Psychotherapie (KIP), Primärtherapie, Holotropen Atmen, Gestalttherapie und EMDR hat er sich vor allem mit dem Studium schwerer Schamkonflikte und Persönlichkeitsstörungen beschäftigt. In einem eigenen Ansatz der Arbeit mit inneren Einstellungen verbindet er traditionelle Psychotherapie mit den Erkenntnissen einer Integralen Transpersonalen Psychologie.

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