Rezension: „Krisencoaching“ von Ralph Schlieper-Damrich

„Nicht die Krise ist das eigentliche Problem, sondern die zunächst nicht vorhandene Kompetenz, mit ihr umzugehen“ (S. 243).

krisencoachingIn dem im Oktober 2013 bei der managerSeminare Verlags GmbH erschienenen Buch soll das bewusste Handeln in Krisensituationen beleuchtet werden. Ziel ist es, dem Coach Methoden an die Hand zu geben, Menschen bei der Bewältigung von besonderen Belastungssituationen wirkungsvoll zu unterstützen. Die Aussage, dass eine Krise nicht sein müsse, unterstellt einen Missmatch der Bewusstheit der Betroffenen, der sich z. B. mit dem Verfahren der Memetik auflösen lässt. So wird im ersten Abschnitt das auf Ken Wilber und Clare W. Graves beruhende Konzept mittels vieler praktischer Beispiele erläutert. Besonders hilfreich für die eigene Arbeit ist hierbei das tabellarisch dargestellte membasierte Gesprächsprozessmodell, welches dazu dient, dem Klienten auf jeder Mem-Ebene zu einer präventiven Bewusstwerdung seiner Ressourcen- und Gefährdungspotenziale zu verhelfen.

Im weiteren Verlauf werden in dem Abschnitt „Wirklichkeit? sollte sich ändern.“ das Modell von Prof. Dr. Julius Kuhl (Funktionsbereiche des Gehirns für die Handlungssteuerung und das Konzept der Lage- bzw. Handlungsorientierung) sowie das Rubikon-Modell im Hinblick auf ihre Bedeutung für den Coaching-Prozess analysiert und mittels ergänzender Praxistipps nutzbar gemacht. Mittels der Anreicherung einer Vielzahl von Tools und Methoden (wie z. B. der des lauten Denkens, der Problemraummethode von Newell und Simon, Seligmans Disputation der pessimistischen Gedanken, die „Top Five Regrets of the Dying“ von Bronnie Ware sowie diversen Distanzierungstechniken) stellt der Autor ein wissenschaftlich fundiertes und anwendbares Rüstzeug bereit.

Es folgen die Abschnitte „Psyche? braucht Beherrschung.“ und „Ausweg? verlangt nach Sinn.“, die einen tiefen Einblick in das menschliche Erleben und Aufbäumen in einer Krisensituation anhand bekannter Modelle gewähren und ein umfassendes Verständnis der Bewältigungsentwürfe von Klienten ermöglichen bzw. Wege zu ihnen aufzeigen. Im Anschluss daran werden in Anlehnung an das Angstmodell von Riemann und Thomann verschiedene Typen dargestellt, mit denen im Krisencoaching zu rechnen ist, und mittels eines „Sechskant-Krisenschlüssels“ fundamentale Verhaltensmuster von Klienten mit jeweils zweckdienlichen Herangehensweisen des Coaches beschrieben.

Das Phänomen Krise wird daraufhin mittels des Hoffnungs-Handlungs-Modells in einzelne Abschnitte des Coachingprozesses zerlegt. Hierbei wird nacheinander auf das Movens, das Hoffen und auf das Staunen fokussiert und erörtert, welche subtilen Entwicklungen sich in der Wirklichkeitswahrnehmung eines Klienten vollziehen, die dann immer wieder mit Beispielen aus der Praxis untermauert werden. Es folgen Erläuterungen von Regeln, die den Klienten darin unterstützen sollen, in schwierigen Zeiten wieder hoffen zu können, sowie eine Betrachtung der Krise als kompliziert-komplex-dynamisches Phänomen, welches durch die Darstellung des Coaching-Würfels nach Geißler und der des systemischen Krisenwürfels abgerundet wird. Ergänzend folgt eine Auflistung der jeweils zentralen Fragen der Eckpunkte mit prägnanten Fallskizzierungen.

Im zweiten Kapitel wird das Bemühen um die Entwicklung einer allgemeingültigen Krisentheorie diskutiert und es werden Aspekte für die Arbeit mit Betroffenen daraus abgeleitet. Anschließend werden die Modelle von Gerald Caplan und Johann Cullberg vorgestellt und Entwicklungsherausforderungen mittels der Arbeiten von Erik H. Erikson und Erika Schuchardt besprochen. Zur Veranschaulichung der krisenimmanenten Dynamik bzw. des Prozesses der „reflexiven Modernisierung“ werden die 15 Thesen von Ulrich Beck zur Theorie des eigenen Lebens erläutert. Unter Heranziehung einer Studie von Schnell und Becker sowie der Ergebnisse der empirischen Sinnforschung wird daraufhin der Begriff der Sinnerfüllung bezogen auf eine mögliche Bewältigung erörtert. Es folgen ein sehr kurzer Einblick in den Bereich der Krisenpädagogik (Kapitel 3) und eine kleine Sammlung von Instrumenten zur Intervention bzw. Prävention im Krisencoaching (Kapitel 4), beginnend mit einem Überblick funktionaler versus dysfunktionaler Verhaltensweisen. Nützlich erscheinen mir dabei vor allem die pragmatisch ausgerichtete Krisencheckliste sowie ein Fragebogen, der einer vertrauten Person bei einem plötzlichen Ausfall des Klienten dazu dient, seine Interessen vertreten zu können. Als Hilfsmittel für eine Reflexion von Verhaltensmustern und Stressempfindungen der Klienten finden sich hier u. a. die Anspannungs- sowie die Yerkes-Dodson-Kurve.

Nachdem das Buch mit sehr viel Theorie aufgewartet hat und nur einige (wenige) praktische Tools erläutert wurden, folgen in Kapitel 5 unter dem Titel „Krisencoaching in der Praxis“ Beiträge von Anja Gerber-Oehlmann, Antony Kurz und Monica Ockenfels, in denen nach einer kurzen Erläuterung ihres jeweils individuellen Lebenskrisenbezugs Coaching-Prozesse beschrieben werden, die mit zahlreichen sehr wertvollen Tools „gelöst“ wurden. So werden Techniken aus dem Bereich der NLP (Affirmationen, Reframing), die des Re-Imprints von Robert B. Dilts und Timothy Leary, das Chart der Lebenshoch- und -tiefpunkte, Methoden zur Ressourcenaktivierung, die Walt-Disney-Methode, das Mentaltraining von Bender und Draksal, das „Homeplay-Blatt“, Fantasiereisen, Achtsamkeitsübungen, die Methode des inneren Stopp-Schalters, die Portfolio-Arbeit, der 7-Punkte-Plan zur aktiven Stressbewältigung, der Rollenkuchen, die MBSR-Methode, die verhaltenstherapeutische Methode der Stimulus-Kontrolle zur Anwendung bei Schlafstörungen, die Selbst-Fürsorge-Übung des Hand-auf-den-Bauch-Legens, das Schatzkästchen sowie die aus der Gestalttherapie bekannte Intervention des „leeren Stuhls“ praxisbezogen erläutert. Auch finden sich in diesem Abschnitt Hinweise auf nützliche Modelle, wie z. B. die 4 Phasen der Trauerbewältigung von Verena Kast, das Stufenmodell der Krisenintervention von Gerald F. Jacobson, das Pareto-Prinzip und die Abstraktionsleiter nach Chris Argyris, die anschaulich und mit klarem Anwendungsbezug beschrieben werden.

Die ersten 60 Seiten des Buches warfen bei mir zunächst die Frage auf, wie man den dort beschriebenen Ansatz praktisch nutzen könne, was zunächst weitestgehend unbeantwortet blieb. Das Konzept der Meme erschien mir zwar schlüssig, nur konnte ich nicht auf Anhieb erkennen, wie es sich einsetzen lässt. Diese Frage wurde am Ende des Buches durch das Praxisbeispiel von Ralph Schlieper-Damrich auf anregende Weise aufgelöst und damit auch der letzte vermeintliche „Schwachpunkt“ des Buches behoben. Um mit diesem Ansatz allerdings tatsächlich zielführend arbeiten zu können, empfiehlt sich eine weitere Vertiefung, die entweder durch die Lektüre des Buches „Wertecoaching“ oder durch die auf seiner Webseite angebotenen Weiterbildungen vorgenommen werden kann. Auf den letzten Seiten meldet sich der Autor selbst nochmals zu Wort und beschreibt anhand von Fällen aus seiner Praxis Methoden (die Anwendung des Prozesskommunikationsmodells, die Arbeit mit den Wertekarten sowie eine Übung mit dem Titel „spontanes Werteempfinden“), zu denen Links angegeben werden, die auf Webseiten mit seinen Angeboten führen. Um diese also anwenden zu können, bedarf es weiterer Informationen oder Hilfsmittel, die (z. B. von ihm) käuflich erworben werden müssten. Nützlich und auch direkt verwertbar sind seine Hinweise darauf, was im Verlauf eines Krisencoachings zu erwarten ist, sowie eine Anleitung dessen, wie ein solches abgeschlossen werden sollte. Weiter vorn in dem Buch finden sich zudem Leitlinien für die Planung des Prozesses bzw. für die Kontraktphase, mittels derer ein durchgehend professionelles Vorgehen ermöglicht wird.

Als didaktische Anmerkung möchte ich mir erlauben zu konstatieren, dass es für das Verständnis weiter Teile des Buches hilfreich gewesen wäre, vermehrt einzelne Absätze mit Überschriften zu versehen oder am Seitenrand die wesentlichen Aussagen kurz zusammenzufassen. Viele Seiten des Buches musste ich mehrfach lesen, da sie mir zunächst inhaltlich nicht verständlich erschienen oder mir der Sinn der darin enthaltenen Aussagen nicht schlüssig wurde. Nach dem Lesen der Praxisbeispiele war eine Wiederholung der vorherigen Abschnitte deshalb nahezu unumgänglich, da diese ein tieferes Verständnis ermöglichen und dem zunächst sehr theorielastigen Teil jene Tiefe geben, die beim ersten Lesen zwar spürbar ist, allerdings zu vielen Fragezeichen führt. Die Mühe hat sich aber gelohnt. Mittels der beschriebenen Herangehensweise an Krisen und der dargestellten Techniken kann man Klienten wahrhaftig in dem Prozess des „Lessons learned“ unterstützen! Der differenzierte Schreibstil ist dem Thema der Krise durchgehend angemessen. Weder wirkt er belehrend noch bevormundend. Während des gesamten Buches wird das Bemühen deutlich, sich dem schwierigen und komplexen Feld adäquat und vielschichtig anzunähern und Lösungswege für festgefahrene Situationen zu erschließen. Außergewöhnlich und sehr positiv ist zudem, dass man mit dem Kauf des Buches Zugang zu einer Webseite erhält, auf der zahlreiche Informationen und Artikel hinterlegt sind, mittels derer sich die Inhalte (z. B. die Schematherapie und das Konzept der Resilienz) vertiefen lassen.

Mein Fazit: Nicht einfach, aber großartig!

Ralph Schlieper-Damrich (Hrsg.). Krisencoaching. Den Brüchen im Leben kraftvoll trotzen. Bonn: managerSeminare Verlags GmbH (2013).

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