Können Sie sich vorstellen, ein Leben zu führen, ohne dabei persönliche Ziele zu verfolgen? Hat nicht jeder von uns irgendwelche Wünsche oder Sehnsüchte?
Manche Menschen scheitern ausgerechnet dann an der Selbstregulation ihrer negativen Emotionen, wenn sie in die Zukunft schauen bzw. langfristige Ziele verfolgen möchten. Einige greifen dann auf Bewertungsmuster zu, die ihnen Sinn- oder Hoffnungslosigkeit vermitteln und sie handlungsunfähig machen. „Das schaffst DU ohnehin nicht!“ „Das ist (zumindest für Dich) unrealistisch!“ Die Folge ist nicht selten eine getrübte Stimmung. Anderen hingegen scheint es unmöglich zu sein, derartige (persönliche) Ziele überhaupt zu formulieren.
Der PSI-Theorie (Prof. Dr. Julius Kuhl) zufolge soll es für eine funktionale Verhaltenssteuerung sinnvoll sein, eventuelle Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung von Plänen oder Vorhaben auftreten könnten, bereits im Vorfeld zu erkennen und entsprechende Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Ermöglicht wird dies durch ein Aushalten negativer Emotionen verbunden mit der Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf Inkongruenzen (z. B. auf potenzielle Fehler oder Fehlentwicklungen) zu richten (Objekterkennungssystem).
In diesem Zusammenhang können Selbstwertproblematiken eine tragische Rolle spielen. Innere Kritiker oder Richter, also jene Introjekte, die dazu führen können, dass Menschen sich selbst (negativ) bewerten („Ich bin wertlos!“) oder übermäßig kritisieren („Ich habe total versagt!“), gehen nicht selten mit „Denkfehlern“ (Übergeneralisierungen, willkürlichen Schlussfolgerungen etc.) einher, die zwar hartnäckig sein können, sich aber korrigieren lassen. Schwieriger wird es, wenn es darum geht, persönliche Ziele zu formulieren, weil das implizite Selbstwertgefühl vielleicht so konstituiert ist, dass das Selbst diese nicht für sich annehmen kann.
Habe ich als Kind die Erfahrung machen müssen, dass meine Bedürfnisse (bspw. im Rahmen meiner Autonomiebestrebungen) nicht hinreichend beachtet werden, sie im Grunde genommen also “wertlos” sind , kann das dazu führen, dass ich mir eigene Bedürfnisse und Ziele auch als Erwachsender kaum zugestehe. Kurzum: Wie sollte ich mir selbst später Freude oder Lust gönnen können, wenn mir die Erfahrung, dass das okay ist, (weitgehend) verwehrt geblieben ist? Setze ich mir nun persönliche Ziele, bin ich entweder zu egoistisch (woraus ein schlechtes Gewissen folgen kann) oder ich riskiere, nicht mehr liebenswert (also ein „schlechter Mensch“) zu sein. Im Sinne der PSI-Theorie würde das wohl bedeuten, dass sich die Aufmerksamkeit über das System der Objekterkennung (das Objekt wäre ich in diesem Fall selbst) vor allem auf Inkongruenzen richtet („Ich habe es nicht verdient, Spaß am Leben zu haben, weil …“), was dann eben leicht mit Selbstabwertungen und entsprechend negativen Empfindungen (Niedergeschlagenheit bzw. getrübter Stimmung) korrespondiert.
Nach Kuhl führt eine dauerhafte Erhöhung von negativem Affekt zu erschwertem Selbstzugang, der wiederum die Selbstentwicklung behindert. Nicht selten führt die zugrundeliegende Selbstabwertung zusätzlich zu einer Dämpfung der positiven Emotionen. Besonders betroffen ist dann die dem Selbst am nächsten liegende Freude, die Freude einfach da zu sein, den Augenblick zu genießen, sich immer mal wieder die Freiheit zu nehmen, eigene Bedürfnissen oder Zielen Raum zu geben. Dann ist auch die Motivation gedämpft, die erforderlich wäre, um Handlungen zu initiieren, diese persönliche Ziele, die vor einem solchen Hintergrund formuliert wurden, zu erreichen. Entsprechend zielgerichtete Verhaltensweisen werden dann mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit in die Tat umgesetzt. Und sollte es doch dazu kommen bzw. ein wünschenswertes Ziel erreicht werden, löst das wohl eher Selbsttadel anstatt Freude aus.
Während sich das explizite Selbstwertgefühl durch Bewusstmachung eigener Ressourcen, Fähigkeiten oder Erfolge positiv beeinflussen lässt, erreicht man das implizite Selbstwertgefühl mit derlei Argumenten kaum, da es die Selbstbewertung automatisiert und auf Grundlage generalisierter (weitgehend unbewusster) Erfahrungsmuster aus der Kindheit vornimmt. Meiner Ansicht nach scheinen die Einschärfungen und inneren Antreiber (wie sie in der Transaktionsanalyse genannt werden) für das implizite Selbstwertgefühl eine entscheidende Rolle zu spielen. Beispiele hierfür sind „sei nicht“, „sei nicht Du“, „fühle nicht“, „sei nicht wichtig“ oder „sei nicht erfolgreich“.
Um sich für persönliche Ziele hinreichend motivieren zu können, müsste man sich also zunächst die Erlaubnis geben, diese auch erreichen zu dürfen. Ich muss mir also Freude, Glück oder Lust erlauben können. Dazu bedarf es m. E. auch einer emotionalen Zweitreaktion (im Sinne einer Volitions-Komponente), sollte die Erstreaktion negativ ausfallen.
Doch wie nennt man die Fähigkeit, die es hier zu entwickeln gilt? Begriffe wie „Selbstfürsorge“ oder „gesunder Egoismus“ sind mir zu ungenau. Es geht schließlich nicht um die ich-bezogene Handlung selbst, sondern vielmehr um die Güte, die man für sich aufbringt, also um eine wohlwollende Haltung, die man sich selbst gegenüber einnimmt: „Ich darf mir etwas gönnen!“ Verbiete ich mir das hingegen standhaft, werde ich kaum die erforderliche Motivation aufbringen, derlei Ziele überhaupt zu finden ODER (sollten mir doch welche in den Sinn kommen) sie zu realisieren ODER ich werde mich (falls es mir doch einmal gelingt) nicht daran erfreuen können (sondern mich tadeln). Ich bin ja schließlich nicht wichtig – bzw. meine Bedürfnisse sind es nicht. Warum sollte ich mir also etwas gönnen? Warum sollte es mir gut gehen?
Wie nennt man es, wenn man sich selbst etwas gönnt und somit gütig bzw. wohlwollend mit sich umgeht? „Selbstgüte“? Da ich unter den 40 Volitionskomponenten des Selbststeuerungsinventars SSI-L (VCQ-4), die im Zusammenhang mit der PSI-Theorie erwähnt werden, kein passendes Konstrukt finden konnte, habe ich diese Frage an Prof. Dr. Kuhl gerichtet und folgende Antwort erhalten:
“Lieber Herr Müller,
Sie sprechen in der Tat eine wichtige Frage an. Sie hat im Grunde viel tiefere Wurzeln als die Selbstregulation. Wie Sie richtig sagen, muss man die Wurzeln im Unbewussten suchen und aus PSI-Sicht haben sie viel mit der Bedürfnis- und Motiv-Ebene zu tun. Und an dieser Stelle haben wir eben auch eine Lücke entdeckt: In der Motivationspsychologie ist dieses Bedürfnis lange Zeit vernachlässigt worden. Aber wie sollte man es nennen? „Selbstwert“ ist ja mehr ein äußeres Symptom, wenn dieses Bedürfnis verletzt ist. Eigentlich erwähnen Sie in Ihrer Anfrage den Namen des Bedürfnisses schon: Autonomie. Da wir alle Begriffe in der PSI-Theorie funktionsanalytisch präzisieren wollen, haben wir hier weiter gebohrt und fragen, wie lassen sich die unbewussten Wurzeln des Bedürfnisses nach Autonomie benennen, dessen bewusste Anteile heute z.B. in der Theorie der Selbstbestimmung (Deci & Ryan) untersucht werden? Als erste Annäherung können wir sagen: „Freiheit“ im Sinne von „freiem Selbstsein“ dazu. Sie können hier an die humanistischen Ansätze denken (Maslow, Rogers, auch Berne – und heute zudem die erwähnte Selbstbestimmungstheorie von Deci & Ryan). Die meisten dieser Ansätze neigen aber dazu das Unbewusste herauszuhalten (wohl weil es seit hundert Jahren schon mit primitiven, der Selbstbestimmung entzogenen Prozessen gleichgesetzt wird).
Das Extensionsgedächtnis und seine persönlich relevanten Anteile (das Selbst wie auch die dazu gehörigen unbewussten Motive) machen das aus, was man das „intelligente Unbewusste“ nennen könnte: ein riesiges parallel arbeitendes Erfahrungsnetzwerk, das uns eine enorme Vielfalt an Möglichkeiten bereitstellt, unsere Bedürfnisse in der jeweils angetroffenen Situationen in angemessener Weise zu berücksichtigen. Der Motivbegriff beschreibt ja mehr als ein Bedürfnis. Mit dem Begriff „Motiv“ ist die Verbindung zwischen einem Bedürfnis und dem weitgehend unbewussten Erfahrungswissen über kontextangemessene Formen der Befriedigung des jeweiligen Bedürfnisses gemeint. In diesem Sinne gehört auch zum Bedürfnis nach freier Selbstentfaltung ein Motiv, das wir kurz auch das Freiheitsmotiv nennen.
Wir haben entsprechend das Freiheitsmotiv in den OMT aufgenommen, der ja in seiner ursprünglichen Fassung die klassischen Basismotive (Beziehung, Leistung, Macht) nicht nur hinsichtlich der individuellen Bedürfnisstärke, sondern auch in Bezug auf verschiedene Formen der Befriedigung des jeweiligen Bedürfnisses (z. B. mit oder ohne Berücksichtigung des großen Erfahrungsnetzwerks des Selbst) misst. Die Kodierung des Freiheitsmotivs soll demzufolge verschiedene Varianten dieses Motivs erfassen. Bei der ersten Umsetzungsform oder -ebene (die bei der Leistung „Flow“ heißt) geht es beim Freiheitsmotiv um „genießen“ und „gut zu sich sein“: Momente zulassen, in denen man sich dem Fluß dessen, was man gerade genießen kann, hinzugeben vermag. Die anderen Ebenen sind aber auch interessant (bis hin zur künstlichen Selbsterhöhung durch Abwertung anderer oder zur expliziten Selbstabwertung). Und das Ganze wird dann noch ergänzt um die Messung des expliziten Freiheitsmotivs (Erweiterung des Motiv-Umsetzungs-Fragebogens um die entsprechenden 5 expliziten Formen der Umsetzung des Bedürfnisses nach freiem Selbstsein, einschließlich Selbstwert). Der Vergleich zwischen explizitem und implizitem Freiheitsmotiv ermöglicht Diskrepanzen zu beurteilen zwischen dem Ausmaß an persönlicher Freiheit, das jemand bewusst anstrebt und zulässt, und dem Ausmaß, in dem er „freies Selbstsein“ unbewusst ersehnt. So gibt es z. B. Menschen, die ihr Bedürfnis nach freiem Selbtsein auf bewusster Ebene als niedrig beurteilen, obwohl sie in ihrer spontanen (gar nicht immer bewusst erfahrbaren) Fantasie, wie sie im OMT angeregt wird, ein starkes Bedürfnis nach freiem Selbstsein haben. Eine solche Diskrepanz kann die Selbstabwertung und den inneren Stress enorm erhöhen und chronifizieren, ohne dass die eigentliche Quelle dieses inneren Stressors bewusst werden muss.
Herzliche Grüße
Julius Kuhl“
Gedanken über mögliche Interventionen, die dem Selbst dabei helfen können, die eigenen Motive anzunehmen, finden Sie im zweiten Teil des Artikels Das verlorene Selbst – Lösungsansätze.
Lösungsansätze: