„Scham und Verbitterung“ von Wolfram Kölling

Was hat die vergessene Scham mit einer Verbitterung zu tun?

Wenn der Mensch sich verletzt, angegriffen oder sonst irgendwie beschädigt erlebt, kann es zu sehr verschiedenen inneren Zuständen kommen, die nicht immer klar zu definieren sind. Auch die Schädigungen des Ich-Erlebens, die zu solchen Zuständen führen, können sehr unterschiedlich bezeichnet werden. Man spricht bei solchen Verwundungen auch von Kränkungen, von Beleidigungen oder auch von Traumatisierungen, Demütigungen und Entwürdigungen. Das gemeinsame dieser Erfahrungen ist immer die Beschädigung oder Erschütterung des Ich-Selbst. Ich spreche deshalb überwiegend von Erschütterungen.

Diese Erschütterungen des Ich-Selbst lösen also Zustände aus, die aufgrund der Beschädigung des Ich-Selbst-Erlebens entstehen. All diese Zustände sind Scham, denn sie bedeuten letztlich immer so etwas wie: „ich bin nicht“, „ich bin nicht ganz oder vollständig“, „ich bin nicht in Ordnung“ oder „ich bin nicht wert oder liebenswert“. Wenn manche Fachleute bei Scham von einem Gefühl sprechen, welches entsteht wenn der Mensch gegen verinnerlichte Normen verstößt, so erklärt dies nur einen Teil des Phänomens. Man ist dann davon ausgegangen, dass dieses Gefühl des „Normverstoßes“ beim kleinen Kind erst entstehen kann, wenn es über solche Verstöße reflektieren kann. Nun, dem ist nicht so. Das Zerfallsprodukt Scham kann schon viel früher im Leben entstehen, immer dann wenn grundsätzlich das Ich-Selbst als „verletzt“ nicht „vollkommen“ oder nicht „ganz“ erlebt wird. Auch Erschütterungen, die vor der Entwicklung eines Ich-Selbst erlebt werden, führen zu neuronalen Mustern, die im Leben immer wieder aktiviert werden können und auch aktiviert werden. Solche sehr frühen Erschütterungen führen also etwas einfacher ausgedrückt, zu Körpererinnerungen. Jede Erschütterung, im ganzen Leben, kann also dazu führen, dass die allgemeine und existenzielle Norm, ein „Ich-Selbst“ zu sein, geschädigt ist.

Als Verbitterungsstörung werden die Zustände benannt, die beim Erleben von Ungerechtigkeit, Herabwürdigung, Vertrauensbruch oder Kränkung entstehen und die dauerhaft und nagend erlebt werden. Nun könnte man ja gleich sagen, dass dieses Erleben zur Scham führt und somit die Verbitterung eine Schamstörung ist. Ja, das ist so, nur nicht ganz so einfach. Nach der Theorie der Verbitterungsstörung werden die Grundannahmen des Menschen verletzt. Dies sind Einstellungen und Wertorientierungen, die über die Lebensspanne als kohärent erlebt werden. Also, was ist für den Menschen ganz besonders lebenswichtig, welche Werte, welche Normen (z.B. die Familie oder der Beruf)? Die Verletzung solcher ständig vorhandenen und auch immer für das Leben des Ich-Selbst notwendigen Wertorientierungen führen dann zu dieser Symptomatik einer nagenden Verbitterung.

Wir können nun davon ausgehen, dass sich immer wiederholende Erschütterungen des Ich-Selbst, also mehrfache, häufige oder ständige Beschämungen, dauerhaft zu dem Zerfallsprodukt Scham führen. So verstehe ich auch diese Verletzungen der Grundannahmen und Wertorientierungen als Schädigungen des Ich-Selbst-Gefühls und damit immer auch als beschämend. Das Erleben von Vertrauensbrüchen, von Ungerechtigkeiten oder von Herabwürdigungen und Kränkungen, können wir also immer auch als Schädigung des Ich-Selbst betrachten. Es sind immer Erschütterungen des Ich-Selbst, die zu den Zuständen eines möglichen „Zerfalls“ führen. Dauerhafte verinnerlichte Scham und daraus entstehende ständige Schamangst, also der Angst erneut beschämt zu werden, führt also zu dem, was Verbitterung genannt wird.

Wie bei allen Traumatisierungen, bei allen psychischen Verwundungen, bei allen Kränkungen und allen sogenannten narzisstischen Störungen, haben wir es also bei der Verbitterung immer auch mit der Scham zu tun. Ich gehe sogar davon aus, dass bei all diesen Phänomenen die Scham die größte Bedeutung hat. Die Scham ist beteiligt an depressiven Reaktionen, an Abhängigkeiten und der sogenannten Co-Abhängigkeit, genauso wie an Suchtverhalten oder Suizidalität. Sie gehört zur sogenannten Opferhaltung und auch als scheinbare Schamlosigkeit, zum Täterverhalten. Ich benutze die Begriffe Täter und Opfer allerdings nicht mehr gerne, denn schnell können durch solche Etikettierungen wieder neue Beschämungen entstehen.

Die Scham wird jedoch in unserer Zeit immer mehr tabuisiert, vergessen oder verleugnet und aus dem bewussten Erleben abgespalten. Das hat damit zu tun, dass wir Menschen in unserer heutigen Gesellschaft immer weniger zulassen wollen, dass wir unvollkommen sind. Wir wollen keine Fehler oder Schwächen zeigen oder uns nicht zu Verletzungen und Schmerz bekennen. Dabei ist die Verwundbarkeit des Menschen das, was das Menschsein ausmacht. Scham ist jedoch nicht nur extrem schmerzhaft, sondern zeigt ja gerade die menschliche Schwäche an. Somit wird auch das Schamgefühl als obsolet betrachtet und soweit es irgend möglich ist, aus dem Bewusstsein verbannt. Das Schamgefühl als Zerfallsprodukt ist ja ganz besonders schmerzhaft und muss deshalb immer weiter maskiert werden. Die sogenannten Masken der Scham bestimmen mehr und mehr das Leben in unserer Kultur der scheinbaren Schamlosigkeit.

Der Weg, der aus diesem Dilemma herausführt, kann nur der Weg der Scham sein. Deshalb ist es notwendig überall in unserer Gesellschaft die Scham wieder zu erkennen, sie zu akzeptieren und sie auch als existenziellen Grundzustand des menschlichen Da-Seins zu würdigen.

Weitere Informationen finden Sie in meinem Buch (siehe unten). Außerdem gibt es Vorträge der Arbeiterkammer Feldkirch bei YouTube sowie mehrere Vorträge auf CD (erhältlich bei www.foerder-kreis.de).

Wolfram Kölling ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut mit jahrzehntelanger Erfahrung als Gruppen- und Seminarleiter. Er war siebzehn Jahre Leitender Psychologe in einer Psychosomatischen Klinik. Nach intensiven Fort- und Weiterbildungen sowie Selbsterfahrungen u.a. in Kathatym Imaginativer Psychotherapie (KIP), Primärtherapie, Holotropen Atmen, Gestalttherapie und EMDR hat er sich vor allem mit dem Studium schwerer Schamkonflikte und Persönlichkeitsstörungen beschäftigt. In einem eigenen Ansatz der Arbeit mit inneren Einstellungen verbindet er traditionelle Psychotherapie mit den Erkenntnissen einer Integralen Transpersonalen Psychologie.

Literaturhinweis:

Einen Vortrag zum Thema „Scham – Schamlosigkeit und ihre Folgen“ von Wolfram Kölling, den er bei der Kammer für Arbeiter und Angestellte für (AK) Vorarlberg im Jahr 2012 gehalten hat, können Sie sich bei YouTube anschauen.

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