„Sprechstunde“ beim Betriebspsychologen

Den Statistiken der Krankenkassen zufolge haben psychische Erkrankungen seit Jahren Hochkonjunktur. So berichtete z. B. der Karriere SPIEGEL im Juli 2019, dass sich die Zahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme laut DAK Psychoreport 2019 in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdreifacht hat. „Der DAK-Psychoreport ist eine Langzeit-Analyse, für die das IGES Institut die anonymisierten Daten von über zwei Millionen erwerbstätigen Versicherten ausgewertet hat. Demnach erreichten die Krankschreibungen von Arbeitnehmern aufgrund von psychischen Leiden im Jahr 2019 mit rund 260 Fehltagen pro 100 Versicherte einen Höchststand. Der Blick auf die Einzel-Diagnosen zeigt, dass Depressionen und Anpassungsstörungen die meisten Ausfalltage verursachten.“ (Quelle: https://www.psychologie-aktuell.com/news/)

Die meisten Unternehmen investieren viel Geld für die Aus- und Weiterbildung ihrer Fach- und Führungskräfte. Von Mitarbeitern, die zu “Problemfällen” werden, trennt man sich hingegen lieber schleunigst. Führungskräfte sind im Alltag mit vielen Aufgaben betraut und tragen in der Regel eine hohe Verantwortung. Dass sie ihren Mitarbeitern deshalb nicht immer die volle Aufmerksamkeit widmen können, ist verständlich. Viele Gespräche werden eher zwischen Tür und Angel geführt und kleinere Probleme bleiben meist unausgesprochen. An wen können Beschäftigte sich aber wenden, wenn sie in eine Krise geraten? Gibt es der Geldbeutel her, findet man im Internet etliche Coaches, Berater und Therapeuten, die sich als Gesprächspartner anbieten und schnelle Hilfe versprechen. Ob solche Angebote in Anspruch genommen werden, hängt meiner Erfahrung zufolge allerdings nicht ausschließlich vom Leidensdruck ab, sondern wohl vor allem auch von den etwaigen Kosten oder Mühen, die das mit sich bringen kann.

Psychologische Beratung für Mitarbeiter/-innen und Führungskräfte

Das Wort „Krise“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet so etwas wie „Zuspitzung“. Man versteht darunter eine (problematische) Entscheidungssituation, die oftmals mit einem Wendepunkt verknüpft ist. Gerät man nun (unvorbereitet) in eine solche Situation und glaubt sich selbst nicht mehr helfen zu können, ist es gut, sich an jemanden zu wenden, der einen dabei unterstützen kann, Klarheit in den Strudel der eigenen Gefühle und Gedanken zu bringen. Im Idealfall geht man dann gestärkt aus der Krise hervor.

Zunehmender Leistungsdruck, Arbeitsverdichtung, das Gefühl der Fremdbestimmtheit sowie die Angst vor dem sozialen Abstieg führen immer häufiger dazu, dass Menschen bis zur Erschöpfung arbeiten und erkranken. Wer die Grenzen der eigenen Belastbarkeit dauerhaft ignoriert und bereits an Konzentrations- oder Schlafstörungen leidet, zum Grübeln neigt und deshalb vielleicht schon depressiv verstimmt ist, sollte also möglichst rasch etwas tun. Da eine Psychotherapie allerdings erst dann infrage kommt, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, stellt sich in vielen Unternehmen – nicht erst seit dem 2015 erlassenen Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention – die Frage, wie man die eigenen Mitarbeiter/-innen gezielt dabei unterstützen kann, auch psychisch gesund zu bleiben? Da psychische Probleme sehr vielschichtig sein können, sind Aufklärungskampagnen oder entsprechende Seminare zwar gewiss ein probates Mittel, um für diese Thematik zu sensibilisieren, ob bzw. inwieweit sie aber einer Zunahme psychischer Erkrankungen tatsächlich entgegenwirken, ist fraglich. Deshalb wird den Mitarbeitern/-innen vielerorts ggf. auch eine individuelle Unterstützung angeboten:

1. Coaching

Viele – insbesondere größere – Unternehmen engagieren dafür ausgewählte Coaches. Die sind aber in der Regel nicht gerade günstig. Stundensätze von ca. € 150 bis zu € 500 sind keine Seltenheit. Obwohl die Mitarbeiter/-innen das nicht aus eigener Tasche bezahlen müssen, überlegen diese es sich wahrscheinlich sehr genau, ob Kosten und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen? Zumindest sind die Arbeitgeber, die diese Gespräche finanzieren, daran interessiert, dass sie möglichst effizient sind. Dafür sollte es möglichst klar definiert sein, worum es in dem Coaching geht? Welche Themen werden besprochen und mit welchem Ziel? Dann muss natürlich noch ein passender Coach ausgewählt und ein Termin vereinbart werden etc. „Niedrigschwellig“ ist das m. E. nicht.

2. Psychologische Beratung

Die Inanspruchnahme einer Psychologischen Beratung sollte für die Mitarbeiter/-innen eines Unternehmens hingegen auch anonym und ohne eine Offenlegung der Beweggründe bzw. der Problematik möglich sein. Um einen niedrigschwelligen Zugang zu gewährleisten, halte ich es für zweckmäßig, die Gespräche während der Arbeitszeit in unmittelbarer Nähe der Arbeitsstätte zu führen. Anbieten würde sich dafür bspw. entweder ein Employee Assistance Program oder der Einsatz eines/-r Betriebspsychologen/-in.

Doch an welchen Kriterien sollte man sich orientieren, um auf einem unüberschaubar wachsenden Markt das passende Angebot zu finden?

  • Qualifikationen: Achten Sie bei der Auswahl eines Angebots auf entsprechende Qualifikationen bzw. Ausbildungen. Diese sollten auf den Webseiten angegeben sein. Fehlen solche Hinweise, fragen Sie danach!
  • Empfehlungen: Da Zertifikate allein wenig über die tatsächliche Qualität eines Anbieters aussagen und oftmals mehr „Schein als Sein“ sind, ist es ratsam, sich an diejenigen zu wenden, mit denen andere bereits gute Erfahrungen gemacht haben.
  • Transparenz: Lassen Sie sich erläutern, wie die Unterstützung konkret aussieht bzw. was sie beinhaltet. Informieren Sie sich über die Vorgehensweise sowie über die Methoden, die in diesem Zusammenhang zum Einsatz kommen

Was hat das mit mir zu tun?

Seit einiger Zeit bin ich u. a. als „Betriebspsychologe“ in drei größeren Unternehmen tätig. Dort biete ich in zwei- bzw. vierwöchigen Abständen eine „Psychologische Sprechstunde“ für die Mitarbeiter/-innen und Führungskräfte an. Die Themen, um die es in den Gesprächen geht, sind ganz unterschiedlich. Nicht selten sind es aber Probleme aus dem privaten Bereich, die die Menschen zu mir führen. Diese haben allerdings oft schon erhebliche Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit sowie die Gesundheit der Betroffenen. Möchte man also den Krankenstand in einem Unternehmen senken, macht es m. E. Sinn, einen Rahmen zu schaffen, in dem auch persönliche Themen besprochen werden können.

Beispiele bisheriger Arbeitsaufträge:

  • Konflikte oder Belastungen am Arbeitsplatz
  • Individuelles Stressmanagement und Burnout-Prävention
  • Probleme im familiären, persönlichen oder gesundheitlichen Bereich
  • Psychologische Begleitung in Krisen und Notfallsituationen
  • Unterstützung bei der Suche nach geeigneten (psychosozialen) Beratungs- bzw. Hilfsangeboten oder einem Psychotherapieplatz
  • Unterstützung und Hilfestellungen im BEM
  • Umgang mit psychischen Erkrankungen (oder Auffälligkeiten)

Hinweis: Die Inhalte der Gespräche werden absolut vertraulich behandelt („Verschwiegenheitspflicht“). Eine Weitergabe von Informationen oder (eventuell getroffener) Vereinbarungen erfolgt nur mit dem Einverständnis der Betroffenen.

Was geschieht in einer Psychologischen Sprechstunde?

Zu Beginn einer Beratung geht es mir vor allem darum, die Problematik und deren Hintergründe möglichst gut zu verstehen. In diesem Zusammenhang werden ggf. auch bisherige Lösungsversuche sowie deren Konsequenzen besprochen. Ebenfalls ermittle ich den Grad der Belastung und arbeite (vorläufige) Ziele heraus. Zur Strukturierung eines solchen Gesprächs bietet sich bspw. das SORKC-Modell an, ein Verfahren zur Verhaltensanalyse, das aus der Verhaltenstherapie stammt. Anschließend werden individuelle Strategien entwickelt.

  • Verhältnisprävention: Im Vordergrund steht die Frage, ob sich an den äußeren Umständen, die das Problem begründen, etwas ändern lässt? Und falls „ja“, wie das gelingen kann? Bringt die Umsetzung der erarbeiteten Lösungsstrategien unerwartete Schwierigkeiten mit sich oder hat sie unerwünschte Nebenwirkungen, sollte in einem Folgetermin darüber gesprochen und ggf. „nachgebessert“ werden.
  • Verhaltensprävention: Gibt es vielleicht eigene Anteile, die dazu führen oder geführt haben, dass die Situation eskaliert ist? Dann geht es um die Bewusstmachung jener Aspekte (Bewertungen, Einstellungen, Reaktionsmuster etc.), die dazu beitragen oder beigetragen haben, dass sich die Problematik so entwickelt hat, und darum, den Handlungsspielraum wieder zu erweitern. Mittels eines sokratischen Dialogs können bspw. sogenannte „irrationale Überzeugungen“ hinterfragt und dysfunktionales Verhalten ggf. modifiziert werden.

Wie es weitergeht, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab: Da der Umfang meiner Beratung in der Regel auf maximal fünf Termine pro Mitarbeiter/-in begrenzt ist, sollte ich also möglichst schnell entscheiden, ob sich das Problem in diesem Rahmen sinnvoll bearbeiten oder vielleicht sogar ganz auflösen lässt. In vielen Fällen reicht bereits ein klärendes Gespräch, gelegentlich sind weitere Termine dafür erforderlich. Manchmal ist es allerdings zweckmäßiger, auf externe Unterstützungsangebote hinzuweisen oder eine Psychotherapie zu empfehlen. Dann ermutige ich dazu bzw. helfe dabei, sich für ein entsprechendes Angebot zu entscheiden und ggf. einen Termin zu vereinbaren.

In meinen Beratungen arbeite ich vorrangig auf Grundlage verhaltenstherapeutischer Modelle, systemisch und lösungsorientiert. Dabei gehe ich – wie schon Milton H. Erickson oder Steve de Shazer – davon aus, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens bereits so viele Probleme gelöst hat, dass er oder sie für jedes noch kommende oder aktuelle Problem bereits eine Lösung in sich trägt. Meine Aufgabe sehe ich nun vor allem darin, die entsprechenden Strategien bewusst zu machen („Ressourcen-Screening“) und dabei zu unterstützen, diese in angemessener Weise umzusetzen. Abschließen möchte ich deshalb mit einem Zitat des Schriftstellers Jonathan Swift: „Man wirft den Menschen immer vor, dass sie ihre Mängel nicht erkennen. Noch weniger aber kennen sie ihre Stärken. Sie sind wie das Erdreich. In vielen Grundstücken sind Schätze verborgen, aber der Besitzer weiß nichts von ihnen.“

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