Persönlichkeitsstile & Modi

Kuhl und Kazén haben auf empirischer Grundlage einen Fragebogen konstruiert (PSSI, Persönlichkeits-Stil und Störungs-Inventar). Das PSSI ist ein wissenschaftlich konstruiertes Selbstbeurteilungsinstrument, das die relativen Ausprägungen von 14 Persönlichkeitsstilen quantifiziert (Persönlichkeitsstil-Profil).

Je stärker ein Persönlichkeitsstil ausgeprägt ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich auch in der damit korrespondierenden Persönlichkeitsstörung Aspekte finden lassen, die stilistische Auffälligkeiten tendenziell beschreiben. Dabei kann es sein, dass sich gewisse Merkmale nur in spezifischen Kontexten, oder sie sich zwar grundsätzlich zeigen, dafür aber lediglich in einer abgeschwächten Form.

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Bei einigen Persönlichkeitsstilen, die mit dem PSSI erfasst werden, ist mir aufgefallen, dass sie mein Erleben und Verhalten lediglich in bestimmten Momenten recht gut beschreiben. Sie lassen sich m. E. als Modi begreifen, in die ich selbst immer mal wieder „hineingerate“, wenn die situativen Umstände es erlauben, oder wenn sie es meiner Ansicht nach erfordern. Da es sich hierbei bislang lediglich um eine Art „Gedankenspiel“ handelt, wäre ich sehr an einer kritischen Diskussion interessiert.

Um das Ganze etwas verständlicher zu machen, habe ich hier einige zentrale Aussagen über das Modell eingefügt, die sich in dem Buch „Motivation und Persönlichkeit“ nachlesen lassen. Anschließend stelle ich das PSSI kurz vor, woraufhin ich meine Überlegungen erläutere.

1. Das Modell der Persönlichkeitsstile

Das dimensionale Konzept der Persönlichkeitsstile (auf Grundlage der PSI-Theorie) stellt einen Kompromiss zwischen der psychiatrischen Sichtweise und Erfahrung (kategoriale Erfassung) und der dimensionalen Sichtweise der differentiellen Psychologie dar. Dieses Modell ermöglicht gleichermaßen einen ressourcenorientierten (statt einseitiger Defizitorientierung) sowie einen problemorientierten therapeutischen Zugang, indem jeder Persönlichkeitsstil in seinen Stärken und in seinen Risiken bzw. Schwächen dargestellt wird und der Betroffene die Erfahrung macht, dass sein oftmals seltsam und befremdlich wirkendes Verhalten als subjektiv sinnhafte Anpassungs- und Überlebensstrategie in spezifischen Sozialisationskontexten verstanden werden kann.

Im Vergleich zu den kategorialen Modelle werden bei der dimensionalen Erfassung fließende Übergänge (ein Kontinuum) zwischen „normal“ und „gestört“ einerseits und zwischen den einzelnen Persönlichkeitsstörungen untereinander andererseits postuliert. Dies bedeutet, dass bei Personen von einem Kontinuum von Eigenschaften, Einstellungen und Verhaltensweisen ausgegangen wird, nicht aber von qualitativen „Sprüngen“ oder einer Unterscheidung von „gestört“ versus „nicht gestört“.

→ Systemkonfigurationen

Menschen mit einem dominanten Persönlichkeitsstil bevorzugen – ebenso wie jene, die eine entsprechende Persönlichkeitsstörung aufweisen – eine damit korrespondierende Systemkonfiguration. Die Systemkonfigurationen stehen in einem direkten Zusammenhang mit den vier Makrosystemen der PSI-Theorie.

Die PSI-Theorie geht davon aus, dass die Umsetzung von Motiven durch Affekte moduliert wird, und zwar durch den Einfluss, den Affekte auf die Aktivierung jener kognitiven Systeme ausüben, die für die Motivumsetzung wichtig sind (vgl. Modulationsannahmen). So werden unterschiedliche Systemkonfigurationen differenziert, mit denen sich jedes Motiv verbinden kann. Diese Systemkonfigurationen werden als Formen der Motivumsetzung interpretiert, die je nach den vorherrschenden Bedingungen mehr oder weniger adaptiv sein können. In anderen Wörtern gibt es adaptive und weniger adaptive Verbindungen von Motiven und kognitiven Hauptfunktionen.

  • Fühlen (EG): „Fühlen“ ist adaptiv für alle Motive, besonders aber für das Machtmotiv. Das„Fühl-System“ (vgl. EG und Selbstsystem) ermöglicht einen kreativen Umgang mit der Umsetzung des jeweiligen Bedürfnisses: Fühlen ermöglicht Flexibilität der Umsetzung und aktive Bewältigung der mit Herausforderungen verbundenen negativen Gefühle (z.B. Unsicherheit): Bei Misserfolgen fällt einem z. B. gleich eine Alternative ein bzw. man ersetzt das Ziel durch ein anderes, das möglichst ähnlich ist.

  • Intuieren (IVS): Intuieren ist besonders adaptiv für die Umsetzung des Bedürfnisses nach Anschluss: Der spontane Austausch mit anderen Menschen erfordert intuitive Programme der emotionalen Ansteckung, des Blickverhaltens u.v.m.

  • Denken (IG): Die Denkfunktion ist maladaptiv im Bereich Anschluss; adaptiv im Bereich Leistung und evtl. Macht, also überall da, wo strategisches, planerisches Vorgehen erforderlich ist.

  • Empfinden (OES): Empfinden ist für kein Motiv besonders adaptiv, da diese Funktion die Perseveration (= Tendenz seelischer Erlebnisse und Inhalte, im Bewusstsein zu verharren) negativer Gefühle erfasst, die nicht durch das Fühlen integriert werden können. Ist die Sensibilität für negativen Affekt sehr hoch, verbinden sich Motive mit der kognitiven Funktion des Empfindens („unstimmigkeitssensible Objekterkennung”).

Es wird angenommen, dass psychische Systeme sich je nach situativen Anforderungen immer wieder neu konfigurieren. Verschiedene soziale Basisbedürfnisse verlangen unterschiedliche Systemkonfigurationen. Affektive und kognitive Einseitigkeiten (vgl. Persönlichkeitsstörungen) können zu Schwierigkeiten bei der Befriedigung verschiedener Bedürfnisse führen. Eine Person kann sich in ihrem Verhalten und in ihrer Selbstwahrnehmung zunehmend von ihren eigenen Bedürfnissen (d. h. von ihrem Selbst) entfremden, wenn sie nicht gelernt hat, flexibel zu den jeweils passenden Systemkonfigurationen umzuschalten, sobald ein neues Bedürfnis auftaucht.

→ Affektregulation & Selbststeuerungskompetenz

Affekt bezeichnet das Ergebnis eines zentralen, nicht bewusstseinspflichtigen Mechanismus, der eine begrenzte Zahl von hormonal und neurochemisch vermittelten körperlichen Zuständen generiert, die die Verarbeitung in zahlreichen Teilsystemen (Belohnungs- und Bestrafungswirkungen) und die einem kontinuierlichen Wandel in Abhängigkeit von biologischen und psychologischen Dispositionen unterliegen. Lust und Unlust bilden die elementarsten Affekte, die maßgeblich an der Volitions- und Verhaltensbahnung (Lust) bzw. Volitions- und Verhaltenshemmung (Unlust) beteiligt sind.

Bei zögerlichem Verharren – d.h. bei einer prospektiven Lageorientierung – in einer gegebenen Situation kann positiver Affekt nur schwerlich wiederhergestellt werden, während prospektiv handlungsorientierten Menschen diese Wiederherstellung i. d. R. gut gelingt. Analog dazu kann negativer Affekt von Personen, die nach Misserfolgen ins Grübeln geraten (Lageorientierung nach Misserfolg), nicht (hinreichend) herabreguliert werden, während sich handlungsorientierte Personen nach Misserfolgen rasch wieder auf neue Herausforderungen konzentrieren können. Entscheidend ist also nicht (nur) die Sensibilität für positive bzw. negative Affekte, d.h. die affektive Erstreaktion, sondern vor allem die Fähigkeit, bereits eingetretene affektive Zustände ohne äußere Hilfe „selbstgesteuert“ zu verändern, d.h. die affektive Zweitreaktion, also die Fähigkeit der Selbststeuerung bzw. Affektregulation.

Die Regulation von Affekten ist demzufolge für das Entstehen von Alienation (d. h. Entfremdung) und psychischen Symptomen relevanter als die Sensibilität für diese Affekte. Die PSI-Theorie geht davon aus, dass die Sensibilität in erster Linie die affektive Erstreaktion und damit die Häufigkeit bestimmt, mit der Affekte auftreten, während die Affektregulation vor allem die Dauer affektiver Episoden beeinflusst. Es wird also davon ausgegangen, dass das Entfremdungs- und auch das Erkrankungsrisiko um so größer ist, je länger ein für die psychische Gesundheit ungünstiger Affekt andauert.

2. PSSI – Persönlichkeits-Stil und Störungs-Inventar

„Das PSSI ist ein Selbstbeurteilungsinstrument, mit dem die relative Ausprägung von Persönlichkeitsstilen erfasst wird. Diese sind als nicht pathologische Entsprechungen der in den psychiatrischen diagnostischen Manualen DSM-IV und ICD-10 beschriebenen Persönlichkeitsstörungen konzipiert.“ (Quelle: Testmanual)

Mit dem PSSI werden die individuellen Ausprägungen der 14 Persönlichkeitsstile mit jeweils 10 Items ermittelt, d. h. dass der Fragebogen insgesamt 140 Aussagen beinhaltet (in der Kurzversion sind es 14 x 4, also 56 Items), denen im Rahmen einer Selbsteinschätzung jeweils ein Wert von 0 („trifft gar nicht zu“) bis 3 („trifft ausgesprochen zu“) zugeordnet wird. Addiert man die 10 Werte, die für einen Persönlichkeitsstil stehen, erhält man einen Rohwert, den man wiederum in ein statistisches Maß (T-Wert) umwandelt, um zu sehen, wie hoch dieser Wert im Vergleich zu einer bestimmten Population (Altersgruppe, Geschlecht) ausfällt.

3. Persönlichkeitsstile & Modi

Bei einigen Persönlichkeitsstilen, die mit dem PSSI erfasst werden, ist mir aufgefallen, dass sie mein Erleben und Verhalten lediglich in bestimmten Momenten recht gut beschreiben. Sie lassen sich m. E. als Modi begreifen, in die ich selbst immer mal wieder „hineingerate“, wenn die situativen Umstände es erlauben, oder wenn sie es meiner Ansicht nach erfordern. Unter einem Modus versteht man in der Psychologie ein bestimmtes Verhaltenssteuerungsprogramm, das maßgeblich das Denken, Fühlen und Handeln in einer aktuellen Situation beeinflusst bzw. bestimmt und mehr oder weniger automatisch abläuft. Ein Modus wird durch Auslösereize aktiviert, die innerhalb (Gedanken, Erinnerungen etc.) oder außerhalb der eigenen Person liegen.

„Auch was wir am meisten sind, sind wir nicht immer.“ Marie von Eber-Eschenbach

Vier dieser Modi, die ich bei mir selbst „erkannt“ habe, möchte ich hier einmal skizzieren:

Dass man Persönlichkeitsstile grundsätzlich von Modi unterscheidet, ist mir natürlich bewusst. „Ein Persönlichkeitsstil ist die Summe verschiedener Persönlichkeitseigenschaften. Diese sind über die Zeit hinweg recht stabil. Ein Modus hingegen ist situationsspezifisch bzw episodisch. Die Schematherapie differenziert bspw. sogenannte Kind-Modi, Eltern-Modi und (dysfunktioniale) Bewältigungsmodi, wobei sie ja konzipiert wurde, um z. B. Persönlichkeitsstörungen zu behandeln. Ich frage mich in diesem Zusammenhang allerdings bereits seit längerer Zeit, warum man Modi überwiegend defizitorientiert betrachtet? Ich kann in ihnen jedenfalls hier und da auch eine wundêrbare Ressource erkennen. Deshalb habe ich oben auch ganz bewusst eine neutrale Definition angeführt.

In der Persönlichkeitspsychologie spricht man von states und traits. Persönlichkeitsstile sind states und Modi sind traits.“ Demzufolge kann ein Modus also eigentlich kein Persönlichkeitsstil sein. Es ist aber wohl so, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale in einigen Situationen stärker zum Tragen kommen.

Und genau hier setzen meine Überlegungen an: Das Modell der Persönlichkeitsstile, das auf Grundlage der PSI-Theorie von Prof. Julius Kuhl entwickelt wurde, geht davon aus, dass die verschiedenen Persönlichkeitsstile mit unterschiedlichen Systemkonfigurationen korrespondieren, die sich bei einer gesunden Persönlichkeit flexibel auf die situativen Gegebenheiten sowie auf die jeweils vorherrschenden Motive und Bedürfnisse des betreffenden Individuums „einstellen“ können. Das bedeutet übersetzt für mich Folgendes: Eine „gesunde“ Persönlichkeit sollte dazu in der Lage sein, verschiedene Persönlichkeitsstile flexibel einzusetzen bzw. die gezeigten Verhaltens- und Reaktionsmuster von ihrer aktuellen Bedürfnis- und Motivlage sowie von den situativen Gegebenheiten abhängig zu machen. Das bedeutet für mich übersetzt, dass ich manchmal einen eher ehrgeizigen (z. B. in Wettbewerbssituationen), manchmal einen liebenswürdigen (z. B. beim Flirten) und manchmal einen sorgfältigen Persönlichkeitsstil (z. B. bei der Bearbeitung meiner Steuererklärung) an den Tag legen kann. Je nachdem, worum es gerade geht, kann ich also in einen dazu passenden (und jetzt verwende ich den Begriff erneut) „Modus“ wechseln, in denen mein Erleben und Verhalten mit einem entsprechenden Persönlichkeitsstil korrespondiert. Sollte es bei einem Menschen häufiger zu einer (automatischen) emotionalen Erstreaktion kommen, im Zuge derer sich ein bestimmter Persönlichkeitsstil zeigt (bei dem die betreffende Person eine hohe Ausprägung hat), der eigentlich unpassend ist, ist man dem ja nicht einfach ausgeliefert. Dem Modell zufolge haben Individuen verschiedene Möglichkeiten, in diesen Automatismus einzugreifen (z. B. über Selbstberuhigung oder Selbstmotivierung). Die durch den jeweils vorherrschenden Persönlichkeitsstil erklärbaren emotionalen (Erst-)Reaktionen treten zwar spontan auf (abhängig vom Temperament, den vorherrschenden Motiven, den konditionierten Reaktionsmustern etc.), sie lassen sich im Nachhinein aber durch selbstgesteuerte Affektregulation beeinflussen (emotionale Zweitreaktion). Je geübter eine Person darin ist, desto weniger ist sie einem Persönlichkeitsstil „ausgeliefert“.

Zudem sind die Persönlichkeitsstile in diesem Modell von Prof. Kuhl dimensional konzipiert, d. h. dass die verschiedenen Stile bei einem Individuum mehr oder weniger stark ausgeprägt und entsprechend mehr oder weniger leicht aktivierbar sind.

Dass ich mit der Vermengung der Begriffe „Persönlichkeitsstil“ und „Modus“ gegen gängige Definitionen verstoße, ist mir bewusst. Dennoch stellt sich mir die Frage, ob sich da nicht doch eine gewisse Verbindung herstellen ließe?

Literaturhinweise:

  • Julius Kuhl & Miquel Kazén (2009). Persönlichkeits-Stil- und Störungs-Inventar (2. überarbeitete und neu normierte Auflage). Hogrefe Verlag, Göttingen.
  • Julius Kuhl (2001). Motivation und Persönlichkeit. Hogrefe Verlag, Göttingen. → Hier gelangen Sie zur Produktseite des Verlags.
  • „Persönlichkeitsstile und psychische Erkrankung (Achse I und II): Zur Rolle von Bedürfnisfrustration, Stress, Affekten und Selbststeuerungsdefiziten“ – Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Naturwissenschaften (Dr. rer. nat.) von Soledad Cordero

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