Einschärfungen & Lebensskript

Wie kann man tief sitzende und blockierende Verhaltens- und Reaktionsmuster dauerhaft auflösen und somit in möglichst kurzer Zeit nachhaltige Veränderungen bewirken? Auf diese Frage gibt es wohl ganz unterschiedliche Antworten. Ein Erklärungsansatz, der mir in diesem Zusammenhang besonders zusagt, stammt aus der Transaktionsanalyse. Hierbei wird davon ausgegangen, „dass Menschen in der Kindheit eine Kombination von Glaubenssätzen und Verhaltensmustern entwickeln, die dazu führt, dass sie immer wieder auf die gleiche Art und Weise agieren“ (Dehner & Dehner, 2013). Eric Berne sprach in diesem Zusammenhang von einem ‘Skript’ (oder auch Drehbuch), also von einem unbewussten Lebensplan, der immer wieder zu ganz bestimmten Ereignissen führt.

Das Drehbuch unseres Lebens

Leonhard Schlegel (2002) äußert sich in seinem „Handwörterbuch der Transaktionsanalyse“ dazu wie folgt: „Die Skriptentscheidung ist nach Berne die Entscheidung zu einem bestimmten Selbst- und Weltbild und für ein bestimmtes Verhalten, mit welcher der Betreffende das Leben im Rahmen dieses Selbst- und Weltbildes bestehen werde. Was dem Betreffenden im Laufe des Lebens begegnet, wird im Sinn dieser Entscheidung ausgelegt werden, so dass sich die Richtigkeit der Entscheidung fortlaufend selbst bestätigen wird. Nach Berne wird die Skriptentscheidung bis zum sechsten oder siebenten Lebensjahr gefällt, nach […] anderen Autoren […] manchmal sogar […] später.“

Dehner und Dehner (2013) stellen allerdings Folgendes fest: „Nicht bei jedem Menschen ist [ein derartiges] Skript in gleichem Maße ausgeprägt. Manche Menschen haben Skriptglaubenssätze, die zwar vorhanden sind, [die] ihr Leben auf nur vergleichsweise gering beeinträchtigen, während bei anderen das Leben davon […] dominiert wird. Wie stark sich das Skript [tatsächlich] auswirkt, hängt davon ab, wie intensiv die Gebote [Antreiber] und Verbote [Einschärfungen] vermittelt wurden.“ Wer Bezugspersonen hatte, „die die Einschärfungen von Mutter und Vater relativierten, weil sie ganz andere Botschaften vermittelten“, ist ihrem dysfunktionalen Einfluss wahrscheinlich weniger stark ausgeliefert.

Veränderung ist möglich!

Einschärfungen haben ihren Ursprung demzufolge meistens in der Kindheit, d.h. in unüberlegten Aufforderungen der Eltern bzw. der Bezugspersonen in der emotionalen Beziehung zum Kind. Anfänglich werden sie nonverbal bzw. atmosphärisch vermittelt und im Zuge der Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten des Kindes verbal untermauert. Sie können sich im weiteren Verlauf in einer Grundstimmung manifestieren, die daraufhin charakteristisch für das Leben der Betroffenen ist. Einschärfungen können das Lebensskript eines Menschen maßgeblich beeinflussen, indem sie zu einem sogenannten „subjektiven Imperativ“ werden, also zu einer Art inneren Stimme, die befiehlt, dass etwas auf eine ganz bestimmte Art und Weise geschehen muss oder dass etwas auf gar keinen Fall geschehen darf, und die gleichzeitig verlangt, dass von dieser Vorstellung nicht abgewichen werden darf.

Die transaktionsanalytische Neuentscheidungstheorie geht von der Annahme aus, dass alle Kinder Entscheidungen in Bezug auf sich und andere treffen, um sich an ihre Umgebung anzupassen. Auf diese Weise entwickeln sie ihr eigenes Lebensskript. Mary McClure Goulding und Robert L. (Bob) Goulding waren der Ansicht, dass Einschärfungen nicht automatisch in dieses Skript integriert werden, sondern dass sich die Kinder dafür „entscheiden“, auf eine bestimmte Art zu leben bzw. zu sein. Hierbei ist anzumerken, dass sie dies nicht mittels rationaler Erwägungen tun, sondern sie bei diesen Entscheidungen vor allem von Emotionen sowie ihrer Weise, die Realität zu erfassen, beeinflusst werden. Das Ziel dabei ist es, zu überleben und die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zu gewährleisten. Diese frühen Entscheidungen können sich im weiteren Verlauf des Lebens äußerst dysfunktional auswirken, allerdings besteht auch im Erwachsenenalter noch die Möglichkeit, sie zu revidieren und damit Entwicklungspotenziale freizusetzen. Abzuraten ist deshalb davon, die Betroffenen nach Begründungen (oder „guten Gründen“) für den dysfunktionalen Imperativ zu fragen, da dies eine (heilsame) „spontane Einsicht“ verhindern und zu dessen Zementierung führen könnte. Eine Würdigung, wie sie bspw. bei den Antreibern empfohlen wird, sollte bei ihnen also keinesfalls erfolgen.

Manfred Evertz

Günther Mohr (s. u.) zufolge wird das Lebensskript „allgemein als sehr beständig angenommen. Versuche, das Gegenteil in einer Art Gegenskript zu leben (“counterscript”), sind nicht Erfolg versprechend […]. Für das Skript sind intelligente Lösungen und Alternativen erforderlich. Hier liegt die positive Weiterentwicklung eines Menschen im Bewusstwerden der bisher unbewusst lenkenden Skriptanteile und in der entschiedenen Entwicklung eines Lebensstils, der gleichzeitig sorgsam mit den eigenen früheren Lebensprägungen umgeht und [zudem] für heute angemessene autonome Reaktionen beinhaltet.“

Aufdeckung und Selbstexploration

Grundsätzlich können die folgenden vier Fragen dabei helfen, die subjektiven Imperative aufzudecken (vgl. Dehner & Dehner, 2016): Was löst bei einer Person Stress aus? Was ist das eigentlich Schlimme an der Situation? Was, glaubt sie, darf auf keinen Fall passieren? Was, glaubt sie, muss auf jeden Fall passieren? Die Antworten ermöglichen es, Wesentliches über die individuellen Wirklichkeitskonstruktionen der Klienten zu erfahren und im weiteren Verlauf mit deren Worten bzw. Sprachgebrauch an einer Veränderung oder Auflösung zu arbeiten.

Da ich in Seminaren oft über Antreiber und Einschärfungen spreche, suchte ich nach einer Möglichkeit, Letztere auf eine ähnliche Weise zu ermitteln, wie es das bei Ersteren mit Hilfe des sogenannten „Antreiber-Tests“ (Beispiel: http://www.dic-ta.eu/downloads/Quinn_Akademie_SR_20.03.2013_Wer_bin_ich_und_wenn_ja_warum.pdf) getan wird, um über die Ergebnisse, die ja „lediglich“ auf Selbsteinschätzungen beruhen, thematische Schwerpunkte zu definieren, die für die Teilnehmer/-innen relevant sind. Die Auswertung eines Persönlichkeitstests erzeugt m. E. eine persönliche Betroffenheit, indem sie aufzeigt, wie man sich selbst sieht, und macht in der Regel neugierig auf weiterführende Erläuterungen.

Leider habe ich bislang keinen Test finden können, mit dem sich die verschiedenen Einschärfungen ermitteln lassen. Deshalb habe ich jetzt selbst einen erstellt, den ich künftig vorrangig in Seminaren einsetzen werde. Dabei habe ich allerdings lediglich neun der zwölf Bannbotschaften, wie diese auch genannt werden, aus dem Konzept von Bob und Mary Goulding berücksichtigt. Mit der von mir entwickelten Version des Tests lässt sich also ermitteln, wie groß der Einfluss ist, den diese Einschärfungen tendenziell auf das Lebensskript eines Menschen haben. Hier finden Sie ergänzende Informationen: https://transaktionsanalyse.audio/einschaerfungen/.

Sollten Sie jetzt neugierig geworden sein, möchte ich Sie einladen, ihn selbst einmal auszuprobieren. Drucken Sie sich dafür einfach das pdf-Dokument (siehe unten) aus. Auswerten können Sie den Test problemlos selbst. Überprüfen Sie dann, ob es Entwicklungen in Ihrem Leben gibt, die sich unter Zuhilfenahme einer der entsprechenden Einschärfungen erklären lassen. Dann sollten Sie ggf. neu entscheiden, wie Sie künftig mit ihr umgehen werden. Wenn die Ergebnisse irritierend oder beängstigend sind, sprechen Sie bitte mit jemandem darüber.

In dem Test finden Sie 54 Aussagen. Bitte geben Sie jeweils auf einer Skala von 1 bis 5 an, wie sehr Sie diesen zustimmen (1= gar nicht, 2 = geringfügig, 3 = teilweise, 4 = größtenteils, 5 = voll und ganz). Anschließend übertragen Sie Ihre Werte in den Auswertungsbogen und addieren sie jeweils zu einem Gesamtwert. Jene Einschärfungen, bei denen Sie die höchsten Werte haben, sind es m. E. wert, genauer betrachtet zu werden. Je höher ein solcher Wert ist, desto größer ist jedenfalls die Wahrscheinlichkeit, dass Sie der entsprechenden Einschärfung ausgesetzt waren und sie zu einem Bestandteil Ihres Lebensskripts geworden ist.

Fazit

Mein (mit Abstand) höchster Wert lag diesem Test zufolge übrigens bei 20 von 30 möglichen Punkten. Mein „Thema“ ist mir allerdings hinreichend bekannt, von daher hat mich das nicht sonderlich überrascht. Sollten Sie ähnlich hohe Werte haben, machen Sie sich deshalb bitte nicht verrückt! Dieser Test kann lediglich als Reflexionshilfe betrachtet und in diesem Sinne eingesetzt werden. Zur Auswertung ist zu sagen, dass die Ergebnisse nicht in Stein gemeißelt sind, sie also nur vage Anhaltspunkte liefern, mit welchen Themen man sich vielleicht mal etwas intensiver beschäftigen sollte. Zudem ist es natürlich möglich, dass sich die Ergebnisse, die man einmal hatte, im Laufe der Zeit verändern. Nicht immer ist dafür professionelle Hilfe erforderlich!

Den Test inklusive des Auswertungsbogens finden Sie hier: Einschärfungen -Test & Auswertungsbogen (pdf-Dokument).

Literaturhinweise:

  • Dehner, Ulrich & Dehner, Renate (2013). Transaktionsanalyse im Coaching. managerSeminare Verlags GmbH, Bonn.
  • Dehner, Ulrich & Dehner, Renate (2016). IntrovisionCoaching. managerSeminare Verlags GmbH.
  • Mohr, Günther: Transaktionsanalytisches Coaching → http://mohr-coaching.weebly.com/uploads/3/0/4/8/3048777/transaktionsanalytischescoachingt1.pdf
  • Schlegel, Leonhard (2002). Handwörterbuch der Transaktionsanalyse (2. Auflage). Deutschschweizerische Gesellschaft für Transaktionsanalyse.

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Psychotherapie, Coaching & Organisationsberatung – Interview mit Dr. Bernd Schmid

Im März hatte ich die Gelegenheit, Dr. Bernd Schmid in Wiesloch zu besuchen und mit ihm über seine Arbeit zu sprechen. Da ich mich auf dieses Gespräch allerdings nicht richtig vorbereiten konnte, habe ich ihn darum gebeten, mir im Nachklang – also im Rahmen eines Interviews – ein paar Fragen zu beantworten. Sollte es Sie also auch interessieren, was sich hinter der „Systemischen Transaktionsanalyse“ verbirgt, welche Erfahrungen ihr Begründer mit den verschiedenen Verfahren oder Lehren machen durfte, die im Coaching sowie im psychotherapeutischen Kontext einen gewissen Ruhm erlangt haben, oder was ihn überhaupt dazu angetrieben hat, sich mit derartigen Fragestellungen zu befassen, dann finden Sie hier einige Antworten!

Wer ist Dr. Bernd Schmid?

Wer ich bin? Eine gelungene Promenadenmischung vielleicht?! Irgendwie bin ich jedenfalls ein bunter Hund, der nirgends richtig hineingepasst hat und deswegen immer seinen eigenen Weg suchen musste. Die Evolutionsleute nennen solche Kreaturen – wenn ich mir schmeichle – „hopefull monsters“. Sie sehen aus wie Missgeburten, sind aber vielleicht der Anfang einer neuen Spezies. Die Evolution macht viele Experimente und das Schicksal eines Einzelnen interessiert nicht, so dass viele Unangepasste Schiffbruch erleiden und untergehen. Irgendwie haben mich aber glückliche Umstände, einige Talente und Ambitionen sowie viel Fleiß davor bewahrt. Zudem hatte ich immer ein Gespür dafür, wohin sich meine Umwelt entwickeln wird, und lag damit eigentlich nie wirklich falsch. Im Laufe der Zeit konnte ich das immer besser formulieren und entsprechend agieren.

So habe ich auf meinem beruflichen Werdegang viele Bereiche kennengelernt, wollte mich jederzeit frei dorthin bewegen, wo ich es wirklich interessant fand, habe immer neue Aufbrüche gewagt, wenn Möglichkeiten zu Vorschriften, wenn Lehren zu Dogmen verkamen. Daneben bin ich wohl als Entwickler und Unternehmer begabt, so dass aus Ideen, die viele haben, eine Schatzkiste stimmiger Konzepte und Vorgehensweisen geworden ist und ein erfolgreiches Unternehmen. Die isb-Konzepte gehören mittlerweile in vielen Feldern zum Hand- und Denk-Werkzeug von Professionellen.

Wie sind Sie damals auf die Idee gekommen, sich beruflich vorrangig mit psychologischen Themen zu befassen und im therapeutischen Bereich tätig zu werden?

Der Psychologie Jung’scher Prägung bin ich zunächst in meiner Schwiegerfamilie begegnet, der Pädagogischen Psychologie und der Sozialpsychologie im Studium. Die Gruppendynamik und die humanistischen Verfahren habe ich mir dann selbst gesucht. Psychotherapie faszinierte mich viele Jahre mit wechselnden Schwerpunkten. Die 68er-Zeit des Aufbruchs erlaubte da viel Wildwuchs, so dass ich ab 1976 fast 20 Jahre als Psychotherapeut praktizierend und später auch lehrend tätig war.

Aber fangen wir mal ganz von vorn an: Ursprünglich wollte ich Lehrer werden, war aber kein besonders guter Schüler. Da habe ich gehört, dass man auch in der Wirtschaft als Lehrer tätig sein könne. So habe ich in Mannheim Wirtschaft studiert mit dem Ziel Handelslehrer. Im Studium begann ich dann, mich mit Hochschuldidaktik zu beschäftigen. Denn mir war schnell klar geworden, dass die herkömmlichen Lernformen wenig taugen. Die Leute müssen statt dessen miteinander reden und arbeiten, um wirklich zu lernen. Deshalb habe ich mich dann in meiner Diplom- und Doktorarbeit unter anderem mit der Gruppendynamik beschäftigt. Das war die einzige Methode, die man damals kannte, die hierzu etwas beisteuern konnte. Und so begann ich, zunächst an der Universität, später dann überregional Seminare in Gruppendynamik anzubieten. Allmählich bin ich ins freiberufliche Seminargeschäft reingewachsen, ohne dass mir damals bewusst war, was sich daraus entwickeln würde.

Anfang der 70er Jahren sind die Wellen der Humanistische Psychologie in den Heidelberger Raum geschwappt: Klientenzentrierte Gesprächstherapie, Psychodrama, Körpertherapie, Gestalttherapie und so weiter. Das habe ich dann alles mitgemacht. 1976 kam ich mit der Transaktionsanalyse in Kontakt. Ich fing sofort Feuer und begann eine systematische Ausbildung. Meine internationalen Examina machte ich 1979 als klinischer Transaktionsanalytiker in Aix-en-Provence und 1986 als Lehrtrainer und -supervisor in Barcelona. In den 80er-Jahren habe ich dann die systemische Transaktionsanalyse formuliert und über viele Jahre später mit Schwerpunkt Coaching ausgebaut. Ich war von der klassischen TA doch schon recht weit weggedriftet, als ich 2007 als europäischer Vertreter auf die internationale TA-Konferenz in San Francisco eingeladen wurde, 31 Jahre nachdem ich TA dort auf einer internationalen Konferenz kennengelernt hatte. Dort hat man mir als erstem Deutschen und weltweit erstem Vertreter des Organisationsbereichs die wohl bedeutsamste internationale Auszeichnung den „Eric Berne Memorial Award“ verliehen. Das war heilsam.

Zwischendrin hatte ich bei Milton Erickson und NLP-Vertretern studiert. Mit der Jungianischen Psychologie hatte ich mich ohnehin schon seit Jahren beschäftigt. Und über die Gruppe um Helm Stierlin in Heidelberg war ich mit dem systemischen Gedankengut in Kontakt gekommen und habe schließlich zusammen mit Gunthard Weber das Institut für systemische Therapie und Transaktionsanalyse, wie es damals hieß, gegründet. Mir erschien manches der Orientierung der TA an der Psychotherapie des letzten Jahrhunderts mit der Zeit antiquiert. Man hat ja nicht nur Defizite, Störungen und pathologische Beziehungen, sondern auch Begabungen, Kompetenzen und kreative Beziehungen! Statt den Blick dafür zu schärfen, mit wem ich mich in tragisch endende sexuelle Spiele verstricken könnte, wäre es sinnvoll zu erkennen, mit wem ich ein gutes Lern- und Arbeitsbündnis entwickeln könnte? Ressourcenorientierung macht den Unterschied und die Entwicklung professioneller Rollen.

Die damalige Psychotherapie war mir zu überwertig von einer Ideologie des ›Befreiens von etwas‹ getragen: Wenn ich, so die Annahme, Eierschalen biografischer Art, die mich noch an einer völlig freien Bewegung hindern, abstreifen würde, dann würde ich flügge werden. Das stimmt aber nicht, denn man muss auch fliegen lernen. Vielleicht schafft man es ohne die Schalen, das Nest zu verlassen und zu lernen. Ob man ein guter Flieger wird, hat aber sehr viel mit Kompetenz zu tun. Wenn man passend zum eigenen Wesen lernt, in der Welt etwas zu tun, ist das die beste psychotherapeutische Versorgung. Von daher bin ich immer eher auf der Seite der Lernkultur mit therapeutischen Effekten als auf der Seite der Psychotherapiekultur.

Dennoch hatte ich mich zwar nicht den dogmatischen Strebungen in der TA-Szene, aber doch der Professions, -Weiterbidlungs- und Prüfungskultur immer dankbar verbunden gefühlt.

Warum haben Sie sich später dazu entschieden, in die Organisationsberatung zu wechseln?

Da gab es weltanschauliche Gründe. Ich fand, dass der „Reparaturbetrieb Psychotherapie“ zwar einzelnen hilft, aber die gesellschaftlichen Probleme nicht wirksam angeht, und suchte nach weiteren Hebeln. Auch war mir selbst die systemische Orientierung dieser Zeit zu dogmatisch geworden. So war bspw. auch das systemische Therapieverständnis in sich dann einseitig oder unzureichend, wenn es die inneren Steuerungsprozesse der Menschen vernachlässigte und sich nur auf Beziehungs- Systeme fokussierte. Zudem fand ich es unpassend, Psychotherapie in gesellschaftliche Felder zu übertragen, die nach anderen Spielregeln funktionieren. Dort mussten andere Rollen, andere Kontexte, andere Beziehungslogiken und andere Verantwortlichkeiten im Vordergrund stehen. Im Organisationsbereich müssen die Selbststeuerungen und Beiträge zum System auch unter ökonomischen, rechtlichen, markt- oder branchenorientierten Gesichtspunkten Sinn machen bzw. anschlussfähig sein. Ganzheitlichkeit kann eben auch heißen, unternehmerische und andere gesellschaftliche Belange nicht nur im Prinzip mit zu berücksichtigen, sondern durch konkrete Entwicklungen von anschlussfähigen Konzepten und Vorgehensweisen.

Und dann störte mich auch die Trägheit vieler meiner Weggefährten. Sie waren auf dem Standpunkt stehen geblieben: Wir haben so tolle Dinge anzubieten, da kann jeder etwas Interessantes lernen und das Gelernte selbst in seine Welten übertragen. Mir hat das nie gereicht. Ich habe mich gefragt, was fehlt noch, was schließen wir aus, welche Berufsverständnisse exportieren wir unbemerkt? Welche Kulturinfektion ziehen sich Organisationen zu, wenn sie mit Dienstleistungen die gewohnheitsmäßigen Wirklichkeitsverständnisse und Handlungsmaxime der Anbieter ins Haus und in die Köpfe holen. Deshalb habe ich mich aufgemacht, die Konzepte der Transaktionsanalyse vom Berufsverständnis der Therapeuten zu reinigen.

Ganz praktisch bekam ich immer mehr interessante und gut honorierte Aufträge für Beratung und Workshops aus dem Organisationsbereich. So konnte ich die Welt der Unternehmen besser verstehen lernen und ausprobieren, wie ich mein Können dort nutzen konnte. Aus der konkreten Arbeit heraus entwickelte ich Konzepte, Modelle und Methoden. Sie fanden bei Kollegen Anklang und ich wurde immer mehr als Lehrer und Supervisor angefragt. So entstanden immer mehr Curricula für Professionelle im Organisationsbereich. Schließlich gab ich die psychotherapeutische Arbeit ganz auf.

Seit etlichen Jahren habe ich mit dem isb-Wiesloch nun sozusagen „meine eigene Hochschule“ aufgebaut und mittlerweile an die nächste Generation übergeben. Die Chancen, die eine Kultur ohne eine leistungsfähige Wirtschaft hat, sind nur gering. Diese Kombination aus humanistischem Bildungsideal und marktwirtschaftlichem Verantwortungsprinzip hat uns immer gezwungen, gute Kompromisse zwischen gesellschaftstauglichen Anforderungen und eigenen Wertevorstellungen zu finden.

Warum haben Sie die Schmid-Stiftung gegründet?

Ein Unternehmen, das so stark kulturgeprägt ist wie das isb, kann man nicht einfach verkaufen und jemandem übergeben, der diese Kulturtradition nicht auch pflegen kann oder möchte. Deshalb stellte ich mir die Frage, wie eine unternehmerische Nachfolge aussehen könnte? Wie meist, unter der Dusche, hatte ich plötzlich die Idee: Ich gründe eine Stiftung! Zunächst habe ich ganz naiv und einfach nur großzügig gedacht, dass ich die erheblichen wirtschaftlichen Überschüsse des Unternehmens nicht mehr brauchen werde und sie für den guten Zweck, für den das isb steht, nämlich Wirtschafts- und Gesellschaftskulturentwicklung, zur Verfügung stehen sollten. Der Zweck der Stiftung ist es, gemeinwohlorientierten Initiativen und Organisationen unser Coaching- und OE-Knowhow für ihre Entwicklung zugänglich zu machen. Aber nicht, indem wir einfach Dienstleistungen verschenken, die normalerweise gekauft werden müssten, sondern indem wir Organisationen helfen zu verstehen, wofür man Coaching- und OE-Knowhow zur eigenen Entwicklung nutzen kann und sie darin begleiten, zu lernen, wie man dieses Wissen eigenverantwortlich anwendet. Auch glaube ich, dass Individuen und Organisationen künftig einen Mix von Erwerbs- und Gemeinwohl-Orientierung entwickeln müssen und wir von Anbieterseite für solche kombinierten Entwicklungen Beispiele liefern sollten.

Inwiefern beeinflusst Ihre Persönlichkeit Ihren Coachingstil?

Von meinem Wesen her bin ich eher introvertiert. Ich habe zwar gelernt, in der Welt auch extravertiert zu sein, aber das geht bei mir nur ›auf Akku‹. Das heißt, ich brauche anschließend immer etwas Rückzug und die Erneuerung in der Introversion. Ich bin auch nicht so der wöchentliche Begleiter, eher jemand, der hilft Schlüsselsituationen für Neu-Orientierung zu kreieren und dann loslässt, bis sich die Impulse ausgewachsen haben oder neue Aspekte auftauchen. Als Ideenfinder und -entwickler kann ich am besten mit Menschen arbeiten, die ich nicht tragen muss, sondern anregen kann, so dass sie dann selbstständig weiterarbeiten können. Da muss ich dann auch nicht mehr dabei sein.

Mir fällt es eher schwer, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die viele „Wiederholungs-Runden“ drehen müssen. Da wird dann mein Drang nach Fortschritt zu sehr gebremst. Das hatte schon nach vielen Jahren Einzeltherapie dazu geführt, dass ich vor allem Arbeit in der Gruppe gemacht habe. Denn da konnte ich immer mit denen arbeiten, bei denen Entwicklung gerade möglich war. Später habe ich feste Rhythmen ganz aufgelöst und nur noch dann neue Termine vergeben, wenn ich den Eindruck hatte, dass die Klienten wirklich etwas bewegen möchten oder dass sie das in vorigen Sitzungen Erarbeitete auch verwerten. Auch deswegen gab es immer Tonaufnahmen von Sitzungen. So können Anregungen, falls sie im Moment der Sitzung nicht integriert werden, durch das wiederholte Hören Schicht für Schicht aufgenommen werden.

Dieses Prinzip des Auf-Augenhöhe-Seins mit dem Gegenüber ist mir wichtig. Deswegen ist es für mich in der Beratungsarbeit immer entscheidend, dass man erst einmal eine gemeinsame Lern- und Arbeitsbeziehung auf Augenhöhe errichtet. Natürlich muss man mit dem Klienten darüber sprechen, wo er oder sie eigentlich hin will, damit man nicht einfach irgendwas macht. Ich selbst spreche aber nicht gern von einem Ziel, sondern eher von einer Richtung. Was Richtung dabei meint, ist nicht immer leicht zu operationalisieren. Intuitiv haben wir die Fähigkeit, bei der Beschreibung von sinnvollen Richtungen bedeutsame, aber ganz verschiedene Dimensionen zusammenzubringen und zu integrieren Wir versuchen dies in unseren Gruppen durch verschiedene Spiegelungsübungen zu trainieren.

Dafür ist es wohl erforderlich, eine gewisse Offenheit für neue Erfahrungen mitzubringen, oder?

In Sachen Offenheit hat uns Milton Erickson den Weg gewiesen: Zum Beispiel soll er früher seine Ausbildungskandidaten vors Haus geführt und sie aufgefordert haben, sich den gegenüberliegenden Hügel anzuschauen. Auf diesem Hügel waren aufgrund des Windes, der von Nord nach Süd wehte, alle Bäume außer einem etwas nach rechts geneigt. Und da sagte Erickson, dass dieser eine Baum den Klienten repräsentieren könnte. Dies ist eine wunderbare Metapher dafür, dass es im Einzelfall immer wieder anders sein kann und wir uns trotz aller Erfahrungen und Empirie ein neues Urteil bilden müssen. Erickson hat Schemata ganz klar abgelehnt, er wollte vielmehr, dass die Menschen metaphorisch und an Beispielen solche Schöpfungsakte miterleben und eine entsprechende Haltung einnehmen können. Das Überraschende, das das Leben an mich herangetragen hat, war oftmals sehr lehrreich – und zwar sowohl in positiven Aspekten als auch in situativ manchmal sehr unangenehmen Geschehnissen oder Enttäuschungen.

Wie gehen Sie mit beruflichen Misserfolgen um?

Bei meiner Arbeit läuft die Selbstreflexion eigentlich immer mit. Im Laufe der Zeit entwickelt man ein Gefühl für Stimmigkeit und Richtigkeit. Ich glaube, dass Reflexion immer etwas mit dem Denkstil und der eigenen Nachdenkkultur zu tun hat. Da bin ich sehr eigen. Wenn ich etwa bemerke, dass etwas irgendwie danebengegangen ist, dann nehme ich mir Zeit, um herauszufinden, was ›das‹ war und was richtig sein könnte. Oder ich merke mir zumindest die Situation. Dann sage ich mir, dass es in Ordnung ist, jetzt nichts ungeschehen machen zu wollen. In den meisten Fällen habe ich nicht das Bedürfnis, mit Leuten darüber zu sprechen, und kann das Problem dann auch ruhen lassen!. Dann arbeitet ›es‹ in mir und irgendwann morgens unter der Dusche macht es klick – ich bin mit dem Thema auf einem neuen Niveau angelangt und es ist erst einmal abgeschlossen. Wenn ich also merke, dass etwas nicht passt, initiiere ich automatisch Suchprozesse, um herauszufinden, was da genau schiefgelaufen ist. Ich bin eher der Typ, der das sehr fein beobachtet, für sich verarbeitet und nicht alle möglichen Leute fragt. In der Regel komme ich dann auch zu Einsichten, selbst wenn ich diese nicht immer gleich gut umsetzen kann.

Was zeichnet einen guten Coach aus?

Ein guter Coach versteht sowohl Menschen als auch Organisationen – und er überträgt nicht einfach Psycho-Beratung. Er hat eine solide Ausbildung sowie Erfahrung im Organisationsbereich. Wichtig ist auch die Lebenserfahrung: Ein guter Coach hat Augenmaß und springt nicht auf jede Mode auf. Er gehört keiner Sekte an und hat kein sektenähnliches Denken. Wenn ein charismatischer Coach sektenähnlich auftritt, kann er Verantwortliche auf seltsame Trips bringen. Das kann zu pseudokompetenten Haltungen führen, die an der eigentlichen Problematik vorbeigehen. Zudem tauscht ein guter Coach Erfahrungen und Informationen mit Berufskollegen aus. Das wäre es in etwa.

Was macht Ihrer Ansicht nach einen gelungenen Coachingprozess aus?

Um das zu beantworten, würde ich gern einen Schritt zurückgehen. Coaching ist für mich nicht in erster Linie das Arbeiten mit bestimmten Methoden oder einem bestimmten Ablaufschema. Für mich ist (Professions- und Organisations-)Coaching vor allem die Entwicklung einer integrierenden Perspektive in der Beziehung von Mensch zur Berufswelt und von Mensch zur Organisationswelt. Wenn man diese beiden Pole aufmacht, heißt das, dass man die Berufswelt und ihre Auswirkungen genügend studieren und am Puls der Evolution arbeiten muss, um die Menschen und Organisationen zukunftsfähig zu machen. Ich muss quasi irgendwelche Bilder von der Entwicklung von Organisationen und der Gesellschaft schaffen, um im Umkehrschluss daraus ableiten zu können, was das für den einzelnen Menschen heißt. Die meisten Menschen fragen ja gern, ob die Organisation und der Beruf, in dem sie arbeiten, Sinn stiften. Aber es ist ja auch immer die zweite Frage relevant: Mache ich Sinn für dieses Berufsfeld und für diese Organisation? Und, weiter gedacht, wie passe ich in die Gesellschaft und ihre Entwicklung? Wenn man Coaching als Expertise versteht, heißt das, dass ich für Anschlussfähigkeit verantwortlich bin, weil menschliche und gesellschaftliche Prozesse immer ganzheitlicher Natur sind. In diesem Kontext haben wir im Deutschen Bundesverband Coaching (DBVC) auch die dialogische Qualitätssicherung eingeführt, die darauf abzielt, sich im Dialog immer wieder mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und sich gemeinsam – ungeachtet irgendwelcher Normen – weiterzuentwickeln.

Woran kann man denn erkennen, ob ein Coaching tatsächlich hilfreich war? Wie kann man also messen, ob und mit welchem Erfolg es zu den erhofften Entwicklungen geführt hat?

Hierzu fällt mir der Begriff „zirkuläre Evaluation“ ein: Wenn jemand bspw. ein Coaching macht, das er nicht selbst finanziert, gibt es ja irgendwelche Stakeholder, die wollen, dass irgendetwas anders wird, weshalb sie das finanzieren und Zeit dafür bereitstellen. Und wenn man einen Kontrakt macht, macht man den dann ja nicht nur mit dem Coachee, sondern zugleich auch mit der Organisation oder anderen Stakeholdern. Man muss demzufolge klären, wer das ist und was sie für Vorstellungen haben, was in ihren Augen also Fortschritte wären. Dazu muss man m. E. vor allem miteinander sprechen. Coaching soll ja etwas bringen, das für andere Menschen spürbar ist. Allerdings warne ich davor, das völlig zu operationalisieren. Ich halte also nichts von irgendwelchen Fragebögen, da sich komplexe Entwicklungsprozesse durch diese (wenn überhaupt) nur oberflächlich erfassen lassen. Wir Menschen sind intuitive, sinnbegabte Wesen, die ein Gespür dafür haben, wenn sich etwas Gutes entwickelt.

Obwohl ich selbst eine Ausbildung zum „Systemischen Business Coach“ absolviert habe, stehe ich keinem Verband nahe. Sie hingegen sind Ehrenvorsitzender im Präsidium des DBVC. Welche Vorteile sehen Sie für Menschen wie mich, sich einem solchen Verband anzuschließen?

Solchen Formulierung begegnet der DBVC immer wieder. Als Gegengewicht habe ich immer formuliert: Der DBVC ist eine Investorengemeinschaft! Wer zur Kulturbildung im Coaching aus weltanschaulichen Gründen beitragen will, findet dort dafür einen guten Rahmen und Gleichgesinnte. Ob es sich für die, die nur Renommee und Vorteile suchen, lohnt, weiß ich nicht zu sagen. Ich wäre dafür nicht beigetreten und wir Gründer haben ihn nicht dafür gegründet. Am wichtigsten ist die eigene Passion, ein guter Coach zu sein und mit sich und anderen dabei wahrhaftig, wesentlich und verantwortlich sein zu wollen. Dafür braucht man keinen Verband. Lebendiger Austausch in Communities reicht. Verbände und eine rechtlich geschützte Profession Coaching bringen alle Probleme einer Institutionalisierung mit sich. Verkirchlichung kann Verkrustung, Vereinsmeierei und Funktionärsherrschaft auf der einen Seite und stabile Rahmen, Nachhaltigkeit und Schutz gegen Tagesmoden auf der anderen Seite bedeuten. In jeder gesellschaftlichen Institution ist diese Spannung angelegt. Jeder muss herausfinden, wie er sich dazu stellen kann. Mein Engagement im DBVC war dadurch getragen, dass ich Mitstreiter/-innen gefunden habe, die einen lebendigen und kompromissfähigen Verband auf den Weg gebracht haben, der lebendige Qualität und offenen Diskurs mit Meinungsführerschaft und einer gewissen Expertenmacht kombiniert. Es scheint uns nachhaltig recht gut gelungen zu sein, hier einen Leuchtturm gegen manche Irrlichter zu etablieren. Ob dies über die Zeit erhalten werden kann, weiß ich nicht.

Haben Sie eine Art „Lebensmotto“?

»Wenn Du etwas in unserer Welt vermisst, sorge mit dafür, dass es in die Welt kommt.« Ich habe für Jammern und das Beklagen von Mangel nie viel übrig gehabt. Mich berührt, wenn jemand auch mit Beeinträchtigungen seinen Lebensweg eigenverantwortlich und mutig zu gehen versucht, sich nicht unnötig mit Defiziten beschäftigt, sondern aus dem Holz, aus dem er nun mal gewachsen ist, etwas Taugliches macht. Unangepasstheiten sind für mich noch nicht ins Gleichgewicht und ins richtige Zusammenspiel gebrachte Kompetenzen. Ich machte mich immer für das Ergänzende, was meiner Ansicht nach fehlte, stark. Schon als Therapeut war ich dafür, Unangepasstheiten nicht wegzutherapieren, sondern zu helfen, dass sie sich im richtigen Zusammenspiel und Zusammenhang zum Guten entwickeln. Mein Bonmot war: aus Neurose Charakter machen.

Gibt es etwas, das Sie jenen Menschen ans Herz legen bzw. mit auf den Weg geben möchten, die sich dafür interessieren, selbst Coach zu werden? Was wäre Ihre Botschaft an den Nachwuchs der Coaching-Szene?

Was sollte ich auswählen aus den vielen Erfahrungen und Einsichten, die mir das Leben beschert hat? Und wer weiß, was davon für jemand anderen bedeutsam werden kann? Mir kommt allenfalls ein Spruch aus meiner christlichen Vergangenheit in den Sinn: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“

Was meine ich bloß mit Seele? „Ich stelle mir meine Seele wie ein unsichtbares Fischernetz vor. Es hängt an Bojen, die an der Oberfläche sichtbar sind, doch das Netz reicht in Tiefen, die ich letztlich nicht ausloten kann. Das Netz selbst kann ich auch nicht wahrnehmen. Ich bekomme aber eine Vorstellung davon, durch das, was darin hängen bleibt. Allein, dass etwas geblieben ist, zeigt, dass es mit mir zu tun hat. Was geblieben ist, sagt etwas über das Netz. Wichtig ist, was bei jedem hängenbleibt. Es erzählt von Ihm.“

Vielen Dank für das Interview!

Dr. Bernd Schmid ist Leitfigur des isb-Wiesloch www.isb-w.eu, der Schmid-Stiftung http://schmid-stiftung.org/ und des International Network for Organization Development and Coaching www.inoc-network.org. Er ist u.a. Ehrenvorsitzender Präsidium DBVC, Ehrenmitglied der Systemischen Gesellschaft, Preisträger des EATA-Wissenschaftspreises 1986 und des Eric Berne Memorial Award 2007 der Internationalen TA-Gesellschaft, Life Achievement Award 2014 der deutschen Weiterbildungsbranche. Life Achievement Award der deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse 2017.

Literaturhinweise:

  • Bernd Schmid & Thorsten Veith (2014). Systemische Organisationsentwicklung: Change und Organisationskultur gemeinsam gestalten. Schäffer Poeschel.
  • Bernd Schmid & Andrea Günter (2012). Systemische Traumarbeit. Der schöpferische Dialog anhand von Träumen. Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Bernd Schmid & Christiane Gérard (2012). Systemische Beratung jenseits von Tools und Methoden. Mein Beruf, meine Organisation und ich (EHP-Handbuch Systemische Professionalität und Beratung). EHP Edition Humanistische Psychologie.

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Das Innere Team im Kriegszustand!

Dauerhafte Konflikte oder Anfeindungen können einem ganz schön zu schaffen machen. Auch (noch so) starke Persönlichkeiten verändern sich irgendwann durch solche Erfahrungen. Was kann man dann tun? Gibt es Erklärungsmodelle oder Lösungsansätze, die sich in der Praxis bewährt haben?

In diesem Beitrag wird das Modell des „Inneren Teams“ von Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun vorgestellt und es werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie es in der Mobbingberatung angewendet werden kann.

Inhalt:

Manfred Evertz

www.manfred-evertz-art.com

  • Einleitende Gedanken
  • Das Innere Team
  • Grundaufstellungen und individuelle Bandbreite
  • Die Übung
  • Störung des inneren Betriebsklimas
  • Wie sind die Konflikte zu lösen?
  • Stärkung der Persönlichkeit
  • Anwendung des Modells bei typischen Problemen in der Mobbing-Beratung
  • Welche Widerstände gibt es?
  • Fazit
  • Danksagung
  • Literatur

Einleitende Gedanken

Mobbing ist oftmals ein mulitkausal verursachtes Geschehen, welches in einem sozialen Kontext stattfindet. Folgt man Paul Watzlawick, so reicht es bei der Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen (bzw. Systeme) nicht aus, sich lediglich auf die individuellen Eigenschaften der daran beteiligten Personen zu fokussieren (Rollen, Bedürfnisse, Erwartungen, Werte, Ziele, Charakter etc.), da diese sich in einem jeweils anderen Umfeld ganz unterschiedlich auswirken können. Viele Ansätze gehen nun den Weg, dass sie einige (besonders wichtige) Aspekte des menschlichen Miteinanders fokussieren (z. B. Empathie, Wertschätzung, Toleranz etc.) und Methoden entwickeln, diese zu stärken. Zugleich arbeiten die meisten Berater, Coachs und Therapeuten zunehmend auch systemisch und berücksichtigen die entsprechenden Dynamiken der Umgebung (bzw. des Systems), denen Klienten ausgesetzt sind.

Wie wichtig das ist, zeigt sich z.B. an dem Phänomen der ‘negativen Rückkopplung’, welches die Bemühungen des Systems bezeichnet, einen Gleichgewichtszustand bzw. eine vorhandene Struktur aufrechtzuerhalten. Negative Rückkopplungen wirken also wie ein Korrektiv in Richtung „Stabilität“ oder „Beruhigung“. „Probiert“ ein Klient nun also eine veränderte Einstellung in seinem (gewohnten) Umfeld aus und zeigt sich diese in seinem Verhalten, wird das System (also das Umfeld bzw. seine Kommunikationspartner) dem automatisch entgegenzuwirken versuchen. So geschieht es nicht selten, dass der Klient schnell wieder in gewohnte Verhaltensmuster zurückfällt und die angeregten selbstreflexiven Prozesse im Sande verlaufen…

Ein wichtiger Teil der Arbeit des Beraters bzw. Coachs ist es also, den Klienten in seinem Veränderungsprozess zu bestärken. Noch hilfreicher ist es, wenn der Klient in die Lage versetzt wird, sich selbst zu (be-)stärken. Diese sogenannten ‘positiven Rückkopplungen’ unterstützen also die Veränderung (z.B. das neue Verhalten). Es stellt sich also die Frage, wie es ein Klient schaffen kann, sich selbst in seinem neu erlernten Denken und Verhalten dauerhaft zu bestärken?

Es gibt viele Ansätze, die sich mit dieser Frage beschäftigen, wie also die Resilienz eines Menschen gestärkt oder gefördert werden könne. Neben den herkömmlichen Tipps (wie z.B. eine gesunde Ernährung, Sport, regelmäßige Erholungsphasen) sind vor allem jene Modelle verbreitet, die von anerzogenen bzw. früh erlernten aber veränderbaren Glaubenssätzen bzw. Grundannahmen über sich selbst, die Mitmenschen und die Welt ausgehen. Es wird angenommen, dass sich einige davon ungünstig auf das Stressverhalten des Betroffenen auswirken und somit reflektiert und mittels bestimmter (je nach Verfahren sehr unterschiedlicher) Techniken modifiziert bzw. ausgetauscht werden sollten. Die Auswirkung auf das Verhalten bzw. auf das Wohlbefinden des Klienten ist bei dieser Vorgehensweise (bei adäquater Durchführung) in der Regel sehr positiv und nachhaltig. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie der Klient sich vor sogenannten ‘blinden Flecken’ bei der Selbstwahrnehmung schützen kann?

Das Modell des „Inneren Teams“ von Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun bietet für diese beiden Fragen praktische Lösungen an, die es dem Klienten erleichtern, ein hohes Maß an Transparenz bzw. Klarheit und damit Entscheidungsfähigkeit zu erlangen und sich innerlich zu stärken.

Das Innere Team

Inneres Team

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Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun (Psychologe und Kommunikationswissenschaftler) ist durch seine Werke „Miteinander Reden“ und hierbei vor allem durch das Nachrichtenquadrat (bzw. die „vier Seiten einer Nachricht“) bekannt geworden, dessen Aussagen sich auch in den anderen Modellen des Autors wiederfinden. In dem dritten Teil seiner Veröffentlichung bespricht er die Möglichkeit, die Persönlichkeit des Menschen als Inneres Team aufzufassen, wodurch innere Konflikte und Verhaltenstendenzen erklärbar werden. Die Mitglieder des Inneren Teams beschreibt er als Einstellungen und Tendenzen, die sich durch bestimmte Begrifflichkeiten beschreibbar und somit für den Klienten im Rahmen einer Selbstreflexion besser handhabbar machen lassen. Innere Konflikte können so durch einen inneren Dialog geklärt werden. Schulz von Thun formuliert dies so: “Die Mitglieder des Inneren Teams sind innere Wortmelder. Sie melden sich als Botschafter der Seele zu einem bestimmten Thema oder einer bestimmten Situation. Sie melden sich und wollen etwas. Zumindest wollen sie gehört und berücksichtigt werden. In der Beratung wenden wir viel liebevolle Gründlichkeit auf, um ihre Botschaft prägnant zu machen und um ihnen einen Namen zu geben.”

Da die in der Person bestehenden Konflikte neben ihrer Binnenwirkung (z.B. Energie- und damit Leistungsminderung durch andauerndes Abwägen und Unterdrückung von Verhaltenstendenzen, Kontaktlosigkeit bzw. Abspaltung von inneren Anteilen, Krankheiten etc.) immer auch nach außen wirken (z.B. durch widersprüchliche, nebulöse Kommunikation, Sprachlosigkeit, Streitsucht, etc.), können die durch diese bedingte Verhaltensweisen, die zu Konflikten führen, erklärt und aufgelöst werden. Um bestehende Kommunikationsprobleme mit anderen Menschen zu bearbeiten, scheint demnach eine Selbst- und Rollenklärung des Klienten hilfreich zu sein. Eine Begründung seines Ansatzes geht aus der sogenannten Parallelitätshypothese hervor, die besagt, dass „die innere Dynamik im Seelenleben des Menschen […] in weiten Teilen der Dynamik [entspricht], wie sie sich in Teams oder Gruppen ereignet. Das Geheimnis für ein produktives Arbeits- und Seelenleben (mit Effektivität nach außen und gutem „Betriebsklima“ nach innen) liegt im gelungenen Zusammenspiel von kooperativer Führung und Teamarbeit.“

Der Begriff des Inneren Teams wird dabei als eine Art Ideal verstanden, da sich in der Realität oftmals ein Gegeneinander, Durcheinander und Nebeneinander von inneren Stimmen bzw. Teammitgliedern zeigt. Angelehnt an den Begriff des „Selbst“ geht Schulz von Thun davon aus, dass es in jedem Inneren Team ein sogenanntes Oberhaupt gibt, welches darum bemüht sein sollte, die unterschiedlichen Interessen der Teammitglieder „unter einen Hut“ zu bringen“, wobei es aufgrund der oben angesprochenen „Unordnung“ in erster Linie um die Kunst geht, sich selbst zuzuhören. Dieses Oberhaupt hat nun wie in einem Unternehmen die Aufgaben, seine Mitglieder zu kontrollieren, den inneren Dialog zu moderieren, die verschiedenen Stimmen synergetisch zusammenzuführen, Polarisierungen aufzulösen, abgespaltene Mitglieder zu integrieren und für jede Aufgabe bzw. Situation die richtige „Mannschaft“ aufzustellen.

In jeder Kommunikation sind also immer verschiedene Mitglieder des Inneren Teams beteiligt, dessen unterschiedlichen Bestrebungen zunächst sortiert werden müssen, um vorschnelle Reaktionen zu vermeiden bzw. um angemessen mit der inneren Pluralität umzugehen.

Grundaufstellungen und individuelle Bandbreite

Um interindividuelle Unterschiede zwischen Menschen auch mittels dieses Modells verständlicher zu machen, bemüht Schulz von Thun u. a. die Persönlichkeitstheorie von Fritz Riemann, die vier Grundbestrebungen des Menschen benennt, welche wiederum als jene Pole aufgefasst werden können, in deren Spannungsfeld sich menschliches Verhalten vollzieht: Dauer vs. Wechsel und Nähe vs. Distanz. Diese vier Pole sind sozusagen die Stammspieler des Inneren Teams und stehen für jeweils gegensätzliche Bedürfnisse, die bei jedem Menschen mehr oder weniger stark ausgeprägt sind. Interindividuelle Unterschiede lassen sich durch den Wirkungsgrad dieser Motive erklären, die zu einer sogenannten „Grundaufstellung“ führen, mit der Menschen durch ihr Leben gehen.

Dass das Modell des Inneren Teams jedoch nicht statisch ist, also nicht von einer einmal und für alle Zeiten festgelegten Teamstruktur einer Person ausgeht, zeigt sich daran, dass situative Faktoren einen großen Einfluss auf dessen Zusammensetzung haben, es sich also immer wieder verändert. Dies könnte zu der Annahme verleiten, dass es keine erkennbare, einheitliche Persönlichkeitsstruktur gibt, was eine Analyse deutlich erschweren würde. Dass das nicht so zu verstehen ist, lässt sich z.B. an dem Prinzip der personenbezogenen Grundaufstellungen erklären.

Hier zeigt sich die dynamische Variabilität des Modells dadurch, dass sich – je nachdem, mit wem es eine Person zu tun hat – die Aufstellung des Inneren Teams verändert. Selbst wenn man situative Veränderungen dieser Zusammensetzung berücksichtigt, ergibt sich zumeist jedoch eine typische Konstellation. Als Beispiel führt Schulz von Thun das Verhalten seines Sohnes an, der sich seinem Vater gegenüber anders verhält, also andere Teammitglieder „ins Boot holt“, als er dies gegenüber seiner Mutter tut. So hatte die Mutter es häufig mit dem trotzigen Poltergeist sowie mit dem wehleidigen Jammerpott zu tun, während der Vater mit dem selbständigen Manager („Ich kann das schon allein!“) und dem rücksichtsvollen Partner („…wenn es Dir nichts ausmacht, würde ich gern…“) konfrontiert wurde. Je nachdem, welche Rolle eine Person also im Leben des Betroffenen spielt, werden verschiedene Teammitglieder aktiv und treten in die Interaktion. Dies macht deutlich, dass jeder Mensch über ein hohes Maß an Flexibilität verfügt und sich jeweils individuell auf seinen Gegenüber einstellt. Man verhält sich demnach „seinem Gegenüber entsprechend“ und erlebt dies in der Regel auch so. Dies impliziert eine Veränderbarkeit der Aufstellungen im Rahmen der individuellen „personalen Bandbreite“, wobei nicht eine vollkommen andere Persönlichkeit dabei zutage tritt, sondern lediglich eine andere Facette von ihr sichtbar wird.

Der Abgrenzer

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Welche Teammitglieder jeweils ins Team geholt werden, hängt entscheidend von der Rolle ab, die diese Person im Leben des Betroffenen spielt, und von den gezeigten Verhaltensweisen (die ja oftmals auch typisch bzw. charakteristisch sind). Diese spezifischen „Hervorlockungen“ können nun reziprok („…wie es in den Wald hineinruft“) oder komplementär sein. Schulz von Thun verweist dabei auf Experimente und Übungen, in denen sich gezeigt hat, dass die Ausstrahlung eines Menschen innerhalb der ersten Minuten bereits die innere Aufstellung einer „Gegenmannschaft“ beim Gegenüber hervorruft. Auch wenn situative Faktoren dabei eine wichtige Rolle spielen, lohnt es, sich der eigenen Außenwirkung bewusst zu werden. Ein Beispiel aus dem Buch verdeutlicht diesen Zusammenhang: „Ein Kollege, der eher verschlossen ist (der Verschlossene), könnte z.B. den besorgten Seelendoktor bei seinem Gegenüber aktivieren, der dann durch sein Verhalten (z.B. durch besorgtes Nachfragen) wiederum ein darauf eingestelltes Teammitglied bei ihm aktiviert (z.B. den Grenzwächter) und ihn zu entsprechenden Reaktionen veranlasst (z.B. Abgrenzungs- bzw. Abwehrverhalten).“

Weitere situative Aspekte, die die Zusammensetzung des Inneren Teams maßgeblich beeinflussen, sind z.B. das entsprechende Thema, um das es geht, sowie der Kontext, in dem die Kommunikation stattfindet. In der Beratung werden also neben den inneren Stimmen des Klienten immer auch diese äußeren Einflussfaktoren berücksichtigt und in die Analyse mit einbezogen. Für die Mobbing-Beratung besonders wichtig ist auch die berufliche Rolle des Betroffenen, die zu einer Aktivierung von jeweils spezifischen Teammitgliedern führt. So wurde im Rahmen von wissenschaftlichen Arbeiten bereits mehrfach untersucht, welche Teamaufstellungen bei welchen Berufen typisch sind. Jede Profession beinhaltet demnach spezielle „seelische Herausforderungen“, denen sich der Betroffene stellen muss. Weicht die gebotene Teamaufstellung zu sehr von den bevorzugten Konstellationen des Klienten ab, wird dieser sich in seinem Beruf wahrscheinlich eingeengt und eher „unvollständig“ fühlen. Durch diesen Mangel an erlebter Vitalität kann es dann zu Konflikten mit dem Umfeld kommen.

Die Übung

Um nun mit dem Ansatz des „Inneren Teams“ zu arbeiten, kann man eine Übung durchführen, die aus fünf Schritten besteht. Grundsätzlich geht es um eine innere Standortanalyse bezogen auf eine bestimmte Situation oder (häufiger) auf eine persönliche Frage, die dem Klienten auf spielerische Art Einsicht die eigene Persönlichkeitsstruktur gewähren kann. Das eigene Verhalten (bzw. die eigenen Reaktionen) – z.B. in einer Konfliktsituation – wird somit einsichtiger und im stärkeren Maße beeinflussbar. Die Übung dient also dazu, das Innere Team des Klienten zu optimieren. „Richtige“ und „falsche“ Lösungen gibt es dabei nicht, aber sicher solche, die „funktionieren“… Schulz von Thun spricht in diesem Zusammenhang von Stimmigkeit: „authentisch und situationsgerecht – das eine nicht ohne das andere und das andere nicht ohne das eine.“

1. Schritt: Die Fragestellung

Zunächst wird ein Stuhl in den Raum gestellt, auf den sich der Klient setzt. Er wird aufgefordert, sich vorzustellen, dass er nun in der Position des Oberhauptes und darum bemüht ist, eine Lösung für die belastende Situation zu finden. Zunächst geht es darum, eine Fragestellung zu überlegen, die er in dieser Funktion mit seinem Inneren Team klären möchte. Diese Frage soll der Klient dann in einem kurzen Satz formulieren und auf eine Karte schreiben. Mit der Beantwortung dieser Frage sollte der Klient einen Weg für sich finden, mehr Klarheit in die Mobbing-Situation zu bringen oder sie eventuell sogar auflösen zu können, bzw. ein besseres Verständnis darüber erlangen, warum er unter dieser Situation so sehr leidet, damit er künftig besser damit umgehen kann.

Beispiele für solche Fragen könnten sein:

  • Warum belastet mich meine Situation am Arbeitsplatz zurzeit so sehr?
  • Warum lasse ich mich von Herrn Meier so unter Druck setzen?
  • Warum fühle ich mich in meinem Team so unwohl?

Besonders hilfreich für den Klienten ist es, bereits diese Frage lösungsorientiert zu formulieren („Wie schaffe ich es, mit dieser Situation gelassener umzugehen?“). Anschließend legt er diese vor sich auf den Boden und spricht sie laut aus.

2. Schritt: Die inneren Stimmen

Der Klient ist nun aufgefordert, sich gedanklich und emotional ganz auf seine Fragestellung einzulassen bzw. sich in eine typische Konfliktsituation hineinzuversetzen. „Befindet“ sich der Klient dann (gedanklich) in der Situation und hat er einen emotionalen Zugang zu dem, was in einem solchen Moment in ihm vorgeht, können diese Emotionen und die durch sie entstehenden Gedanken benannt werden. Schulz von Thun spricht in diesem Zusammenhang von ‘Botschaften’ mittels derer sich die Mitglieder des Inneren Teams zu Wort melden. Diese müssen zunächst erkannt und dann überprüft werden, inwieweit sie sich für den Klienten stimmig anfühlen bzw. umformuliert werden müssten. Nach Schulz von Thun könnte die dabei gestellte Frage lauten: „Wer meldet sich in Ihnen?“ Das kann dann etwas sein, was der Betreffende zu sich selber sagt, es kann aber auch einen vorgestellten Adressaten der Außenwelt haben (z.B. „Was bilden Sie sich eigentlich ein?“ Oder: „Was bildet der Kerl sich eigentlich ein?“).

Der Klient wird also gebeten, alle Gedanken, Gefühle bzw. Impulse aufzuschreiben, die Ihm in den Sinn kommen, ohne sie dabei zu bewerten. Er verbleibt solange in der Fragestellung bzw. in der Konfliktsituation, wie er es aushalten kann und schreibt alles auf, was ihm einfällt. Auch auftretende Gefühle können in entsprechende Sätze übersetzt und notiert werden.“

Selbstverständlich sollte man bei der Durchführung dieser Übung Rücksicht auf die aktuelle Belastbarkeit des Klienten nehmen und diesen nicht durch zu intensives Insistieren überfordern. Sollte man während der Durchführung der Übung bereits feststellen, dass es dem Klienten schwer fällt, solche Gedanken oder Gefühle aufzuschreiben, können gezielte Fragen gestellt werden, die ihm dabei helfen.

Fragebeispiele:

  • Wie fühlen Sie sich dabei, wenn Person X sich Ihnen gegenüber so verhält?
  • Welcher Gedanke geht Ihnen dabei durch den Kopf?
  • Was würden Sie in diesem Moment am liebsten tun?
  • Warum tun Sie das nicht? Was hält Sie davon ab?

Zu bedenken gilt es hierbei, dass Stimmen der Teammitglieder sich ganz unterschiedlich äußern können. Einige tauchen in einer entsprechenden Situation sofort auf, andere melden sich erst viel später, dann allerdings häufig mit aller Deutlichkeit. Einige sind leise, andere laut (also mehr oder weniger leicht wahrnehmbar). Auch sind sie in einem unterschiedlichen Maße willkommen, was bedeutet, dass dem Klienten einige dieser Stimmen unangenehm oder sogar peinlich sein könnten. Auch kommt es nicht selten vor, dass sich die notierten Aussagen widersprechen.

Diese inneren Regungen (Gedanken, Gefühle, Handlungsimpulse, etc.) soll er anschließend mit Namen versehen, die für die diesen zugrunde liegenden Anteile der eigenen Persönlichkeit stehen, und jeweils auf eine Karte schreiben. Bei der Wahl der Namen kann es hilfreich sein, sich auf das der jeweiligen Regung zugrundeliegende Motiv oder Bedürfnis zu beziehen.

Beispiel 1:

  • „Ich will meine Ruhe haben!“

Beispielhafte Deutung 1:

  • Motiv: Sehnsucht nach Entspannung und Ruhe.
  • Name: Der Erholer, der Ruhemensch, der Einsiedler etc.

Beispielhafte Deutung 2:

  • Motiv: Weniger Belästigung durch Dritte oder die Umgebung
  • Name: Der Abschirmer, der (Ent-)Störungsminister etc.

Beispiel 2:

  • „Ich will meinen Arbeitsplatz nicht verlieren!“

Beispielhafte Deutung 1:

  • Motiv: Angst vor sozialem Abstieg
  • Name: Der Sicherheitsbedürftige, der Ehrgeizige, der fürsorgliche Familienvater etc.

Beispielhafte Deutung 2:

  • Motiv: Ich will mich von meinen Kollegen nicht kleinkriegen lassen!
  • Name: Der Kämpfer, der Beharrliche, der Durchsetzer eigener Interessen

Bei der Auswahl der Namen sind der Fantasie des Klienten keine Genzen gesetzt. Je nachdem, welches Bedürfnis beim Betroffenen im Vordergrund steht (z.B. also der Wunsch nach Ruhe oder nach weniger Störung), sollte ein entsprechender Name gefunden werden. Dieser sollte so gewählt sein, dass er möglichst treffend beschreibt bzw. beinhaltet, worauf es in dem entsprechenden Satz bzw. Gedanken ankommt. Es gibt keine „richtigen“ oder „falschen“ Namen, nur solche, die die Stimme treffend oder weniger treffend charakterisieren. Um Veränderungen in emotionalen Reaktionsmustern zu erreichen, ist es hilfreich, das Unbewusste durch möglichst „starke“ Bilder anzusprechen.

Sind sämtliche „Regungen“ benannt, die dem Klienten in den Sinn kommen, werden die diese (also die Teammitglieder), die an der Situation beteiligt sind, so auf den Boden gelegt bzw. angeordnet, wie sie in Beziehung zueinander stehen. Dieses Vorgehen ist vergleichbar mit einer Aufstellung, bei der inhaltliche oder motivationale Ähnlichkeiten bzw. Tendenzen durch räumliche Nähe gekennzeichnet werden. Teammitglieder, die sozusagen an einem Strang ziehen, bilden dabei eine Art innere Koalition, die nun sichtbar wird. Die auf diese Weise entstehende Visualisierung dient dem Klienten dazu, einen unmittelbaren Zugang zu seiner inneren Struktur zu bekommen. (Schulz von Thun schlägt in diesem Zusammenhang übrigens alternativ vor, mit Zeichnungen zu arbeiten.)

3. Schritt: Identifikation mit den einzelnen Teammitgliedern

Wie man nun weiter mit diesen Ergebnissen arbeitet, sollte man von der individuellen Situation des Klienten sowie von den Ergebnissen der ersten beiden Schritte abhängig machen. Hier beginnt die eigentliche Arbeit, in der es darum geht, die Dynamiken und eventuelle Konflikte transparent zu machen bzw. zu analysieren (auch in Hinblick darauf, wie sie nach außen wirken) und dem Klienten somit auf beinahe spielerische Art einen Diskurs mit den verschiedenen Persönlichkeitsanteilen zu ermöglichen. Der Autor geht davon aus, dass die Fähigkeit zur inneren Teambildung zu mehr Resilienz und einem klareren Auftreten verhilft.

Um dies zu ermöglichen, wird der Klient nun aufgefordert, sich nacheinander auf die am Boden platzierten Karten zu stellen und die jeweilige Position bedingungslos einzunehmen bzw. das dahinterliegende Bedürfnis ganz klar zu spüren und zu äußern, ohne sich dabei durch die „Stimmen“ der anderen Teammitglieder beeinflussen bzw. stören zu lassen. Er soll sich also, abhängig davon, auf welcher Karte er gerade steht, ganz und gar mit dem entsprechenden Teammitglied identifizieren und dieses ungefiltert zu Wort kommen lassen. Erzielt werden soll dadurch ein bewusstes Erleben der eigenen Bedürfnisse und Motive.

4. Schritt: Der innere Dialog

Nun obliegt es dem Coach, Therapeuten oder Berater, die Teammitglieder miteinander in eine Art Dialog zu bringen. Hierzu stellt er dem Klienten Fragen, die dieser dann aus der Perspektive der angesprochenen Teammitglieder beantwortet. Auch in diesem Schritt stellt der Klient sich immer auf jene Karte, dessen Position er gerade einnimmt. Innere Konflikte können auf diese Weise diskutiert bzw. offen ausgesprochen werden.

In dieser Phase ist es möglich, die Karten neu anzuordnen, also neue Koalitionen zu bilden, oder neue Karten hinzuzunehmen (s. u.). Die Möglichkeiten zur Reflexion, die sich nun mittels des Modells ergeben, sind sehr vielfältig und können hier nur bruchstückhaft dargestellt werden. Im Mittelpunkt dabei steht die Auflösung innerer Teamkonflikte. Dies gilt auch für die Mobbingberatung, wobei hier besonders auf Teammitglieder zu achten ist, die sich bezogen auf den Konfliktpartner bzw. auf die für die Mobbing-Handlungen ausschlaggebenden Aspekte (z.B. berufliche Rolle, Arbeitsplatz) zu Wort melden.

5. Schritt: Die Entscheidung

Nachdem die einzelnen Teammitglieder alle zu Wort gekommen sind und sich miteinander auseinandergesetzt haben, sich eventuell neue Koalitionen entwickelt haben und/oder neue Teammitglieder einberufen worden sind, es also zunächst nichts weiter hinzuzufügen gibt, verkündet das Oberhaupt eine Entscheidung. Hierzu setzt sich der Klient wieder auf den Stuhl und betrachtet die Karten nochmals (in ihrer jetzigen Anordnung). Dann entscheidet er, wie er die unterschiedlichen Motive und Bedürfnisse künftig „unter einen Hut“ bringen möchte bzw. wie er meint, mit ihnen umgehen zu wollen. Das Ergebnis soll also eine Art Handlungsstrategie oder innere Haltung sein, die sich für den Klienten bezüglich der zuvor formulierten Fragestellung nun entwickelt (hat).

Störung des inneren Betriebsklimas

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Gehen die Meinungen bzw. die Bedürfnisse der einzelnen Mitglieder des Inneren Teams zu sehr auseinander und kann keine Einigung erzielt werden, so führt dies zu Teamkonflikten, die immer auch eine Außenwirkung haben. Infolge interner Reibungsverluste kann es somit zu einer Leistungsminderung (bis hin zur Erschöpfung) aber auch zu einer unstetigen Außenwirkung kommen, die zu einem Image- oder Vertrauensverlust führen kann. Das Impression-Management des Betroffenen, welches normalerweise u. a. darauf ausgerichtet ist, nach außen hin konsistent zu erscheinen, funktioniert dann nicht mehr. Auch in der Kommunikation des Betroffenen zeigen sich die inneren Konflikte deutlich, z.B. durch widersprüchliche oder nebulöse Aussagen. Dadurch kommt es zu einer Schwächung der eigenen Wirksamkeit bzw. Durchsetzungsfähigkeit, die entweder genereller oder punktueller (bezogen auf einzelne Themen, Situationen oder Personen) Natur sein kann. Eskaliert der Konflikt zwischen den Teammitgliedern und sind die beteiligten Parteien in etwa gleichermaßen einflussreich, kann dies sogar zu Handlungsblockaden führen, die im Extremfall chronisch werden können. Oftmals wird durch die inneren Konflikte auch eine Aggressivität nach außen hin spürbar, die abschreckend wirken kann.

Eine Schwierigkeit bei der Erkundung des Inneren Teams bzw. der an einem Konflikt beteiligten Mitglieder sind die sogenannten Klumpatsch-Gestalten, die durch die Verschmelzung zweier Teilnehmer eines inneren Konflikts entstehen können. Wie bei einer chemischen Verbindung entwickeln diese Mitglieder dann im Zustand der Verschmelzung neue Eigenschaften, die eine Identifizierung erschweren. Besonders die Symptome, die oftmals im Zusammenhang mit einer Depression auftreten (Lustlosigkeit, Müdigkeit, Resignation etc.), sind besonders verdächtig und sollten einer genaueren Analyse unterzogen werden. Das Erkennen der miteinander verstrickten Teammitglieder fällt einem Außenstehenden in den meisten Fällen leichter als dem Betroffenen selbst.

Es wird davon ausgegangen, dass Menschen ein Idealbild von sich haben, das sie anzustreben bzw. zu sein versuchen. Daraus lässt sich ableiten, dass das Oberhaupt dazu neigt, sich mit einigen Mitgliedern seines Teams zu verbünden („Es ist ein Teil von mir.“) bzw. (bei einer Überidentifikation) mit ihnen zu verschmelzen. Andere Mitglieder hingegen wertet es ab („Es ist nur ein Teil von mir.“) oder es versucht, diese zu ignorieren und aus Entscheidungsprozessen auszugrenzen, sie also abzuspalten. Diese abgespaltenen Teammitglieder verschwinden aber nicht einfach, sondern wirken entweder leise aus dem sogenannten Bühnenhintergrund oder sogar aus dem Untergrund weiter. Sie wirken also wie ‘ungeschlossene Gestalten’, die immer wieder versuchen, zu Wort zu kommen bzw. ihren Bedürfnissen Gehör zu verschaffen, und beeinflussen bzw. beeinträchtigen das Verhalten des Betroffenen meist unbewusst. Die Klumpatschbildung könnte eine Folge solcher Unterdrückungsmaßnahmen sein. Schon die Triebreduktionstheorie von Sigmund Freud besagt, dass die Unterdrückung bzw. Abspaltung innerer Anteile zu hohem Energieverlust und zugleich zu selbstschädigenden Verhaltenstendenzen führen kann. Mit der Methode des Inneren Teams können also Phänomene der Verleugnung, Projektion, Sublimierung, Verschiebung etc. durch einen inneren Dialog der an der Entstehung beteiligten Teammitglieder auf eine leicht zugängliche Weise erhellt und bearbeitet werden, ohne sich dabei den Konstrukten von nebulösen Trieben zu bedienen.

Für die Mobbing-Beratung kann es sinnvoll sein, die auf den Konfliktpartner ausgerichtete, personenbezogene Aufstellung des Teams nach bestehenden Konflikten zu untersuchen. Sollten sich diese finden und auflösen lassen, kann sich das Kommunikations- bzw. Konfliktverhalten des Klienten so maßgeblich verändern, dass sich die Situation auflöst. Aber auch Teamkonflikte, die aufgrund der beruflichen Rolle, des Arbeitsumfelds oder durch die Arbeit selbst entstehen, können nach außen hin wirken und andere (z.B. die Führungskraft oder Kollegen) dazu veranlassen, sich gegenüber dem Klienten distanziert bis feindselig zu verhalten. Dies wird wahrscheinlich umso eher der Fall sein, wenn die Inneren Teams dieser Personen mit den gleichen oder ähnlichen Konflikten zu kämpfen haben. Der Betroffene würde in dem Fall als eine Art Projektionsfläche fungieren und somit zur Zielscheibe werden. In den Konfliktsituationen können auch Ängste des Betroffenen zu Teamkonflikten führen, die sich nach außen z.B. durch undiplomatisches Verhalten oder durch Handlungsblockaden zeigen können. Diese Ängste bzw. die dahinterliegenden Erwartungen und Motive gilt es dann genauer zu betrachten (vorzugsweise im Rahmen themen- oder situationsbezogener Teamaufstellungen).

Wie sind die Konflikte zu lösen?

Zur Auflösung innerer Teamkonflikte schlägt Schulz von Thun vor, die (beiden) Kontrahenten zunächst zu identifizieren und sich dann jedem einzeln in Form einer „monologischen Selbstoffenbarung“ zu widmen. Diese Methode lässt sich auch in der Gestalttherapie wiederfinden („Zwei-Stuhl-Technik), wo die „streitenden“ Positionen (nacheinander) auf zwei sich gegenüber stehenden Stühlen (oben wurde von einer Positionierung auf den jeweiligen Karten gesprochen) zu Wort kommen gelassen werden. Hierbei geht es darum, in Kontakt mit den konträren Teammitgliedern zu treten. Anschließend beginnt die Suche nach einer Integration dieser (komplementären) Polaritäten. Anstatt das eine also zu Gunsten des anderen auszuschalten oder vermengte Gefühle anzustreben, wird nach einem “Sowohl-als-auch”-Ansatz Ausschau gehalten, mit dem der Klient eine neue Beweglichkeit entwickeln kann. Abschließend kommt bei dem Modell von Schulz von Thun hinzu, dass eine Teamkonferenz einberufen wird, die es zum Ziel hat, eine neue Teamvereinbarung zu treffen, an der die beiden Konfliktparteien gleichberechtigt beteiligt sind und die den Anforderungen der Situation gerecht wird (s. o.).

Stärkung der Persönlichkeit

Manfred Evertz

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Wird bei der Benennung der an der Situation beteiligten inneren Anteile bzw. der Teammitglieder des Klienten deutlich, dass einige von ihnen zwar gute Absichten haben, jedoch zu einer Verschlechterung der Befindlichkeit bzw. der Situation beitragen, sie also dysfunktional sind, könnten die entsprechenden Reaktionen hinterfragt und (gedanklich) modifiziert werden. So kann eine neue Vorgehensweise für die Verfolgung eines zugrundeliegenden Bedürfnisses gefunden werden, die sich weniger selbstschädigend auswirkt. Das Ziel ist es, das sich der Klient bewusster darüber wird, wie er die Situation aktiv beeinflussen oder wie er sich von ihr abgrenzen kann.

Hierbei wird davon ausgegangen, dass (besonders) in Konfliktsituationen oftmals Verhaltensmechanismen bzw. Gedanken aktiviert werden, die bereits in der frühen Kindheit erlernt wurden und inzwischen dysfunktional sind, also kontraproduktiv auf die Situation einwirken. Durch die Bewusstmachung der dahinterliegenden Bedürfnisse können neue Strategien entwickelt werden, um einer „Befriedung“ dieser nahezukommen.

Im Rahmen der Transaktionsanalyse (TA) wird in diesem Zusammenhang von ‘Antreibern’ gesprochen, die in der frühen Kindheit vor allem aus dem Bedürfnis heraus entstanden sind, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen. Auch wenn die daraus resultierenden Verhaltensweisen in der Kindheit vielleicht zum Ziel führten, liegen ihnen Einstellungen zugrunde, die in der Gegenwart übertriebenes oder selbstschädigendes Verhalten auslösen können, die also dysfunktional sind. In der TA werden fünf solcher Antreiber benannt, die durch sich ihnen gegenüber komplementär verhaltenen Erlaubern aufgelöst bzw. ersetzt werden können. Um entsprechende „Erlauber“ ins Team zu holen, kann man den Klienten bitten, eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit zu unternehmen, um nach Situationen zu suchen, in denen diese Erlauber sich (erfolgreich) zu Wort gemeldet haben. Ist eine solche Situation gefunden, kann die entsprechende Stimme benannt und auf eine neue Karte geschrieben werden, die dann auch auf dem Boden platziert wird (s. o.).

1. Der Antreiber „Sei perfekt!“ weist auf ein schwaches Selbstwertgefühl hin, welches den Betroffenen ständig daran erinnert, besser werden zu müssen bzw. nicht gut genug zu sein. Diese innere Haltung strahlt aus und führt eventuell dazu, dass andere Menschen sich ihm gegenüber wenig wertschätzend verhalten. Als Erlauber könnte man nun Mitglieder ins Innere Team holen, die es dem Betroffenen gestatten, Fehler machen zu dürfen, bei anderen nachsichtig zu sein und die ein ständiges Sich-Rechtfertigen unterbinden. Der lässige Schüler, der tolerante Beobachter oder der selbstverliebte Diktator wären Beispiele für entsprechende Teammitglieder.

2. Der Antreiber „Sei Stark!“ wird hervorgerufen durch die innere Haltung, keine Schwäche oder (negativen) Gefühle zeigen zu dürfen. Erlaubnisse könnten in dem Fall sein: „Du darfst Dir Hilfe holen“ (der Expertensucher), „Du darfst auch negative Gefühle haben“ (der traurige Clown) sowie „Du darfst Zuwendung annehmen und zeigen“ (der liebevolle Casanova).

3. Der Antreiber „Sei (anderen) gefällig!“ wird durch die Haltung hervorgerufen, dass die eigenen Gefühle und Bedürfnisse denen anderer Menschen unterzuordnen seien. Mögliche Erlaubnisse wären: „Du darfst Rücksicht auf Deine Bedürfnisse und Gefühle nehmen“ (der smarte Egoist), „Du darfst Dich von den Meinungen anderer freimachen“ (der Freidenker) sowie „Du darfst so sein, wie Du bist“ (der geläuterte Pinocchio).

4. Beim Antreiber „Beeil Dich!“ geht es darum, keine Zeit zu vergeuden und sich ständig in Bewegung zu halten. Ruhephasen werden oftmals mit einem Gefühl der Wert- und Nutzlosigkeit assoziiert, was zu einer ständigen Unruhe und Hektik führen kann. Gegensteuern könnten zum Beispiel die Erlaubnisse „Du darfst Dir die Zeit nehmen, die Du brauchst“ (die selbstbewusste Momo), „Du darfst nach Deinem Rhythmus leben“ (der kreative Dirigent) oder „Auch Du darfst Pausen machen“ (der Pausenbeauftragte).

5. Der Antreiber „Streng Dich an!“ geht davon aus, dass man sich immer bemühen und sein Bestes geben muss. Er drängt zu immer weiteren Anstrengungen, selbst wenn der Klient keine Hoffnung auf Erfolg hat. Erlaubnisse könnten hier sein: „Du darfst die Dinge so gut erledigen, wie Du es kannst“ (der Hobby-Bastler), „Du darfst an neue Aufgaben ruhig und gelassen herangehen“ (der Zen-Meister) sowie „Du darfst erfolgreich sein und das auch genießen“ (der innere Bob Marley).

Ein weitere Möglichkeit ist die Suche nach Teammitgliedern, die in einer entsprechenden Konflikt oder Mobbing-Situation zu einer Stärkung des Klienten beitragen können, um diese dann aktiv in das Geschehen mit einzubinden. Hier könnte die Frage nützlich sein, was der Klient sich in dieser Situation selbst empfehlen würde, wäre er sein eigener Berater? Schulz von Thun spricht in diesem Zusammenhang von der Aufgabe des Oberhauptes, für eine gegebene Situation das jeweils richtige Team aufzustellen. Doch welche Mitglieder sind gemeint? Diese Frage lässt sich wohl nur individuell beantworten, wobei es hilfreich ist, auf die vorhandenen Ressourcen oder auf vergangene Erfahrungen (im Sinne eines lösungsorientierten Vorgehens) des Klienten zurückzugreifen (z.B. persönliche Stärken, Erholungs- sowie wirksame Selbstregulationsmechanismen etc.).

Anwendung des Modells bei typischen Problemen in der Mobbing-Beratung

Auch wenn Klienten mit sehr individuellen Problemkonstellationen in die Beratung kommen, so lassen sich doch immer wieder typische Verhaltensmuster finden, die eine entsprechende Herangehensweise sinnvoll erscheinen lassen.

Problem 1: Ratlosigkeit

Oftmals wissen Betroffene die Situation, in der sie sich befinden, nicht richtig einzuschätzen. Vor allem in Hinsicht auf die Motive des Mobbers herrscht oft Unklarheit. Manche Klienten scheinen damit überfordert zu sein, adäquat bzw. zielgerichtet auf die Mobbing-Handlungen zu reagieren.

Entscheidungen und Handlungsstrategien werden immer wieder umgeworfen bzw. verändert. Hier könnte eine Klärung des „inneren“ Teams dazu verhelfen, sich des Ursprungs der unterschiedlichen Handlungsimpulse bewusst zu werden und eine klarere Ausrichtung zu erreichen. Auch kann durch die Analyse der Außenwirkung besprochen werden, wie das eigene Verhalten auf die Mitmenschen (auch auf die Täter) wirkt bzw. welche Mitglieder des Teams beim Gegenüber dadurch aktiviert werden.

Problem 2: Kontrolle und Schuldzuweisung

Sucht ein Betroffener nach einem Schuldigen für die Mobbing-Handlungen und ist er darum bemüht, diesem seine Schuld mit aller Kraft (z.B. durch das Anfertigen eines detaillierten Mobbing-Tagebuchs) nachzuweisen, so kann dies als Versuch gewertet werden, die Kontrolle über die Situation zurückzuerlangen. Grundsätzlich ist dagegen nichts einzuwenden. Sollte sich jedoch herausstellen, dass diese Bemühungen in einem Übereifer und schließlich in Erschöpfungszuständen münden, dann kann mittels einer „Teamsitzung“ versucht werden, andere Möglichkeiten zu finden, die Kontrolle über die Situation zu erlangen, um somit den „Kampf gegen Windmühlen“ zu beenden.

Problem 3: Unversöhnlichkeit

Ist beim Klienten festzustellen, dass dieser es sich zum Ziel gemacht hat, seinen Kontrahenten „auf Teufel komm’ raus“ besiegen zu wollen und sind bereits erste gesundheitliche bzw. psychische Beeinträchtigungen bei ihm erkennbar, kann es ratsam sein, die Bedürfnisse der entsprechenden Teammitglieder für diesen „Siegeswillen“ genauer zu hinterfragen. Entlastend für den Klienten könnte es sein, eine Versöhnung mit dem „Feind“ anzustreben bzw. zu überprüfen, ob Abgrenzungsstrategien nicht der bessere Weg wären? Nach Aufdeckung der dahinterliegenden Bedürfnisse können also Strategien entwickelt werden, die sich für den Klienten weniger belastend auswirken und somit funktionaler sind.

Problem 4: Angst

Einige Klienten neigen dazu, sich von anderen Menschen zu wenig abzugrenzen und sich von ihnen zu viel gefallen zu lassen. Die gewählten Strategien dienen lediglich der Konfliktvermeidung und sind gekennzeichnet durch Unterordnung und Passivität. Hier kann man zunächst das Prinzip der komplementären Hervorlockungen aufzeigen und in einem nächsten Schritt die Ängste oder Bedürfnisse jener Teammitglieder hinterfragen, die für diese verantwortlich sind.

Problem 5: Die unsympathische Ausstrahlung

Einige Menschen geraten aufgrund eines (etwas) auffälligen Sozialverhaltens immer wieder in Konflikte mit ihrem Umfeld, da sie (unwillkürlich) gegen Normen verstoßen und somit den Ärger ihrer Mitmenschen auf sich ziehen. Gründe hierfür können fehlende Selbsteinsicht aber auch psychische Erkrankungen bzw. Auffälligkeiten sein, auch solche, die erst durch das Mobbing entstanden sind. Eine Analyse der beteiligten Teamstruktur und ihrer Hervorlockungen kann auch hier hilfreich sein, um die Außenwirkung der Betroffenen zu verbessern und bestehende Konflikte aufzulösen.

Welche Widerstände gibt es?

Ungeliebt

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Ein wesentlicher Widerstand ergibt sich z.B. aus dem Wunsch des Menschen, normal zu sein, welcher bereits den frühen Vertretern der humanistischen Psychologie ein gewisses Unbehagen bereitete. Dieser Widerstand kann zum Beispiel durch das Teammitglied des angepassungsbereiten Nachahmers benannt und in seiner Wirkungsweise hinterfragt werden. Hinter seiner Stimme verbirgt sich der Wunsch nach Zugehörigkeit bzw. danach, Verbundenheit zu spüren. Dieses Bedürfnis gehört (selbst nach neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen) zu den zwei wesentlichen Grundmotiven des Menschen. Das andere bzw. zweite Motiv ist Wachstum bzw. Selbstentfaltung oder Autonomie, und genau das soll durch die Anwendung des Modells gefördert werden.

In dem Ansatz von Schulz von Thun geht es dabei vor allem um eine wesensgemäße Stimmigkeit des Verhaltens. Carl Rogers sagte hierzu einmal: „Sei Du selbst und werde, wer Du bist.“ Allerdings bedarf es wohl einiger Übung, um den dafür erforderlichen Mut zu sich selbst zu entwickeln. „Stimmigkeit“ bedeutet nun, sich in Übereinstimmung mit der Wahrheit der Gesamtsituation zu befinden. Hierzu gehören nach Schulz von Thun die innere Verfassung und Zielsetzung des Betroffenen und der Charakter der Beziehung zum Gegenüber (auch der Rollenbeziehung), aber auch die innere Verfassung des Empfängers sowie die Anforderungen der Situation.

Fazit

Durch die Auseinandersetzung mit seinem eigenen Inneren Team, also mit seinen unterschiedlichen Motiven, Bedürfnissen, Einstellungen etc. kann ein Klient eventuell neue Möglichkeiten für sich entdecken, mit einer Situation so umzugehen, dass er nicht mehr (so sehr) darunter leidet. Eventuell führt die Bewusstmachung und Reflexion innerer Konflikte sogar zu dessen Auflösung? Durch ein klares Auftreten und strikte Abgrenzung lassen sich viele Mobbing-Situationen bereits in der Phase ihrer Entstehung auflösen. Das bedeutet für diesen Ansatz, dass er umso wirkungsvoller ist, je früher er angewendet wird. Eine Möglichkeit, dem Klienten eine größere Bewusstheit über und einen leichteren Zugriff auf die eigenen Ressourcen zu ermöglichen, ist es, sich die in der Mobbing-Situation involvierten Persönlichkeitsanteile des Klienten anzusehen und in einem zweiten Schritt zu überlegen, wie dieses Team „umformiert“ werden könnte, um sich in einer entsprechenden Situation besser behaupten bzw. abgrenzen zu können.

Der Ansatz des Inneren Teams ermöglicht einen spielerischen und fantasievollen Zugang zu inneren Konfliktmustern und somit selbstreflexive Prozesse, die bei der Anwendung anderer Verfahren möglicherweise blockiert wären. Durch die Arbeit mit Bildern wird das Unterbewusstsein dabei unmittelbar angesprochen und in die Auflösung der Konfliktmuster mit einbezogen, was für eine hohe Wirksamkeit spricht.

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei Herrn Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun für seine freundliche Unterstützung bei der Erstellung dieses Textes bedanken. Entstanden ist dieser Artikel übrigens bereits (in einer ersten Fassung) im Jahr 2013.

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Literatur

  • Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden 3 – Das „Innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation. Sonderausgabe, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011 (Die Originalausgabe erschien erstmals 1981).
  • Friedemann Schulz von Thun (Hrsg.), Johannes Ruppel, Roswitha Stratmann: Miteinander reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2000/2003.
  • Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation – Formen, Störungen, Paradoxien (10. Auflage). Verlag Hans Huber, Bern 2000.
  • Fritz Riemann: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. Ernst Reinhardt Verlag, München 1996.
  • Ian Stewart, Vann Joines. Die Transaktionsanalyse – Eine Einführung. Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1990.

Stimmen aus der Vergangenheit

Manfred Evertz

Wie gut kennen Sie Ihr persönliches Lebensskript, also jenes Drehbuch, das Sie in Ihrer Kindheit im Rahmen Ihrer damaligen Möglichkeiten für Ihr Leben entwickelt haben? Fühlen Sie sich eventuell eingeengt oder sogar darin „gefangen“? Möchten Sie sich aus leidvollen „systemischen Verstrickungen“ lösen? Obwohl es sicher nicht ganz einfach ist, lässt es sich jedes auch noch so (scheinbar) festgefahrene Lebensskript im Nachhinein korrigieren bzw. verändern. Gelingen kann dies bspw. durch einen Dialog mit bislang weitgehend unterdrückten Gefühlen und Bedürfnissen oder mit jenen inneren Stimmen, die sich hier und da kritisch zu Wort melden. Die bewusste Wahrnehmung und Integration entsprechender Wesensfacetten ermöglicht es, die Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen und sich für ein Festhalten an dem Bewährten oder für eine einzuleitende Veränderung zu entscheiden. Auf diesem Wege können Erstarrungen bzw. dysfunktionale Wahrnehmungs- und Interaktionsmuster nachhaltig aufgelöst und Handlungsspielräume schrittweise erweitert werden.

Die Methoden, mit denen man dieses Ziel erreichen kann, sind sehr vielfältig. Einige, mit denen ich bislang stets gute Erfolge erzielt habe, möchte ich in diesem Artikel kurz vorstellen.

“Viele haben sich in ihrer frühesten Kindheit verloren und bis zu ihrem Ende auch nie wieder gefunden.” Alfred Selacher

Etliche Überzeugungen über uns selbst oder darüber, wie andere Menschen sind, über das Leben sowie darüber, wie die Welt, in der wir leben, beschaffen ist, entwickeln wir in unserer Kindheit, d. h. wir übernehmen das, was wir von unseren Bezugspersonen vermittelt bekommen. Das meiste davon ist nützlich und hilft uns dabei, uns zu orientieren und zu überleben. Einiges jedoch wirkt sich im Laufe des Lebens dysfunktional aus. Die Einstellungen, die wir bestimmten Dingen gegenüber haben, beeinflussen unser Denken in allen Situationen unseres Alltags. Zudem gleicht unser emotionales Gedächtnis jeden Reiz, den wir wahrnehmen, mit bereits gemachten Erfahrungen ab und bewertet diesen. Beides zusammen löst über die Ausschüttung von Neurotransmittern und Hormonen unwillkürlich körperliche Reaktionen aus, die wiederum dazu führen, dass wir uns auf eine bestimmte Art fühlen. Während wir also unsere Aufmerksamkeit auf das ein oder andere richten, führen wir (oftmals unbemerkt) eine Art inneren Dialog mit uns selbst, und beeinflussen mittels sogenannter „automatischer Gedanken“ und Bewertungen unsere Emotionen und damit unmittelbar auch unsere Reaktionen bzw. unser Verhalten.

tagesprotokoll-negativer-gedankenDen Methoden der kognitiven Umstrukturierung, mit denen in der Verhaltenstherapie gearbeitet wird, liegt die Annahme zugrunde, dass sich Bewertungen bzw. Gedanken unmittelbar auf das psychische Wohlbefinden auswirken und es oftmals schon zu einer Verbesserung der Befindlichkeit führt, wenn man die gewohnten Denk- oder Einstellungsmuster verändert. Ziel ist es also, sich seiner Selbstinstruktionen (d. h. der automatischen Gedanken) sowie seiner Bewertungen bewusst zu werden und sie so zu modifizieren, dass sie die Stimmung nicht mehr beeinträchtigen. Des Weiteren wird über sogenannte Disputationstechniken versucht, den fundamentalen Grundannahmen bzw. irrationalen Überzeugungen, die ursächlich für diese Bewertungsmuster sind, auf die Spur zu kommen und diese so zu verändern, dass sie sich konstruktiver bzw. funktionaler auswirken.

Oftmals folgen jene Verhaltensmuster, die als irritierend oder störend empfunden werden, allerdings bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die nicht verhandelbar zu sein scheinen. Die dafür verantwortlichen Persönlichkeitsanteile könnte man nach Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun als „graue Eminenzen“ auffassen, die durch eine Verschmelzung mit dem Selbst das Verhalten eines Menschen dominieren und zu befremdlichen Reaktionen führen. Als graue Eminenz wird (vor allem in der Politik) jemand bezeichnet, der aus dem Hintergrund die Fäden zieht, Macht ausübt und dabei nicht bzw. kaum in Erscheinung tritt. Eine solche Sichtweise reduziert komplexe Psychodynamiken auf ihre Grundelemente, um einen intuitiven Zugang zu der dahinterliegenden Bedürfnisstruktur zu ermöglichen. Dabei wird unterstellt, dass diese Verhaltensmuster „erlernt“ und somit prinzipiell veränderbar sind. Entsprechende Entwicklungen vollziehen sich allerdings meistens nur sehr langsam und in besonders schweren Fällen kaum merklich. Der Frustration, die aufgrund ihrer vermeintlichen „Veränderungsresistenz“ entstehen kann, lässt sich recht gut beikommen, indem man sich die Bedeutung jener Mechanismen bewusst macht, denen diese sich mit starrem Automatismus bedienen.

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Beispielhafter Dialog mit dem Inneren Team

Heilsam ist es zudem eigentlich immer, wenn jene verbindliche Unterstützung, Zuwendung, Wertschätzung und Anerkennung in einer zwischenmenschlichen Beziehung “nachgereicht“ wird, die von den Eltern (aus welchen Gründen auch immer) nicht im notwendigen Maße geboten wurde. Ein solches „Nachnähren“ macht es möglich, dysfunktionale Beziehungsmuster aufzulösen, die sich früh herausgebildet haben, um frustrierte Grundbedürfnisse (z. B. nach Bindung) entweder (doch noch) zu erfüllen oder sie durch die Befriedigung anderer (z. B. dem nach Autonomie) zu kompensieren. Damit einher gehen oftmals bestimmte Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkmuster bzw. Bewältigungsstrategien (Vermeidung, Erduldung oder Kompensation), die – vergleichbar mit Trampelpfaden im neuronalen Netz der Betroffenen – äußerst veränderungsresistent sind und jeweils mit einem ganzen Komplex dysfunktionaler Glaubenssätze in Verbindung stehen können. Vereinfacht lässt sich sagen, dass die Wahrnehmung aktueller Situationen und das durch sie ausgelöste Verhalten nicht selten durch “Übertragungen” gesteuert werden, also durch das, was in der Kindheit “erlernt” wurde.

Die eigene Kindheit ist ein zeitloses Schnittmuster erwachsener Kleidung.“ Heike Ullmann

systemische-aufstellungObwohl es für das Finden einer Lösung streng genommen eigentlich egal ist, wie ein Problem entstanden ist, kann es für die Entwicklung entsprechender Strategien äußerst hilfreich sein, auch mal in die eigene Vergangenheit zurückzublicken. Eine hervorragende Möglichkeit, den besagten Mustern auf die Spur zu kommen, bietet die systemische Aufstellung. Hierbei werden jene Rolle(n) betrachtet, die ein Mensch in seiner Ursprungsfamilie ausgefüllt hat, und es wird überprüft, inwieweit Parallelen zur aktuellen Lebenssituation bestehen. Im Rahmen eines Vier-Augen-Gesprächs werden zu diesem Zweck zunächst passende Figuren (Farbe, Größe, Form) für die einzelnen Familienmitglieder ausgewählt und auf dem Brett platziert. Kriterien für die Positionierung sind bspw. (1) emotionale Nähe vs. Distanz sowie (2) Zugewandtheit vs. Abgewandtheit. Ergänzt werden kann dies durch eine kurze Charakterisierung der benannten Personen. Daraufhin wird die Aufstellung analysiert. Mittels verschiedener Fragetechniken wird ein erweitertes Verständnis des Systems „Familie“ bezogen auf dessen Strukturen und Dynamiken ermöglicht.

Beispielhafte Leitfragen:

  • Wie glauben Sie, haben die anderen Familienmitglieder Sie damals wahrgenommen?
  • Was war Ihre zentrale Rolle bzw. Aufgabe in diesem System? Was wollten die anderen von Ihnen? Welche Bedürfnisse haben Sie erfüllt?
  • Was hat Ihnen dabei geholfen, in diesem System zu bestehen bzw. Ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten bzw. das zu tun, was Sie tun wollten?
  • Wenn Sie damals einen Wunsch frei gehabt hätten, welcher wäre das gewesen?
  • Was hätten Sie in dem System damals gern verändern wollen? Was haben Sie versucht, um das zu erreichen?
  • Ist Ihnen das gelungen? Falls ja, wie? Falls nein, welche Kräfte des Systems haben dem entgegengewirkt?

Anschließend werden die gegenwärtigen Lebensumstände und Beziehungen betrachtet („Erkennen Sie Parallelen?“) und ein Blick in die Zukunft vorgenommen („Was möchten Sie verändern?“). Es geht also um ein Erkennen und Auflösen festgefahrener (dysfunktionaler) Verhaltensmuster und Sichtweisen, um intendierte Veränderungen zu ermöglichen. Zu diesem Zweck können nun verschiedenartige Interventionen – kontextspezifisch sowie in Abhängigkeit von der jeweiligen Fragestellung und Zielvorgabe – mit in das Gespräch eingebunden werden.

Selbst wenn alles einstürzt, bleiben die Grundmauern des Ichs, um darauf neu zu bauen.“ Damaris Wieser

Warum Menschen immer wiederkehrende Konflikte mit sich selbst oder mit anderen haben, weshalb sie trotz großer Anstrengungen nicht das erreichen, was sie sich vornehmen, oder wie sie sich selbst ein Leben voller Druck und Stress erzeugen, darauf kann zum Beispiel das Modell der Transaktionsanalyse Antworten geben. Hierbei wird grundsätzlich zwischen drei verschiedenen Ich-Zuständen unterschieden, aus denen heraus Menschen sich verhalten können. Kommunikationsabläufe lassen sich demzufolge in „Transaktionen“ differenzieren, was dabei hilft, typische Reaktions- bzw. Verhaltensmuster aufzudecken und plausibel zu machen. Ein derartiges Verständnis erleichtert es, individuelle Handlungsstrategien zu entwickeln, mittels derer gegenwärtige Interaktionen (in den jeweiligen sozialen Systemen) funktional gestaltet werden können.

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Ich-Zustände der Transaktionsanalyse

Ich bin ich. Leider viel zu selten.“ Ernst Ferstl

Für die Auflösung und Veränderung dysfunktionaler Verhaltens- bzw. Konfliktmuster kann eine transaktionsanalytische Betrachtung also sehr hilfreich sein, vor allem dann, wenn man die Antreiber und Einschärfungen (“Neuentscheidungstheorie”) mit einbezieht. Ein Transfer der hierbei entwickelten Handlungsoptionen in die Praxis ist aber zumeist mit viel Übung verbunden und benötigt eine gewisse Zeit. Der Grund dafür ist, dass jene Verhaltensweisen, die uns in der Vergangenheit dazu verholfen haben, ein gewünschtes Ziel zu erreichen, im prozessualen Gedächtnis gespeichert und durch die wiederholte Anwendung so sehr gefestigt werden, dass sie anschließend wie Automatismen ablaufen. Gleiches gilt übrigens auch für unsere Aufmerksamkeitsprozesse, mittels derer wir jene Umgebungsreize (sogenannte „Trigger“) im besonderen Maße wahrnehmen, die unser Gehirn dazu veranlassen, diese bestimmten bzw. „bewährten“ Reaktionen abzurufen. Begünstigt wird ein solcher Rückfall in alte Verhaltensmuster zudem oftmals durch systemische Rückkopplungsmechanismen, weshalb es Sinn macht, folgende Fragen bereits im Vorfeld zu beantworten:

  • Womit ist zu rechnen (negative Rückkopplungen, Gewohnheitsmuster, Krisen etc.)?
  • Woran lassen sich „Vorläufersignale“ erkennen, die ein altes Verhaltensmuster aktivieren?
  • Auf welche Ressourcen lässt sich im Falle solcher Signale bewusst zugreifen? Wie kann das gelingen?
  • Wie lässt sich mit Rückfällen („Umfallern“) konstruktiv umgehen?
  • Was könnte zusätzlich noch stärken?

Sollten Sie sich also fragen, welche Rolle(n) Sie spielen und warum Sie das tun, können die so gewonnenen Erkenntnisse Ihnen dabei helfen, sich bewusst für das Leben zu entscheiden, das Sie eigentlich führen wollen.

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Ich sehe was, was Du nicht siehst!

Ärgern Sie sich manchmal übermäßig stark über Ihre Vorgesetzten oder Kollegen? Sind Sie in manchen Situationen wie erstarrt oder haben einen Kloß im Hals, ohne zu wissen, warum das so ist. Reagieren Sie manchmal hochgradig emotional und haben keine Erklärung dafür, was genau mit Ihnen los ist oder warum Sie nicht anders können? Es gibt Situationen, in denen es so wirkt, als würden wir uns selbst im Weg stehen. Obwohl unser Selbstbild eigentlich etwas anderes erwarten ließe, verhalten wir uns gelegentlich ungeschickt oder geraten in emotionale Verstrickungen, die uns daran hindern, persönlich bedeutsame Ziele zu erreichen oder mit den tatsächlichen Gegebenheiten in angemessener Weise umzugehen. So können Blockaden, Konflikte oder Verstimmungen entstehen, die bei genauerer Betrachtung keinen Sinn zu ergeben scheinen. Doch wie kommt es dazu und – vor allem – wie lässt sich das ändern?

“Gesunde Menschen brauchen eine glückliche Kindheit.” Astrid Lindgren

Edgar Piel

Edgar Piel

Kinder sind im hohen Maße auf die Zuwendung und Liebe ihrer Eltern angewiesen und sie lernen früh und nachhaltig, was sie dafür tun müssen. In der Interaktion mit den sie umgebenden Bezugspersonen erfahren sie also, durch welche Verhaltensweisen ihnen das gelingt bzw. wie sie sich vor (seelischen) Verletzungen schützen können. Auf diese Weise werden spezifische Reaktionsmuster internalisiert, die sie in ähnlichen Situationen bzw. später immer wieder aufs Neue abrufen. Da jedes Elternteil eine individuelle charakterliche Struktur aufweist und auf eine ganz eigene Art mit dem Nachwuchs umgeht bzw. interagiert, sind auch die Strategien, die Kinder entwickeln, sehr unterschiedlich. Im optimalen Fall führen sie auch in künftigen sozialen Beziehungen, in die sie “übertragen” werden, zum erwünschten Ziel oder Schutz. Leider ist das aber nicht immer so. Vor allem dann, wenn in den ersten Lebensjahren negative Gefühle vorherrschend sind oder sogar schlimme Erfahrungen gemacht wurden, ist es nicht unwahrscheinlich, dass entsprechende Übertragungseffekte später zu großen Problemen führen.

Aus systemischer Sicht ließe sich vielleicht noch ergänzen, dass jedes Kind in dem System „Familie“ eine gewisse “Funktion” erfüllt und eine Rolle übernimmt, die dort sozusagen “eingeübt” und später mehr oder weniger unbewusst – mit verinnerlichten Geboten und Verboten sowie mit spezifischen Erwartungen, Reaktions- und Verhaltensmustern – auch in anderen Systemen gespielt werden will. Auch diese Betrachtungsweise lässt erahnen, wie ungünstige Beziehungserfahrungen in der Kindheit noch Jahrzehnte später Probleme hervorrufen können. So agieren Erwachsene oftmals so, als würden sie eine frühkindliche Szene nachspielen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Kränkungen oder Gefühle der eigenen Wertlosigkeit, deren Ursprung im Kindesalter liegen, können dann durch das Verhalten von Personen, die damit in keinem Zusammenhang stehen, angetriggert bzw. erneut erlebbar werden und die gleichen intensiven Gefühle und Reaktionen auslösen, die bereits in der Kindheit darauf erfolgt sind.

Der Psychoanalytiker und Soziologe Alfred Lorenzer sah in der Übertragungsneurose ein deformiertes Sprachspiel, welches sich mittels eines Vergleiches von aktuellen und lange zurückliegenden Situationen entschlüsseln lässt (1). Zwar gibt es gewiss auch Übertragungen, die angenehme Gefühle auslösen und dazu führen, dass Menschen sich einander zuwenden, freundlich sind und Vertrauen entwickeln, allerdings sind diese wohl eher unproblematisch. Jene hingegen, die einen in innere oder äußere Konflikte bzw. in Schwierigkeiten bringen, sollten wir m. E. hinterfragen, um sie zu entschlüsseln und aufzulösen. Bedenken sollte man dabei jedoch, dass die Gefühle, die man für einen anderen Menschen empfunden hat, höchst ambivalent sein können, vor allem dann, wenn es sich um ganz nahe Verwandte handelte.

Der Schatten der Vergangenheit

Manfred Evertz - Narben der Kindheit

Manfred Evertz

Nicht jedes Kind wächst in einem liebevollen und harmonischen Umfeld auf. Laut einer Studie des „Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen“ (2) erlebten im Laufe des Jahres 1998 12% aller Kinder unter zwölf Jahren häusliche/körperliche Gewalt. 8,1% von ihnen mussten sogar schwere Züchtigungen über sich ergeben lassen. Nicht berücksichtigt hierbei sind andere Formen der Misshandlung (z. B. sexueller Missbrauch, Vernachlässigung oder psychische Misshandlung, von der man dann spricht, wenn Eltern oder andere Betreuungspersonen Kinder überfordern, sie ängstigen oder ihnen ein Gefühl der Wertlosigkeit vermitteln). Würde man diese mit einbeziehen, ergäben sich deutlich höhere Prozentzahlen. Die Folgen sind gravierend. So wird immer wieder durch Studien belegt, dass viele Betroffene eine Selbstwertproblematik aufweisen, verhaltensauffällig werden und/oder aufgrund dieser Erlebnisse in ihrer geistigen Entwicklung beeinträchtigt wurden (3). In einer 1994 veröffentlichten Studie (4) konnte u. a. aufgezeigt werden, dass Kinder, die im Alter von drei Monaten vernachlässigt wurden, noch vier Jahre später ein erhöht aggressives bzw. impulsives Verhalten zeigten und sich einnässten oder einkoteten sowie gravierende kognitive Rückstände aufwiesen. Auch die Spätfolgen sind beachtlich: So (5) sind sie in der Jugend deutlich anfälliger für Ängste, Depressionen, Suizidalität oder Suchtprobleme, und es lassen sich häufiger Störungen im Sozialverhalten sowie Delinquenz feststellen, bei einem Teil der Betroffenen sogar noch im Erwachsenenalter (6, 7). Frühe Stresserfahrungen lassen demnach psychische und psychosomatische Erkrankungen wahrscheinlicher werden (8). Obwohl die Resilienzforschung (9) diverse Ressourcen ausmachen konnte, die die psychische Widerstandsfähigkeit steigern und einen psychopathologischen Verlauf verhindern können (z. B. das Vorhandensein von mindestens einer stabilen Bezugsperson, ausgeprägte soziale Kompetenzen, Selbstwirksamkeitserfahrungen etc.), bleiben die gemachten Erfahrungen im emotionalen Gedächtnis wie innere Arbeitsmodelle zur Beziehungsgestaltung erhalten und wirken auf (meist) subtile Weise nach, d. h. sie werden in künftigen Beziehungen aktiviert und üben Einfluss auf das Selbstvertrauen und das Selbstbild aus. Dies betrifft vor allem – aber nicht nur – Gewalterfahrungen, die einen gewissen Schweregrad überschreiten bzw. deren Einwirkungen nicht durch vorhandene Resilienzfaktoren abgefangen werden können (10).

“Die Vernunft ist dem Menschen gegeben, damit er sich von dem befreie, was ihn beunruhigt.” Leo N. Tolstoi

In dem Buch „Ein Kurs in Wundern“ (11), einer Synthese zeitloser geistiger Einsichten und psychologischer Erkenntnisse, werden die schattenhaften Gestalten aus der Vergangenheit als Schmerzensstellen im Geiste bezeichnet, die einen dazu anweisen, in der Gegenwart anzugreifen und Vergeltung für eine Vergangenheit einzufordern, die es nicht mehr gibt. Folgt man ihnen, so bewirkt das vergangene Leid auch künftiges. Eine Befreiung ist aber in jedem gegenwärtigen Moment möglich, indem man sich bewusst wird, einer Illusion zu unterliegen. Doch wie kann das gelingen?

Papa, Du stehst mir im Weg!

Die Grundidee der Übertragung ist es, dass unbewusste Wünsche in das Vorbewusste gelangen (12) und sowohl die Wahrnehmung wie auch das Verhalten steuern. Das Konzept erlangte Berühmtheit durch die Psychoanalyse Sigmund Freuds und wurde später erweitert, da deutlich wurde, dass auch Rollenerwartungen, verdrängte Gefühle und Affekte sowie Befürchtungen, die zunächst auf die Eltern oder Geschwister bezogen waren, nicht selten bis ins Erwachsenenalter präsent bleiben und zu erheblichen Problemen oder Spannungen in gegenwärtigen Beziehungen führen können. Ohne eine therapeutische Unterstützung lassen sich Übertragungen mit den tiefenpsychologischen Techniken (z. B. freies Assoziieren, Traumdeutung, etc.) nicht auflösen, da der natürliche Schutzmechanismus der Verdrängung das bewusste Erinnern an die ihnen zugrunde liegenden Ereignisse erschwert oder sogar verhindert. Dennoch kann man sich z. B. folgende Fragen stellen:

  • An wen aus meiner Vergangenheit erinnert mich mein Gegenüber?
  • Habe ich als Kind ähnliche Situationen erlebt?
  • Kenne ich die Reaktion meines Gegenübers (oder meine eigene) aus meiner Kindheit?
  • Wem gegenüber habe ich mich früher auf eine ähnliche Weise verhalten?
  • Ist mir das Gefühl vertraut, das ich in diesem Moment habe?

Dem Modell der Transaktionsanalyse (13, 14) zufolge entwickeln Menschen sehr früh eine Art Skript, nach dem sie ihr Leben gestalten. In diesem können sogenannte Einschärfungen enthalten sein, die ihnen in Form von Verboten mit auf den Weg gegeben wurden und die sich auf das individuelle Verhalten in den unterschiedlichsten Situationen auswirken. Beispiele hierfür sind “Sei nicht!”, “Sei nicht wichtig!”, “Sei nicht erfolgreich!” oder “Gehör nicht dazu!”. Sie verdeutlichen, welche Rolle einem Kind in der Ursprungsfamilie zugewiesen wurde bzw. wie es sich grundsätzlich zu verhalten hatte. Diese Anweisungen werden oftmals so sehr verinnerlicht, dass sie auch dann noch unbewusst befolgt werden, wenn sich der Kontext längst verändert hat. So gibt es Menschen, die sich ihr Leben lang darum bemühen, ihren eigenen Weg zu gehen, ihre Interessen durchzusetzen, (berufliche) Erfolge zu erzielen oder in einem Team bzw. in einer Gemeinschaft akzeptiert zu werden, und damit immer wieder scheitern, weil sie – ohne es zu wissen – dem gehorchen, was ihnen in ihrer Kindheit aufgetragen wurde. Die (innere) Stimme des Vaters, der Mutter oder einer anderen wichtigen Bezugsperson scheint die tatsächlichen Gegebenheiten zu übertönen und die Möglichkeit, sich frei zu entfalten, nachhaltig zu beeinträchtigen. Diese Skripte zu entdecken und den Betroffenen dabei zu helfen, sich davon zu lösen, erfordert großes therapeutisches Geschick und lässt sich kaum allein bewerkstelligen. Helfen kann es aber schon, das eigene Leben einmal aus der Vogelperspektive zu betrachten, um die vorliegenden Muster aufzuspüren, und sich bewusst zu machen, welche Restriktionen man sich bei seinen Bemühungen auferlegt (und woher sie kommen), die es verhindern, das zu erreichen, was man eigentlich will. Einen Test, mit dem Sie herausfinden können, welche Verbote sie vielleicht verinnerlicht haben, finden Sie in dem Blog-Artikel “Einschärfungen & Lebensskript”.

Elisabeth Naomi Reuter

Auch die Schematherapie (15), ein integratives Psychotherapieverfahren zur Erklärung und Behandlung von Störungsbildern, die ihren Ursprung in der Kindheit oder Jugend haben und denen oftmals Traumatisierungen oder Vernachlässigungen zugrunde liegen, geht einen ähnlichen Weg. Hierbei wird versucht, dysfunktionale Beziehungsmuster aufzulösen, die sich früh herausgebildet haben, um frustrierte Grundbedürfnisse (z. B. nach Bindung) entweder (doch noch) zu erfüllen oder sie durch die Befriedigung anderer (z. B. dem nach Autonomie) zu kompensieren. Ähnlich wie bei den in der Transaktionsanalyse beschriebenen Skripten gehen mit ihnen bestimmte Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkmuster bzw. Bewältigungsstrategien (Vermeidung, Erduldung oder Kompensation) einher, die (vergleichbar mit Trampelpfaden im neuronalen Netz der Betroffenen) äußerst veränderungsresistent sind und jeweils mit einem ganzen Komplex dysfunktionaler Glaubenssätze in Verbindung stehen können. Das Modell differenziert achtzehn verschiedene kognitiv-emotionale Bewältigungsschemata, die sich durch entsprechende therapeutische Interventionen (wie z. B. dem “Nachnähren” oder der empathischen Konfrontation) schrittweise auflösen lassen. Vereinfacht lässt sich sagen, dass die Wahrnehmung aktueller Situationen und das durch sie ausgelöste Verhalten durch eine “Übertragung” dessen gesteuert wird, was in der Kindheit “erlernt” wurde.

Es ist sehr schwierig, die eigene Vergangenheit ohne therapeutische Hilfe zu klären. Zumindest bei weniger dramatischen Vorkommnissen ist diese aber nicht immer zwingend erforderlich. Wenn man nun also selbst etwas tun möchte, bieten sich bspw. die Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie an. Eine Möglichkeit ist es zum Beispiel, jene Situationen in einem Tagebuch festzuhalten, in denen man Gefühle bei sich bemerkt, die vermutlich unangemessen oder übermäßig intensiv sind, diese sowie die in ihnen ausgelösten Emotionen darin zu beschreiben und jene Gedanken zu ergänzen, die währenddessen ins Bewusstsein gelangen. Mittels einer Reflexion (oder Disputation) können bestehende Ambivalenzen dann aufgelöst werden, wobei die in diesem Zusammenhang auftretenden Bedenken und Missstimmungen mit offenen Fragen auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen sind. Daraufhin hat man dann die Möglichkeit, sich für ein funktionaleres Verhalten zu entscheiden bzw. das (unwillkürlich durch Trigger ausgelöste) Reaktionsmuster künftig bewusst zu durchbrechen. Im Vorfeld sollte man zunächst angemessene Ziele und Wertvorstellungen herausarbeiten, sich darin bestärken, dass eine Verhaltensänderung gelingen kann, und sich entsprechende Resultate im Nachhinein vergegenwärtigen, damit Selbstwirksamkeitserfahrungen spürbar und dazugehörige Überzeugungen gefestigt werden. Dabei auftretenden Widerständen ist am besten mit Geduld und Selbstakzeptanz zu begegnen.

Auch mit der Methode des Inneren Teams lässt sich ein guter Einblick in die eigene Bedürfnisstruktur gewinnen, aus der heraus ein zunächst befremdlich erscheinendes Verhalten erklärbar und veränderbar wird. Hierbei wird die Persönlichkeit des Menschen als eine Art Team und die in einer Situation erkennbar werdenden Gefühle, Gedanken, Impulse oder Bedürfnisse als dessen Mitglieder aufgefasst. Mittels eines inneren Dialoges können diese miteinander ins Gespräch gebracht und dazu bewogen werden, eine gemeinsame (funktionale) Strategie zu entwickeln. Eine genauere Beschreibung der Methode lässt sich in dem Buch “Miteinander Reden: 3 – Das “Innere Team” und situationsgerechte Kommunikation” (16) nachlesen. Meinen eigenen Erfahrungen zufolge ist diese Technik sehr wirkungsvoll und (auch) für Laien eine gute Möglichkeit, selbstreflexive Prozesse zu initiieren.

Unterdrückt man ein Gefühl oder Bedürfnis dauerhaft und werden zudem raffinierte Vermeidungsmuster entwickelt, die es an seiner Entstehung hindern oder bereits im Keim ersticken, breitet es sich allmählich auf andere Lebensbereiche aus. So wird es stärker und immer diffuser. Irgendwann werden sie eventuell so einnehmend und zugleich derart irrational, dass man der eigenen (Selbst-)Wahrnehmung nicht mehr traut. Die “unerwünschten”, abgespaltenen Emotionen können sich dann vielleicht auch im Rahmen von Übertragungen auf andere Menschen richten und äußerst dysfunktionale Reaktions- bzw. Verhaltensmuster zur Folge haben. Die eigenen Gefühle zuzulassen, sie ernstzunehmen und achtsam mit ihnen umzugehen, ist ein erster Schritt, sich daraus zu befreien. Die Kunst liegt aber vor allem darin, sie auch in angemessener Form zum Ausdruck zu bringen. Das muss allerdings in der Regel zunächst gelernt und dann geübt werden.

Da Übertragungen stets mit Emotionen einhergehen, kann das aber einen langwierigen Prozess bedeuten, insbesondere dann, wenn diese auf existenzielle Erfahrungen zurückzuführen sind. Durch ein wiederholtes Bewusstmachen dessen, was in den entsprechenden Situationen oder Interaktionen abläuft, verlieren sie aber allmählich ihre Wirkung. Als Konstrukteure unserer eigenen Wirklichkeit haben wir es letztendlich selbst in der Hand, uns von den Schatten der Vergangenheit zu befreien und das, was in unserer Kindheit zum Scheitern verurteilt war, in der Gegenwart zum Erfolg zu führen.

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Literatur:

  1. Lorenzer, Alfred. Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Ffm. 1970, Neuausgabe 1973.
  2. Innerfamiliäre Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und ihre Auswirkungen, Christian Pfeiffer, Peter Wetzels und Dirk Enzmann, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, 1999
  3. Hildyard, K. L., Wolfe, D. A. (2002). Child neglect. Developmental issues and outcomes. In Child Abuse & Neglect, 26, 679-695.
  4. Esser, G., Laucht, M. & Schmidt, M. H. (1995). Der Einfluss von Risikofaktoren und der Mutter-Kind-Interaktion des Säuglingsalters auf die seelische Gesundheit des Vorschulkindes. Kindheit und Entwicklung, 4, 33-42.
  5. Eckenrode, J., Zielinski, D., et al. (2001). Child maltreatment and the early onset of problem behaviors: Can a program of nurse home visitation break the link?. Development and Psychopathology, 13, 873-890.
  6. McCord, J. “Conduct Disorder and Antisocial Behavior: Some Thoughts about Processes.” Development and Psychopathology, 5, 321-329, 1993.
  7. Bifulco, A, Moran, P. M., Ball, C., & Bernazzani, O. (2002). Adult Attachment Style: I. Its relationship to clinical depression. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, 37, 50-59.
  8. Teicher M. H., Andersen S. L., Polcari A., Anderson C. M., Navalta C. P. Developmental neurobiology of childhood stress and trauma. The Psychiatric Clinics of North America. 2002;25(2): 397–426.
  9. Wustmann, C. (2005). “So früh wie möglich!” – Ergebnisse der Resilienzforschung. In IKK-Nachrichten (1-2), 14-19.
  10. Lillig, S. (2006). Welche Aspekte können insgesamt bei der Einschätzung von Gefährdungsfällen bedeutsam sein? In Kindler, H., Lillig, S., Blüml, H., Werner, A., Rummel, C. (Hrsg.). Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst. München.
  11. USA Foundation für Inner Peace (Hrsg.). Ein Kurs in Wundern (1994). Greuthof, Gutach i.Br.
  12. Freud, Sigmund. Die Traumdeutung. [1900] Gesammelte Werke, Band II/III, S. Fischer, Frankfurt / M, folgende Seitenangaben aus: Taschenbuch-Ausgabe der Fischer-Bücherei, Aug. 1966; zu Stw. „Übertragung“: S. 458 f.
  13. Stewart, I. & Joines, V. (2010). Transaktionsanalyse (10. Auflage). Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau.
  14. Dehner, U. & Dehner, R. (2013). Transaktionsanalyse im Coaching. managerSeminare Verlags GmbH, Bonn.
  15. Young J. E., Klosko J. S., Weishaar M. E. (2005). Schematherapie. Ein praxisorientiertes Handbuch. Junfermann, Paderborn.
  16. Schulz von Thun, F. (1998). Miteinander Reden: 3 – Das “Innere Team” und situationsgerechte Kommunikation. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek.

(Dieser Artikel wurde im Juni 2015 überarbeitet.)