Die Sprache der Gefühle

Was wollen uns unsere Gefühle eigentlich mitteilen oder wozu sind sie überhaupt gut, insbesondere dann, wenn sie uns bspw. unzufrieden, traurig oder wütend machen? Und warum fällt es uns manchmal so schwer, über sie zu sprechen?

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Vor einiger Zeit habe ich Ihnen die Frage gestellt, welche Erfahrungen Sie mit jenen Gefühlen haben, für die es keine Worte zu geben scheint, und u. a. folgende Rückmeldungen erhalten:

  • Worte und Denken sind Kognitionen und eben nicht Emotionen. Das wird oft nicht differenziert. Daher antworten viele Menschen auf die Frage, “Was fühlst du?”, mit “Das weiß ich nicht.”
  • Oh ja, das kenne ich gut…. Habe eine traumatische Kindheit erlebt und bis zum Erwachsenenalter vieles verdrängt. Irgendwann habe ich angefangen es aufzuarbeiten, verschiedene Therapien gemacht – auch stationär. Jetzt – seit einem Jahr – Trauma-Therapie. Ich merke, wie lang der Weg ist und wie schwer es ist, das in Worte zu fassen, was in mir los ist. Das geht nur in kleinen Schritten.
  • In der kunsttherapeutischen Praxis, durch die Arbeit mit inneren Bildern, gelingt eine Annäherung an emotionales Erleben, ein zunächst nonverbaler Ausdruck. Für Gedanken und Emotionen, die – aus welchen Gründen auch immer – (noch) nicht verbalisiert werden können oder für die es möglicherweise im Moment kein passendes Wort gibt… Das Visualisieren ermöglicht im nächsten Schritt einen Erkenntnisprozess, ein Begreifen, ein Bearbeiten, eventuell Verändern und eine visuelle Verankerung des Erarbeiteten.
  • Ich habe eher die Erfahrung gemacht, dass wir den Gefühlen nicht auf den Grund gehen. Man darf eine Person nicht doof finden, also lasse ich diese Gefühle gar nicht zu bzw. werde mir ihrer nicht bewusst. Nehme ich mir mal die Zeit und fühle in mich hinein, dann merke ich, dass da ganz viele verschiedene Gefühle sind. Die Gefühle sind da. Unabhängig davon, ob sie gut oder schlecht sind, nehme ich sie wertfrei an.
  • Mir hilft es, die einzelnen Fragmente zu betrachten, aus denen das Gefühl besteht. Das Gefühl ist wie ein Kuchen und ich betrachte, aus welchen Zutaten es gemacht wurde. Außerdem versuche ich zu verstehen, ob es sich wirklich um ein Gefühl handelt, welches in einer bestimmten Situation entstanden ist, warum es genau da entstanden ist und ob es auch nur in diese Situation gehört, oder ob es sich vielleicht um eine Emotion handelt, die sich aus Erfahrungen, Befürchtungen und Wünschen zusammensetzt – in einem ganz anderen Moment, zu einer ganz anderen Zeit entstanden ist – und sich nun meldet.

“Denke nicht so viel, sondern fühle.” Fritz Perls

In der Regel zeigen uns unsere Gefühle, welche Bedürfnisse wir haben. Im Grunde genommen sagen sie uns also, was wir brauchen, und geben Auskunft darüber, inwieweit wir uns mit dem begnügen, was wir wohl bekommen werden oder schon bekommen haben. Nicht immer ist das jedoch offensichtlich. Manchmal reagieren wir emotional auf andere Menschen, Ereignisse oder gewisse Reize, ohne zu wissen, warum wir das eigentlich tun. In solchen Fällen kann es sinnvoll sein, sich mit dem Motiv für diese Reaktion zu befassen, um zu verstehen, wodurch sie ausgelöst wurde. Manchmal lässt sich durch eine gezielte Reflexion erkennen, dass es sich um eine Projektion handelt, ein andermal vielleicht um eine Übertragung oder um etwas ganz anderes. Nicht immer gelingt es uns jedoch, der Ursache durch bloßes Nachdenken auf die Spur zu kommen. Der Grund dafür könnte sein, dass wir irgendwie „blockiert“ sind. Solche Blockierungen können in verschiedenen Zusammenhängen auftreten und auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommen. Um dann trotzdem herauszufinden, worum es eigentlich geht, ist es hilfreich, sich zunächst einmal intensiv mit dem aufgetauchten Gefühl zu befassen, d.h. es zuzulassen und in sich hineinzuspüren, so wie es bspw. in gewissen Achtsamkeitsmeditationen getan wird. In der Beratung, in einer Therapie oder im Coaching können Klienten durch gestalttherapeutische Interventionen dabei unterstützt werden, dieses „Gewahrsein“ zu erlangen. Diese Methoden machen es – kurz gesagt – möglich, Menschen wieder (mehr) mit sich selbst (sowie mit ihrer Umwelt) in Kontakt zu bringen.

“Wir erlauben uns selbst nicht – oder es wird uns nicht erlaubt –, vollkommen wir selbst zu sein.” Fritz Perls

Humanistische Psychologen gehen davon aus, dass jeder Mensch über ein nahezu unbegrenztes Enwicklungspotenzial verfügt und danach strebt, sich nach seinen Möglichkeiten zu verwirklichen, sich also zu entfalten und seinem Leben einen Sinn zu geben (Wachstumsbedürfnisse). Dabei wird der Mensch immer zugleich selbst als ein Ganzer (der Mensch als System), wobei Körper, Seele und Geist eine untrennbare Einheit bilden, und als Teil des Ganzen betrachtet, der abhängig ist von seinen Mitmenschen, insbesondere dann, wenn es darum geht, soziale Bedürfnisse zu befriedigen sowie zu einem gelingenden Miteinander beizutragen (Interdependenz). Folgt man den Gedanken Martin Bubers, wäre vielleicht zu ergänzen, dass erst die Begegnung mit einem menschlichen Gegenüber, (dem „Du“) oder mit der dinglichen Welt (dem „Es“) es dem „Ich“ ermöglicht, sich von seiner Umwelt abzugrenzen und sich in dieser Welt zu verorten.

Werner Eberwein hat das Humanistische Menschenbild in einem kurzen Video bei YouTube sehr schön erläutert:

Die Gestalttherapie gehört zu den klassischen Therapieverfahren der Humanistischen Psychologie. Sie basiert auf der Annahme, dass unerledigte Situationen oder Erlebnisse, die unzureichend oder dysfunktional verarbeitet wurden und die als „offene Gestalten“ betrachtet werden, spätere Entwicklungen beeinträchtigen und das Entscheidungsverhalten eines Individuums im hohen Maße – mehr oder weniger subtil – beeinflussen können. Ein „gesunder“ Menschen sollte demzufolge möglichst immer erkennen, welches Bedürfnis in einem jeweiligen Moment im Vordergrund steht, um sich im hinreichenden Maße darum kümmern zu können, damit sich die entsprechende Gestalt wieder „schließt“. In einer auf diesem Ansatz fußenden Beratung geht es darum, die Wahlfreiheit der Klienten zu erweitern, latente Potenziale und Ressourcen zu entfalten sowie abgewehrte Persönlichkeitsanteile, abgespaltene Gefühle und Bedürfnisse oder leidvolle Erlebnisse zu integrieren. Die gestalttherapeutischen Interventionen sind m. E. – richtig angewendet – hochpotent und sollten demnach immer mit Bedacht eingesetzt werden. Das Wohl der Klienten muss hierbei stets im Vordergrund stehen.

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Fritz Perls schreibt im Vorwort des Buches „Gestalttherapie“ Folgendes: „Grundsätzlich erwachsen […] Störungen aus der Forderung der Umwelt, zu sein, was man nicht ist, ein Ideal zu verkörpern, statt sich selbst. Der Mensch bekommt [auf diese Weise] Schlagseite. Manche seiner Anlagen werden nun entfremdet, unterdrückt oder fortprojiziert. Andere Merkmale werden spiegelfechterisch zur Schau gestellt. Sie erfordern Anspannung ohne eigene Neigung; sie erschöpfen, ohne zu befriedigen. Schließlich führt diese tiefe Kluft zwischen unserer biologischen und gesellschaftlichen Existenz zu immer mehr Konflikten und „Löchern“. Löcher sind die Hauptmerkmale der unvollständigen Persönlichkeit.“

“Die Vergangenheit belagert unsere Gegenwart.” Fritz Perls

In der Gestalttherapie werden insbesondere die persönlichen Muster der Kontaktaufnahme und -unterbrechung betrachtet und – soweit sie erkennbar oder erspürbar werden – im Rahmen der therapeutischen Begegnung im Hier und Jetzt gespiegelt. Daraufhin wird überprüft, inwieweit diese Muster funktional sind, d.h. mit dem Ziel korrespondieren, den bewussten Handlungsspielraum zu erweitern und zugleich die Übernahme von (Selbst-)Verantwortung zu fördern. Dabei wird vor allem nach den eigenen Anteilen (an gelingenden bzw. misslingenden Interaktionen) geschaut, d.h. nach jenen routinisierten Verhaltens- und Wahrnehmungsmustern, die den Kontakt mit der jeweiligen Situation auf unangemessene Weise unterbrechen können und die den Betroffenen selbst häufig nicht bewusst sind. Im schlimmsten Fall sind Traumatisierungen ursächlich dafür. Mittels einer Gefühlsaktualisierung lassen sich die entsprechenden Engramme bearbeiten, also jene physiologische Spuren, die Erlebnisse bzw. entsprechende Reizeinwirkungen in Form struktureller Änderungen im Gehirn hinterlassen haben. Neue emotionale Erfahrungen können dabei helfen, diese Strukturen sowie die damit verbundenen Reaktionsmuster nachhaltig zu verändern. Bedenken sollte man dabei allerdings, dass die Muster der Kontaktunterbrechungen etwa im Sinne eines Selbstschutzes (z. B. bei Misshandlung oder Missbrauch) durchaus funktional sein können. Insofern geht es nicht um die Förderung von Kontakt an sich, sondern um die genaue Herausarbeitung des Stellenwertes des jeweiligen Musters im Rahmen der Biographie sowie der aktuellen Beziehungen, in denen ein Organismus zur Umfeld steht. War es Ihnen aus irgendeinem Grund also bislang nicht möglich, ein Erlebnis emotional aufzuarbeiten, oder haben Sie die Befürchtung, es sei egoistisch, zu belastend oder beängstigend, sich mit gewissen Gefühlen zu befassen, dann könnte es sein, dass Sie die damit im Zusammenhang stehenden Erfahrungen vielleicht vom eigenen Erleben abgespalten haben, um sich nicht dem Risiko einer Retraumatisierung auszusetzen (Selbstschutz).

“Mit seinen Emotionen auf Tuchfühlung zu gehen und zu lernen, sie zu umarmen, ist heilsam.” Fritz Perls

Emotionen spielen eigentlich immer eine zentrale Rolle. Selbst bei einer lösungsorientierten Vorgehensweise sind sie die stetigen Begleiter von Gedanken. Von daher betrachte ich gestalttherapeutische Interventionen als ein nützliches Mittel, um mehr Tiefe in Gespräche zu bringen und somit nachhaltige Entwicklungen zu begünstigen. Hinschauen, fühlen, ganzheitlich erleben und daran wachsen. Das ist zumindest (m)eine Definition der Gestalttherapie.

Wenn Sie mehr über dieses Thema erfahren möchten, dann empfehle ich Ihnen, sich das folgende Interview mit Werner Eberwein und Dr. Lotte Hartmann-Kottek, der Autorin des Buches „Gestalttherapie“, anzuschauen.

Literaturhinweis:

  • Lotte Hartmann-Kottek (2012). Gestalttherapie (3. Auflage). Springer-Verlag.

Werner Eberwein ist Psychologischer Psychotherapeut, Coach und Supervisor in Berlin-Kreuzberg, 2. Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Humanistische Psychotherapie (AGHPT), Leiter des Instituts für Humanistische Psychotherapie Berlin (IHP) und des Fort- und Weiterbildungszentrums Berlin der Deutschen Gesellschaft für Hypnose und Hypnotherapie (DGH). Seine Webseite finden Sie hier.

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