Rezension: „Ist das Hirn vernünftig?“ von Lutz Jäncke

“Wir alle denken, dass wir als Menschen rationale Entscheidungen treffen. Unser Hirn fungiert dabei als eine Art Supercomputer, mit dessen Hilfe wir streng logisch das Für und Wider abwägen. Doch täuschen wir uns!” (Klappentext)

In diesem Buch, so verspricht es ja schon der Titel, geht Dr. Lutz Jäncke, der an der Universität Zürich als Professor für Neuropsychologie tätig ist, der Frage nach, ob wir von unserem Gehirn überhaupt so etwas wie Vernunft erwarten dürfen? Dabei findet er Antworten, auf die man als Laie nicht ohne Weiteres kommen würde. Genauer gesagt erörtert er darin verschiedenste neuropsychologische Phänomene, die wir zum größten Teil aus unserem Alltag kennen.

Wir Menschen sind in der Regel stolz auf unseren bewussten Verstand, den wir schulen und trainieren, um weise zu werden und zu den unterschiedlichsten Einsichten zu gelangen. Dabei führt uns aber auch unser Unbewusstes zu Entscheidungen, die unser Verhalten auf sinnvolle Weise steuern. Wie wesentlich dieser Einfluss ist, wird in diesem Buches sehr deutlich aufgezeigt!

Unser Gehirn ist bekanntlich extrem leistungsfähig. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit es auch zur Vernunft bzw. zu vernünftigem Verhalten neigt? Wie und warum trifft es Entscheidungen, deren Grundlagen uns nicht bewusst sind, die durch Randbedingungen verfälscht werden oder die mit den zugrunde liegenden Realitäten nicht kompatibel sind? Wie steht es um jene Dinge, die es ausblendet? Wieso tut es das und wie genau kann man sich jene Prozesse vorstellen, die dafür verantwortlich sind? Welche Rolle spielen unsere Gefühle, wenn es bspw. um die Selbststeuerung geht? Wie interpretieren wir unsere Umwelt? Wie fragil ist unser Gedächtnis? Haben wir überhaupt die Möglichkeit, unseres Vergangenheit so zu sehen, wie sie wirklich war, oder konstruieren wir sie immer wieder neu? Haben wir einen freien Willen oder sind wir so etwas wie seelenlose Automaten, die lediglich durch neurophysiologische Prozesse gesteuert werden?

Eine zusammenfassende Darstellung aller Aussagen, die in diesem Buch gemacht werden, möchte ich Ihnen an dieser Stelle ersparen. Es sind einfach zu viele! Ehrlich gesagt, müsste ich es auch nochmals lesen, um das alles wiederzugeben. Ich kann aber sagen, dass sich die Lektüre lohnt, wenn man etwas über die unbewussten Mechanismen der Wahrnehmung, des Entscheidens oder des Lernens erfahren möchte, die Tag für Tag in unserem Gehirn ablaufen. Die wichtigsten wissenschaftlichen Studien, die zu den dargebotenen Erkenntnissen geführt haben, werden hinreichend detailliert erläutert, und zwar in einer Sprache, die man sehr gut verstehen kann. Schön ist es zudem, dass am Ende eines jeden Kapitels stets nochmals zusammengefasst wird, worum es darin im Wesentlichen ging.

Besonders gut gefallen hat es mir, dass der Autor durch die Fragen, die er aufwirft, neugierig auf die sich anschließenden Kapitel macht. Obwohl sich einige davon auch mit Randerscheinungen befassen (bspw. mit dem Capgras-Syndrom), bei denen es zunächst kaum ersichtlich ist, wozu einem das vermittelte Wissen nützt, sind die Erläuterungen durchgehend so fesselnd, dass es mir schwergefallen ist, das Buch aus der Hand zu legen. Allerdings ist es keine seichte Lektüre, wenn man sich – wie ich – nur beiläufig mit dem Forschungszweig der Neuropsychologie beschäftigt. Deshalb habe ich dann doch eine ganze Weile gebraucht, um das Buch bis zum Schluss zu lesen…

Am Ende findet man übrigens ein Personen- und Sachwortregister, was sehr hilfreich ist, wenn man sich einzelne Aussagen später nochmals gezielt anschauen möchte. Auf ein Literaturverzeichnis hat der Autor verzichtet, da die wesentlichen Quellen bereits in den Fußnoten auftauchen, was ich für äußerst sinnvoll halte, da es einem das Herumblättern erspart.

Viele Themen, mit denen sich die Neuropsychologie beschäftigt, sind gewiss auch im philosophischen Sinne interessant. Da diese Disziplin aber wohl noch in den Kinderschuhen steckt, dürfen wir gespannt sein, zu welchen Erkenntnisse über die menschliche Natur sie künftig noch kommen wird. Für mich war die Lektüre jedenfalls eine schöne Auffrischung meines bisherigen Wissens, gespickt mit etlichen neuen, wissenschaftlich fundierten Informationen. Zwar fand ich nicht alle Kapitel gleichermaßen spannend, trotzdem bin ich froh, mich auch durch jene Abschnitte gearbeitet zu haben, die für meine Arbeit eher redundant sind. Der Blick über den berühmten Tellerrand ist schließlich manchmal sehr erhellend!

Lutz Jäncke (2016). Ist das Hirn vernünftig? Erkenntnisse eines Neuropsychologen (2. unveränderte Auflage). Hogrefe Verlag, Bern.