Rezension: „Identität: Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven“ von Hilarion G. Petzold (Hrsg.)

Das Konzept der Identität ist für die Psychotherapie und Soziotherapie von herausragender Bedeutung, will man Persönlichkeitsentwicklung, Gesundheit, Risiken, Belastungen ohne Ausblendung des Sozialen und ohne verkürzende Individualisierungen verstehen und Störungen bzw. Erkrankungen wirksam behandeln. So verkündet es jedenfalls der Klappentext…

Über ein Jahr habe ich mich mit diesem Buch beschäftigt, bis ich endlich eine Rezension schreiben konnte. Im Laufe dieser Zeit habe ich immer wieder einzelne Abschnitte gelesen und mich mit den Inhalten gedanklich auseinandergesetzt. Die Kapitel, die von verschiedenen Autoren/-innen stammen, haben mir ganz unterschiedlich gut gefallen. Einige davon waren für mich inhaltlich weniger interessant, andere hingegen so spannend, dass ich das Buch immer wieder zur Seite legen musste, um die Aussagen zu überdenken und mit meinem bisherigen Wissen abzugleichen. Das verlangsamte zwar ein Durchkommen, machte das Lesen aber zu einem wunderbaren Erlebnis. Die verschiedenen Sichtweisen auf das Phänomen „Identität“ haben mich jedenfalls in vielfältiger Form dazu inspiriert, meine bisherigen Annahmen über dieses Thema zu hinterfragen und mich auf ganz neue und verschiedenartige Perspektiven einzulassen.

Auf Seite 79 schreibt Prof. Dr. Heiner Keupp: „Die Frage nach der Identität hat eine universelle und eine kulturell-spezifische Dimensionierung. Es geht bei der Identität eigentlich immer um die Herstellung einer Passung zwischen dem subjektiven „Innen“ und dem gesellschaftlichen „Außen“, also zur Produktion einer individuellen sozialen Verortung. […] Die universelle Notwendigkeit zur individuellen Identitätskonstruktion verweist auf das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit.“

Die Suche nach der eigenen Identität ist für viele Menschen ein zentrales Thema – nicht nur in der Pubertät. Doch lässt sie sich überhaupt definieren? Ist nicht jeder Versuch, sich selbst bzw. den Kern der eigenen Persönlichkeit zu beschreiben bzw. die dazugehörigen Anteile zu benennen, nur ein temporäres Konstrukt, das sich aus der momentanen Selbstwahrnehmung ableitet? Verändern wir uns ständig oder gibt es Konstanten in unserem Wesenskern? Ist nicht jede (Selbst-)Definition abhängig von der Perspektive, aus der heraus sie konstruiert wird? Antworten auf diese Fragen suchte ich nun also in diesem Buch, das ungefähr 600 Seiten umfasst und keineswegs als „seichte Lektüre“ bezeichnet werden sollte. Nur ein einziges Kapitel – nämlich die psychiatrische Sicht – war für mich kaum zu verstehen. Alle anderen, selbst die, von denen ich mir zunächst keinen wesentlichen Erkenntnisgewinn erhoffte, haben die Lektüre zu einer wahren Freude gemacht!

Worum geht es inhaltlich? Im ersten Teil des Buches wird – nach einem Vorwort des Herausgebers Prof. Dr. Dr. Dr. Hilarion G. Petzold – darüber philosophiert, welche Formen „Identität“ eigentlich annehmen kann. Im Anschluss daran werden von namhaften Wissenschaftlern und Experten ethnologische, soziologische, sozialpsychologische, politologische, gendertheoretische, psychiatrische und theologische Perspektiven vorgestellt. Dadurch eröffnet sich ein interdisziplinärer Zugang zu diesem Thema, der so umfassend und fundiert wohl kaum in einem anderen Buch zu finden ist.

Angetan haben es mir vor allem die Sichtweisen der verschiedenen psychotherapeutischen Schulen, die im zweiten Teil des Buches behandelt werden. In dem Kapitel von Dr. Gerhard Zarbock wird das Konstrukt „Identität“ bspw. aus verhaltenstherapeutischer Perspektive betrachtet und fußt demnach auf fünf Pfeilern: Selbstpräsenz-Erfahrung, metakognitive Selbstkontrolle, Selbsterzeugung von Realität, Identifikation mit Bewusstseinsinhalten und der Selbst-Einbindung in die Umwelt. Weiter geht es mit der Individualtherapie von Alfred Adler, der Analytischen Therapie von C. G. Jung und neueren psychoanalytischen Perspektiven. Es folgen Ausführungen aus der Gestalttherapie, der Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers sowie der systemischen Therapie. Zum Schluss meldet sich der Herausgeber nochmals selbst zu Wort und erläutert, warum er in der integrativen Identitätstheorie die Grundlage einer entwicklungspsychologisch und sozialisationstheoretisch begründeten Persönlichkeitstheorie und Psychotherapie sieht. Hier finden sich dann auch einige Anregungen für die praktische Identitätsarbeit mit Klienten.

Nachdem ich nun alles gelesen hatte, musste ich mir die Frage stellen, was letztendlich in meinem Gedächtnis „hängengeblieben“ ist? Wahrscheinlich nicht allzu viel. Von daher werde ich mir gewiss im Laufe der Zeit das ein oder andere Kapitel nochmals vornehmen, um mir die wesentlichen Aussagen herauszuschreiben und sie mit eigenen Überlegungen zu unterfüttern. Immerhin habe ich die Inhalte jenes Kapitels, in dem das Konzept der Identität aus Sicht der Verhaltenstherapie beleuchtet wird, bereits in meinen Unterricht integriert. Der Anfang wäre also gemacht!

Wer sich also für das Thema „Identität“ interessiert und sich umfassend über den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs informieren möchte, dem sei dieses Buch sehr empfohlen! Zwar weiß ich nicht, ob ich diesem Werk mit einer solchen Rezension auch nur annähernd gerecht werde, trotzdem möchte ich sie jetzt – nachdem ich mehrere Monate darüber nachgedacht habe, ob und wie ich sie verfasse – veröffentlichen. Ich rate Ihnen aber, diese großartige Artikelsammlung selbst zu lesen – nicht nur, aber vor allem dann, wenn Sie oder Ihre Klienten ein “Identitätsproblem” haben und daran arbeiten wollen.

Petzold, Hilarion G. Petzold (Hrsg.) (2012). Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven. VS Verlag für Sozialwissenschaften – Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH.

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