“Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung” von Martina Molnar

Bei dem folgenden Text handelt es sich um Ausschnitte des 11. Kapitels (“Ergänzende Empfehlungen und Erfolgsfaktoren”) aus dem im Dezember 2017 erschienenen Buch “Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung – aus der Praxis für die Praxis: Fahrpläne, Stolpersteine und Erfolgsfaktoren” von Martina Molnar.

“Wer die Gefährdungsbeurteilung als Instrument begreift, mit dem Unternehmen sich auf vielen Ebenen entwickeln und verbessern können, schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten und bessere Ergebnisse für das Unternehmen.” (Klappentext)

Die Autorin gründete 1992 die humanware GmbH (www.humanware.at) und ist seither freiberuflich als zertifizierte Arbeits-, Organisations- und Gesundheitspsychologin sowie auf dem Gebiet der Ergonomie mit Projekt- und Beratungserfahrung in Unternehmen quer durch alle Branchen tätig. Bis Mai 2017 war sie Vorstandmitglied des Berufsverbandes Österreichischer Psychologinnen und Psychologen und Leiterin der Fachsektion Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologie. Sie ist langjähriges Mitglied des Netzwerks des Österreichischen Focal Point der EU-Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und Mitglied des Deutschen Fachverbandes Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit (PASIG).

Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (GpB) als Managementinstrument

Es wird wohl kaum jemanden geben, der dem Satz „die Gesundheit ist ein wichtiges Gut“ nicht zustimmen kann. Das gleiche gilt für den Satz „die Gesundheit unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist ein hohes Gut.“ Bedauerlicherweise haben die Themen Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten in vielen Unternehmen dennoch keine unternehmensstrategische Bedeutung, sondern sie werden entweder als gesetzliche Pflicht aufgefasst, die eben mehr oder weniger erfüllt werden muss – wie die GpB – oder in die „Betriebliche Gesundheitsforderung“ integriert und oftmals individualisiert, d.h., fast nur die Beschäftigten selbst und ihr Verhalten (lebensstilbezogene Aspekte von Bewegung, Ernährung, Entspannung) für mehr oder weniger Gesundheit verantwortlich gemacht. Es kommt meiner Erfahrung nach in Unternehmen kaum vor, dass Gesundheit bzw. deren Beeinträchtigung in Abhangigkeit von Arbeitsbedingungen strukturell analysiert wird oder die vielfach vorliegenden Forschungserkenntnisse dazu in Praxis der Arbeitsgestaltung (verhältnisbezogen) ausreichend genutzt werden.

Allerdings erzeugen physische und psychische Fehlbelastungen von Beschäftigten in Unternehmen auch Kosten fur die Unternehmen und damit meine ich nicht nur die unmittelbaren gesundheitsbezogenen Kosten wie erhöhte Unfallrisiken und krankheitsbedingte Fehlzeiten, die ohnehin immer wieder zur Argumentation des Nutzens von Prävention und Gesundheitsförderung herangezogen werden. Die GpB macht Störfaktoren, Hindernisse, Blockierungen, fehlende Abstimmungen, Informations- und Kommunikationshürden sichtbar, die einerseits Fehlbelastungen der Beschäftigten sind und andererseits Zeit kosten, Doppelarbeit verursachen, Konflikte erzeugen und die Qualität der Prozesse und der Ergebnisse negativ beeinflussen. Lean Manager finden hier viele Quellen für Verluste.

Abbildung 18 zeigt, dass Beschäftigte bestimmte Arbeitsanforderungen zu bewältigen haben (konkrete Ziele, Aufgaben, Ergebnisse in einer konkreten Zeit und Qualität), für die ihnen mehr oder weniger Ressourcen (Zeit, Wissen und Können, Gestaltungsmöglichkeiten, Werkzeuge und Hilfsmittel, Zusammenarbeit, Information, etc.) zur Verfügung stehen. Physische und psychische Gefährdungen können entstehen, wenn die Ressourcen zur Bewältigung der Arbeitsanforderungen nicht ausreichen.

Kommen noch weitere Störfaktoren dazu (z. B. Unterstützung aus dem Kollegenkreis ist wegen Krankheits- oder Urlaubsabwesenheiten nur eingeschränkt möglich, die Klimaanlage/Heizung funktioniert nicht, die Lieferung der Montagebauteile erfolgt zu spät, etc.), dann kostet das die betroffenen Menschen zusätzliche Zeit und Aufmerksamkeit, die für die Erfüllung der Arbeitsaufgaben fehlen. Es handelt sich also um unnötige Lasten fur die arbeitenden Menschen und um Verschwendung und Verluste für die Unternehmen. Die GpB kann diese Faktoren sichtbar machen und die Wertschöpfung fur beide Seiten optimieren:

  1. Störfaktoren und Hindernisse beseitigen: Alle Faktoren, die Menschen bei der Bewältigung ihrer Arbeitsaufgaben stören und auf Sicht auch die Gesundheit gefährden, sollten so weit es geht beseitigt bzw. reduziert werden.
  2. Anforderungen-Ressourcen-Gleichgewicht herstellen: Wenn die Ressourcen zur Bewältigung der Arbeitsanforderungen nicht ausreichen, gibt es nur zwei Möglichkeiten der Optimierung, nämlich die Anforderungen an die verfügbaren Ressourcen oder die Ressourcen an die gestellten Anforderungen anpassen.

Organisationen, in denen die GpB nach allen Regeln der Kunst umgesetzt wird und die tatsächlich den Weg der der Optimierung von Arbeitsbedingungen beschreiten, gewinnen wertvolle Chancen. Plötzlich wird dann auch klar, dass es sich um eine sinnvolle Investition handelt […].

Psychologische Gestaltung des Prozesses

In vielen Unternehmen gibt es viele Projekte und die Beschäftigten haben gelernt, dass diese von ihnen Aufmerksamkeit, Zeit und bestimmte Aktivitäten verlangen. Jedes neue Projekt wird daher auch kritisch betrachtet und bezüglich seiner potentiellen Chancen und Risiken fur die eigene Rolle und das eigene Tun bewertet. Insofern ist es wesentlich, die Planung und die Umsetzung der GpB als psychologischen Prozess zu begreifen und auch so zu planen. Denn Projekte und Prozesse in Organisationen haben nicht nur Termine, Zeitbedarf und Kosten, sondern vor allem mit den Interessen, Hoffnungen und Befürchtungen der darin involvierten und davon betroffenen Menschen zu tun.

Gemeinsame Entscheidungskriterien der Sozialpartner

Es zeigt sich oft […], dass mangelnde Abstimmung über Ziele und Wünsche zur Gestaltung des GpB-Prozesses der Beteiligten in Unternehmen mit vielen leeren Kilometern und unangenehmen emotionalen Nebenwirkungen verbunden sein kann:

[…] Sehr häufig gibt es parallele Teams der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite, die nach unterschiedlichen Kriterien zur GpB Verfahren recherchieren und Konzeptüberlegungen anstellen. Wenn es von einer Seite eine Präferenz gibt und diese nach dem Auswahlprozess der jeweils anderen Seite mitgeteilt wird, ist eine häufige Reaktion Skepsis, Kritik bzw. Ablehnung. D.h., der Prozess der Entscheidungsfindung und Prozessplanung dreht sich (unnötig lange) im Kreis.

Führungskräfte sind skeptisch

Werden Führungskräfte nicht früh genug informiert und in die Planung des Prozesses involviert, stehen sie den Ergebnissen und den von ihnen geforderten Aktivitäten zur Maßnahmenumsetzung häufig kritisch bis ablehnend gegenüber. In einer öffentlichen Institution mit mehreren Einrichtungen wurden die jeweils verantwortlichen Direktoren das erste Mal mit der GpB befasst, als sie zur Präsentation der Ergebnisse der Erhebung eingeladen wurden. Dabei wurden viele Grundsatzdiskussionen geführt, die mit dem Zweifel an der Eignung des Erhebungsinstrument und der Skepsis gegenüber der Richtigkeit der Daten bis hin zu Bedenken hinsichtlich möglicher Maßnahmen reichten.

Empfehlungen: Grundsätzlich ist es wesentlich, sobald der Erhebungs- und Auswertungsplan vorliegt, sich Gedanken über wesentliche Weichenstellungen bezüglich der intern und extern erforderlichen Ressourcen zu machen:

  1. Stehen für die Erhebung, Auswertung und die Erstellung von Auswertungsberichten und deren Besprechung bzw. Präsentation intern fachlich qualifizierte Personen zur Verfügung (haben Sie damit schon Erfahrung)? Wenn nein, was soll intern, was extern geleistet werden?
  2. Steht diesen Personen das erforderliche Zeitvolumen zur Verfügung (berechnen Sie, wieviel Aufwand für alle Erhebungs- und Auswertungsgruppen erforderlich ist)? Wenn nein, was soll intern, was extern geleistet werden?
  3. Sind diese Personen auch fachlich bzw. zeitlich in der Lage, dabei alle betroffenen Führungskräfte und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzubeziehen? Wenn nein, was soll intern, was extern geleistet werden?

Für die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite ist es sehr nützlich, sich über gemeinsame Kriterien und Bedingungen zu verständigen, nach denen bei der GpB vorgegangen werden könnte. Ein solcher Kriterienkatalog macht sichtbar, was wem wie wichtig ist […]. Für alle späteren Entscheidungen werden diese Kriterien gemeinsam herangezogen.

Die Erstellung des Kriterienkatalogs erfolgt in folgenden Schritten:

  1. Festlegung der Kriterien: Zuerst werden gemeinsam von allen Mitwirkenden am GpB-Prozess die Entscheidungskriterien in der ersten Spalte festgelegt. Die Vorschläge in der Tabelle können natürlich in jedem Unternehmen individuell verändert und angepasst werden.
  2. Festlegung der Mitwirkenden: Ergänzend werden Spalten fur die Mitwirkenden an der GpB angelegt. In diesem Beispiel sind das die Arbeitgeber- und die Betriebsratsseite, die Arbeitsmedizin und die Arbeitssicherheit.
  3. Bewertung der Wichtigkeit der Kriterien: Zuletzt bewerten die Mitwirkenden jeweils, wie wichtig Ihnen die vorher festgelegten Kriterien sind, wobei hier zwischen 0 und 3 Punkte vergeben werden können.
  4. Schwerpunkte erkennen: In jeder Zeile werden die Punkte addiert, sodass sich in der letzten Spalte ein Gesamtwert ergibt. Die höchsten Punktezahlen zeigen für alle Beteiligten die gemeinsam wichtigsten Punkte. […]

Aktiv reagieren, wenn die Realität vom Plan abweicht

„Life is what happens to you while you’re busy making other plans” ist ein Zitat aus dem Song „Beautiful Boy“ von John Lennon. Mit anderen Worten: Das Leben geschieht, während Du mit anderen Plänen beschäftigt bist. Es gehört zu den ganz normalen Herausforderungen des Lebens, ständig mit unvorhersehbaren Ereignissen umgehen und dafur Lösungen finden zu müssen. Warum sollte die GpB davon ausgenommen sein? […]

Empfehlung: Kommt es zu massiven Veränderungen in einer Organisation, wie dies beispielsweise bei Unternehmensverkäufen, Fusionierungen, Personalreduktion und anderen Formen der Neuorganisation verbunden ist, muss die Steuergruppe entscheiden, wie dies im konkret laufenden Projektgeschehen gehandhabt werden soll. Die GpB befasst sich mit den Arbeitsbedingungen und wenn diese Arbeitsbedingungen sich plötzlich fundamental verändern, dann steht selbstverständlich dieses Thema im Zentrum des Interesses aller. Plötzlich auftretende Barrieren und Hindernisse im Projektprozess kann man mehr oder weniger problem- oder lösungsorientiert, aktiv oder passiv, konstruktiv oder destruktiv begegnen.

Ich pladiere dafur, das Beste daraus zu machen und die knappen Ressourcen nicht für Klagen oder die Suche nach Schuldigen zu verschwenden. Sollten überraschende Situationen während dieses laufenden Prozesses eintreten, gibt es nur die Empfehlung, die Initiative zu ergreifen und nicht abwartend oder ausweichend damit umzugehen.

Die Doppelrolle von Führungskräften

„Oft wird die Gefährdungsbeurteilung als Last angesehen, teilweise herrscht aber auch bei Führungskräften Unsicherheit über mögliche Ergebnisse, die auf Schwachstellen in ihrer Abteilung hinweisen könnten“ (Sandrock, 2016, 315). Führungskräfte haben eine Doppelrolle: Sie haben einerseits Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, andererseits sind sie selbst auch Beschäftigte mit einem spezifischen Belastungsprofil, das im Rahmen der GpB ebenso berücksichtigt werden muss. Damit das geschieht und sich Führungskräfte sowohl mit der Analyse und Verbesserung der eigenen Arbeitsbedingungen als auch mit den Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befassen konnen, sind einige Vorgehensweisen hilfreich.

Dazu folgende Empfehlungen:

  1. Es sind die psychischen Belastungsfaktoren der Führungskräfte als spezifische Tätigkeitsgruppe – getrennt für die unterschiedlichen Organisationseinheiten – ebenfalls zu erfassen und zu bewerten.
  2. Führungskräfte sollten – wie ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – die Chance haben, an Maßnahmen-Workshops für Führungskräfte teilzunehmen. Zusätzlich sollten in komplexen Unternehmen die Maßnahmen-Workshops für die einzelnen Führungsebenen aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsaufgaben und Belastungen getrennt durchgeführt werden.
  3. Maßnahmen-Workshops für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten nicht gemeinsam mit oder moderiert von Führungskräften stattfinden. Denn: Führungskräfte meinen oft, sofort Erklärungen oder Lösungen für aufgeworfene Themen liefern zu müssen. Mitarbeiter glauben, dass sie nicht frei sprechen können, wenn ihre Führungskraft anwesend ist. Beides erschwert die Ursachenanalyse von Gefährdungen und die zielführende Entwicklung von Maßnahmen.
  4. Keine Führungskraft möchte vor Publikum von verschiedenen Problemen das erste Mal hören und ad hoc Lösungen aus dem Hut zaubern. Daraus entsteht ein Druck, der sich eher nicht günstig fur die Lösungsfindung auswirkt, sondern im Gegenteil – Verteidigung und Abwehr provoziert. Daher ist es klüger, einer Führungskraft Ergebnisse persönlich zurückzumelden und ihr Zeit und Raum zur Auseinandersetzung damit und zur Lösungsentwicklung zu geben. […]

Zuerst ein Erhebungsplan, dann die Verfahrensauswahl

Der Regelfall ist es, dass Unternehmen sich in erster Linie dafür interessieren, welches Analyse-Verfahren sie verwenden sollen. Diese Frage tritt meist am Beginn auf und zwar bevor es einen grundsätzlichen Ablaufplan gibt und bevor geklärt wurde, in welchen und wievielen Bereichen und Tätigkeiten GpB-Analysen bzw. Diagosen erforderlich sind. Deren Anzahl und Merkmale sind allerdings der wesentliche Ausgangspunkt für die Frage, welche Art von Verfahren (Fragebogen, Beobachtungsanalyse, Gruppenverfahren) mehr oder weniger passend ist und auch die erforderlichen Detailerergebnisse rasch und bei ökonomischem Aufwand liefern kann. Denn sonst kann es passieren, dass sich Input und Output nicht im richtigen Verhältnis befinden […].

Input-Output-Verhältnis passt nicht

Fehlt die Abschätzung des Aufwands für alle Erhebungs- und Auswertungsgruppen, kann eine ungünstige Verfahrenswahl getroffen werden. Es gibt hier zwei typische Situationen: Erstens kann der Analyseaufwand überdimensioniert sein, wenn in kleinen Unternehmen zuerst Fragebögen eingesetzt und anschließend noch Gruppenworkshops durchgeführt werden. Zweitens tritt sehr oft auch der Fall ein, dass der Analyseaufwand deutlich unterdimensioniert ist. Dies ist dann zu beobachten, wenn größere Unternehmen nur mit Gruppenverfahren arbeiten wollen und aufgrund der großen Anzahl von Organisationseinheiten (OE) und Tätigkeitsgruppen (TG) dazu übergehen, die Analysen nicht für alle OE und TG, sondern nur in Form von einzelnen Stichproben durchzuführen.

Hierzu einige Empfehlungen:

  1. Spezifikation von Erhebungs- und Auswertungsgruppen: Es wurde im Kapitel 5 (Erhebungs- und Auswertungsplan) aufgezeigt, anhand welcher Kriterien die Organisationseinheiten (OE) und Tätigkeitsgruppen (TG) spezifiziert werden können, um einen solchen Erhebungsplan festzulegen, bevor die Suche nach einem Analyse-Verfahren startet.
  2. Kleine Unternehmen: Bei kleinen Organisationen mit wenigen OE und TG ergibt sich ein gutes Aufwand-Nutzen-Verhältnis, wenn nur Gruppenverfahren bzw. Beobachtungsanalysen zur Ermittlung und Beurteilung psychischer Gefährdungen eingesetzt werden.
  3. Größere und große Unternehmen: Größere Organisationen gehen effizient und effektiv vor, wenn sie im ersten Analyseschritt ein Befragungsverfahren und im zweiten Analyseschritt Maßnahmen-Workshops bzw. Beobachtungsanalysen zur Ursachenanalyse einsetzen.
  4. Unterstützung bei der Auswahl von Verfahren: Abgesehen vom Verfahrenstyp müssen geeignete Verfahren noch weitere Merkmale erfüllen, um qualitätsgesicherte Diagnosen zu ermöglichen. Es sind in Kapitel 10 einige Checklisten enthalten, die bei der Recherche von Verfahren und bei der Einholung von Angeboten dabei unterstützen können, Fragen an die Anbieter zu stellen oder Kriterien zur Bewertung der Angebote zu nutzen.

Zuerst Überblicksergebnisse, dann in die Details zoomen

Immer wieder kommt es vor, dass sich die Akteure in Unternehmen bei der Strukturierung und Aufarbeitung der Ergebnisdaten verheddern. Entweder gibt es nur Gesamtauswertungen ohne Details für die einzelnen Bereiche bzw. Tätigkeiten, sodass spezifischen Gefährdungsbeurteilungen fehlen. Oder es gibt so viele detaillierte Daten und Analysen, dass die an der Interpretation beteiligten Personen den roten Faden nicht mehr erkennen und das Wesentliche vom Unwesentlichen nicht trennen können.

Bei der Ermittlung und Beurteilung psychischer Belastung liefert eine Befragung (Screening) eine Ergebnisübersicht über alle Erhebungsgruppen, die nur bei kritischen Ergebnissen selektiv weiter vertieft werden (z. B. durch spezifische Detail-Auswertungen, Gruppen-Interviews, Beobachtungsverfahren), um Maßnahmen daraus ableiten zu können: „Die Datenebene hat den Vorteil eines Suchscheinwerfers: Er beleuchtet den Bereich, der genauer betrachtet werden sollte. Die quantitative Datenebene muss jedenfalls noch durch einen qualitativen Schritt ergänzt werden. Das Ziel dabei ist, die Bedeutung der hinter diesen Daten stehenden konkreten betrieblichen Belastungen herauszuarbeiten.“ (Molnar, 2014, 69). Daher ist ein Vorgehen von der groben Ubersicht in einzelne (ausgewahlte) Details empfehlenswert:

Schritt 1 – Ergebnisübersicht: Abbildung 19 zeigt eine solche Ergebnisübersicht über einen Teilbereich eines Unternehmens. Grün zeigt unkritische, orange durchschnittliche und rot kritische Ergebnisse an. Die Abbildung stellt die Ergebnisse für mehrere Abteilungen dar (z. B. Abt. A Verwaltung, Abt. B Reinigung, Abt. C Technik, Abt. D Küche). Es wird sichtbar, in welchen Abteilungen und bei welchen Themen es in der Organisation kritische Arbeitsbedingungen (psychische Gefahrdungen) gibt, auf die bei der weiteren Analyse und Maßnahmenentwicklung fokussiert werden sollte.

So zeigt sich in Abbildung 19 zum Beispiel:

  • Es gibt ein kritisches Thema (Perspektiven und Beteiligung), das sich im gesamten Bereich 1 in allen Abteilungen A bis D findet. Empfehlenswert ist es, für Beschäftigte aus allen vier Abteilungen einen gemeinsamen Workshop zur Ursachenanalyse und Masnahmenentwicklung anzubieten.
  • Abteilung D (Küche) hat von allen Abteilungen die meisten kritischen Ergebnisse in mehreren Skalen (Umgebungsbedingungen, Arbeitsanforderungen, Perspektiven und Beteiligung, Soziales Umfeld). Für Beschäftigte in der Küche soll ebenfalls ein Maßnahmen-Workshop stattfinden. Zur Vorbereitung werden die Detail-Ergebnisse ausgewertet.

Schritt 2 – Detail-Auswertung: Ein Screening muss fur jede einzelne erhobene Abteilung (und jede Tätigkeitsgruppe) eine gesonderte Detail-Auswertung ermöglichen. Abbildung 20 zeigt die Detail-Ergebnisse der Abteilung D (Küche). Hier sind die Werte der Abteilung D (schwarze Balken) im Vergleich zur Gesamtorganisation (weise Balken) zu sehen.

Außerdem enthält die Detail-Auswertung noch freie Kommentare der befragten Personen, aus denen hervorgeht, welche konkreten Aspekte hinter den kritischen Daten stecken könnten. Hier ist beispielsweise zu lesen:

  • Perspektiven und Beteiligung: Viel Leihpersonal, ständige Einschulungen nötig / Ich bin seit 3 Wochen da und weiß nicht, ob ich bleiben kann / für Lehrlinge zu wenig Zeit / ….
  • Aufgaben und Abläufe: Würde gern Neues lernen / Neue Ideen werden nur selten umgesetzt / schlecht organisiert, manche Handgriffe doppelt / es freut mich, wenn es den Leuten schmeckt / ….
  • Arbeitsanforderungen: Zu Mittag schwitzen wir am meisten / neuen Mitarbeiter fehlt Erfahrung und das macht uns Stress / …
  • Soziales Umfeld: Es herrscht ein raues Klima, besonders zur Stoßzeit / Chef ist selber übefordert und kann sich nicht um alles kümmern / Teamgefühl fehlt, weil ständig neue Leute/….

Schritt 3 – Maßnahmen-Workshop: Mit diesen Informationen aus der Detailauswertung der Abteilung D (Küche) wird ein Maßnahmen-Workshop vorbereitet und durchgeführt. Die teilnehmenden Personen aus der Küche werden gebeten, die Gefährdungsfaktoren der kritische Skalen (Umgebungsbedingungen, Arbeitsanforderungen, Perspektiven und Beteiligung, Soziales Umfeld) anhand der Kommentare zu den diesen Themen im Detail zu beschreiben. Wenn die Ursachen geklärt sind, werden gemeinsam Ideen dazu entwickelt, welche Maßnahmen zu einer Verbesserung der Arbeitssituation bzw. einer Verringerung der Gefährdungen führen konnten (im vorliegenden Fall waren das z. B. Maßnahmen zur Reduktion des häufigen Personalwechsels und die Erstellung eines systematischen Schulungsplans). […]

Die emotionale Bewertung von Ergebnissen

Die Daten, die aus der GpB entstehen, sind in Unternehmen nicht nur von messtechnischer Bedeutung, sondern sie sind auch mit Hoffnungen oder Befürchtungen verbunden. Die einen fühlen sich durch bestimmte Ergebnisse bestätigt, die anderen sind enttäuscht, weil sie sich etwas ganz anderes erwartet haben (z. B.: Es ist nicht so schlimm, wie wir dachten. Es ist viel schlimmer, als wir dachten. Es zeigen sich Gefährdungen in anderen Themen oder Bereichen, als wir dachten.) Messwerte in Unternehmen haben insbesondere dann eine politische Bedeutung, wenn die gemessenen Belange sowohl die Arbeitgeber- als auch die Arbeitnehmerseite interessieren – und das ist fast immer der Fall.

Insbesondere bei Befragungen liefern die Daten vielfältige Möglichkeiten, sich nicht mit inhaltlichen Aussagen und Schlussfolgerungen zu befassen, sondern sich in allerlei Details und Nebenaspekte zu vertiefen, die letztlich ein nachhaltiges Tun verhindern. Das zeigt sich meiner Beobachtung nach in folgenden Schwierigkeiten rund um die gewonnenen Daten:

  • Die gewonnen Daten haben keine Aussagekraft, liefern aber viel Spekulationspotential: Wie in Kapitel 6.1 dargestellt, ist eine fundierte Diagnose überhaupt nur dann zu erwarten, wenn ein nach testtheoretischen Standards erzeugtes Instrument entsprechend kundig eingesetzt wird. Alle anderen Herangehensweisen liefern keine seriöse Information. Dennoch gibt es auch und gerade bei Verwendung von „hausgemachten“ Erhebungen viel Spielraum für zahlreiche Deutungen, was die Ergebnisse besagen sollen.
  • Abwege von der empfohlenen Interpretation: Fur fachlich fundierte Verfahren gibt es Vorgaben, wie deren Ergebnisse zu interpretieren sind. Das hindert aber durchaus nicht daran, trotzdem ganz andere Interpretationen zu präferieren. Als Fachperson kommt man dann mitunter in die bizarre Situation, dass die in einem Verfahren festgelegten Interpretationsformen sozusagen als bloße „Meinung“ abgetan werden, zu der man auch eine ganz andere Meinung haben kann.
  • Die Daten bzw. Ergebnisse werden bezweifelt oder umgedeutet: In Ergebnispräsentationen gibt es immer wieder Debatten darüber, ob die Ergebnisse glaubwürdig sind. Üblicherweise wird diese Diskussion von Personen gestartet, die Motive dafür haben, sich ein anderes Ergebnis zu wünschen. Es werden dabei eine Reihe von Argumenten angeführt: Die gestellten Fragen waren nicht passend, die gestellten Fragen wurden falsch verstanden, die Beteiligungsquote bestimmter Gruppen hat das Ergebnis verfälscht, die statistische Verrechnung der Daten ist nicht nachvollziehbar, die zum Vergleich verwendeten Normwerte sind ungeeignet (Zitat einer Kollegin aus einem Unternehmen „wir sind unvergleichlich“). Mit anderen Worten: „Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf“ (Christian Morgenstern).
  • Es werden (zu) viele detaillierte Sub-Auswertungen durchgeführt: Die mit den Auswertungen befassten Personen und Personengruppen in Unternehmen haben manchmal die Erwartung, dass ihnen bei der ersten Ergebnispräsentation sofort klar ist, was die nun folgenden Handgriffe und Maßnahmen sein müssen. Das ist insbesondere in größeren Unternehmen nicht der Fall, weil die erste Ergebnisübersicht lediglich anzeigen kann, in welchen Bereichen und bei welchen Merkmalen mehr oder weniger kritische Ergebnisse sichtbar sind. Konkret werden die dort vorliegenden kritischen Bedingungen erst dann, wenn es vertiefende Ursachen-Analysen in diesen Bereichen gibt. Manche Unternehmen meinen allerdings, dass sie den aufgezeigten roten Faden durch zahlreiche Nebenauswertungen bis ins kleinste Detail zerlegen müssen. Solche Auswertungen, die auf atomares Niveau heruntergebrochen werden, führen dann zu einer Flut von Detailinformationen, die den Blick auf das Wesentliche verstellen.

Die einzige Empfehlung an dieser Stelle ist es, rund um derartige Erscheinungen Fragen an die Runde zu stellen und diese zu besprechen: Was treibt uns an? Warum tun wir, was wir tun? Was wollen wir erreichen? Gibt es andere Wege, die dabei hilfreich sein könnten?

Quelle:

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