Rezension: “Gestalttherapie” von Lotte Hartmann-Kottek

“Die Gestalttherapie fasziniert durch ihr unmittelbares, erlebnisorientiertes Vorgehen und ihre große Wirksamkeit. Lotte Hartmann-Kottek stellt den Ansatz systematisch und zugleich praxisnah vor.” (Klappentext)

Die Gestalttherapie gehört seit jeher zu jenen Therapieverfahren, die mich am meisten begeistern. Arbeitet man mit emotionsfokussierenden Methoden, sei es mittels des Modells des Inneren Teams von Friedemann Schulz von Thun oder der Schematherapie von Jeffrey Young, so kommt man streng genommen nicht umhin, sich auch mit den Ideen von Fritz Perls zu befassen. Hinzu kommt, dass achtsamkeitsbasierten Verfahren, die große Ähnlichkeit mit dem Awareness-Konzept haben, nicht nur im Rahmen der Burnout-Prävention eine große Bedeutung beigemessen wird. Deshalb stellte sich mir die Frage, ob die Gestalttherapie nur ein Verfahren sei, das historisch interessant ist und auf das immer wieder zurückgegriffen wird, oder ob – und vor allem wie – sich das zugrundeliegende Modell mit den neueren Erkenntnissen z. B. aus dem Bereich der Hirnforschung in Einklang bringen lässt. So suchte ich nach einen Buch, in dem das Verfahren nicht nur erläutert bzw. in seinen Grundzügen erklärt wird (denn davon hatte ich schon einige), sondern in dem etwas darüber ausgesagt wird, inwieweit die Ideen von Fritz Perls heute überhaupt noch aktuell sind.

Lotte Hartmann-Kottek beginnt in ihrem Buch, das 2012 in der 3., vollständig überarbeiteten Auflage erschienen ist, mit einer allgemeinen Einführung in die Gestalttherapie. Wer sich zuvor noch nicht mit diesem Verfahren und seinem Hintergrund beschäftigt hat, wird zunächst mit großer Wahrscheinlichkeit von Fachbegriffen und erkenntnistheoretischen Modellen erschlagen. Es kostete mich viel Zeit, die Inhalte der ersten 70 Seiten genau zu verstehen. Immer wieder musste ich Google darum bemühen, mir einzelne Begriffe zu erklären, und diverse Absätze mehrfach lesen. Manchmal fragte ich mich, warum die Autorin Dinge so kompliziert ausdrückt? Kurzum: Interessierten Laien ist dieses Buch nicht zu empfehlen – fachlich versierten Lesern hingegen schon. Durch die Einbettung des Konzeptes in die aktuelle Forschung lässt Frau Lotte Hartmann-Kottek übrigens keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Gestalttherapie absolut zeitgemäß ist.

Nach dem allgemeinen Teil folgen Ausführungen zur Krankheits- und Störungslehre, zur Behandlungsmethodik und zu verschiedenen Setting-Varianten und Anwendungsbereichen. Diese Abschnitte machen das Buch für die therapeutische Arbeit interessant, zumal die vielen Querverweise zu anderen psychologischen Modellen und Theorien stets sehr fundiert sind. Vor allem aber haben mir die Beschreibungen der Interventionen gefallen, die – zu meiner Überraschung – leicht verständlich und sehr praxisorientiert waren. So findet man in dem Buch viele Anregungen für die therapeutische Arbeit, die man sich ansonsten mühsam aus anderen Büchern zusammensuchen müsste. Allein deshalb hat sich die Anschaffung gelohnt (und vor allem dafür bekommt es auch die fünf Sternchen von mir)! Hilfreich sind zudem die Erklärungen zu den einzelnen Störungsbildern aus gestalttherapeutischer Sicht.

Das Kapitel über die berufspolitische Situation habe ich nur überflogen. Wer aber darüber nachdenkt, sich für eine entsprechende Ausbildung zu entscheiden, dem sei die Lektüre empfohlen. Der letzte Abschnitt, in dem über den Forschungsstand berichtet wird, ist vor allem interessant für jene, die sich im Rahmen eines Studiums oder im wissenschaftlichen Kontext mit dem Verfahren befassen.

Fazit: Ich habe dieses Buch anfänglich nicht komplett durchgelesen. Das war meiner ad-greddi ehrlich gesagt zu anstrengend und zu zeitaufwendig. Aber ich habe viele sehr wertvolle Anregungen für meine eigene Arbeit darin gefunden, die ich direkt umsetzen konnte. Zudem ist es (auch dank des Stichwortverzeichnisses) ein hervorragendes Nachschlagewerk, das ich bestimmt regelmäßig zur Hand nehmen werde. Sehr gelungen finde ich übrigens die beiden Grafiken zum Gestalt-Aufbau- und Gestalt-Auflösungskreis, die ich mir für meine eigenen Unterlagen herauskopiert habe.

Lotte Hartmann-Kottek (2012). Gestalttherapie (3. Auflage). Springer-Verlag.

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