“Kurt Lewins Kritik der Ganzheit” von Stefan Blankertz

Neben und in Konkurrenz zu Sigmund Freud (Psychoanalyse) und B.F. Skinner (Behaviorismus) gehört Kurt Lewin (Feldtheorie) zu den bedeutendsten und einflussreichsten Psychologen des 20. Jahrhunderts.

Kurt Lewin (1890-1947) war deutscher experimenteller Gestaltpsychologe, der 1933 wie so viele andere führende Wissenschaftler Deutschland aufgrund der Machtübergabe an die Nationalsozialisten verlassen musste. In den USA erweiterte er seinen Ansatz um die sozialpsychologische Komponente und wurde zum Begründer der Gruppendynamik und der Erforschung von Minderheitenproblemen mit dem Ziel, die gesellschaftliche Toleranz und die demokratische Kultur auszubauen. Da er viel zu früh mit 57 starb, hinterließ er ein fragmentarisches Werk, das er noch nicht zu einer vollen Geschlossenheit und inneren Stimmigkeit ausbauen konnte.

Wie Ludwig von Mises ist Lewin Kantianer und geht von der Forderung aus, die Psychologie müsse das Verhalten nach gültigen Gesetzen (und nicht etwa nach Durchschnittswerten, Wahrscheinlichkeiten oder historisch bzw. biografisch bestimmten Faktoren) beschreiben […].

Das Buch skizziert kurz und präzise die Struktur der psychischen Dynamik, wie Lewin sie erkannt und beschreibbar gemacht hat. Dabei zeigt es vor allem auch die Möglichkeiten auf, im Sinne von Lewin aktuelle soziale und individuelle Probleme anschaulich werden zu lassen und damit Perspektiven für Veränderungen aufzuzeigen.

Stefan Blankertz, 1956, lebt in Berlin und arbeitet als Theorietrainer am »Gestalt-Institut Köln (GIK)«.

Feldtheorie gegen Esoterik → Leseprobe (S. 11 bis 28):

Der Name »Kurt Lewin« ist allgemein – und unter Gestalttherapeuten ganz besonders – mit dem Begriff der »Feldtheorie« verknüpft. Tatsächlich machte Lewin zwar selber vom Feldbegriff reichlich Gebrauch, hat ihn in die Psychologie aber weder eingeführt – diese Ehre geht wohl an seinen Kollegen und Mitstreiter in Sachen »Berliner Schule« der Gestaltpsychologie Wolfgang Köhler – noch als Marken-bezeichnung für seinen Ansatz reklamiert. Vielmehr stellte er seine Überlegungen unter Überschriften wie »(kausal-) dynamische Theorie« oder – vor allem – »Vektor-« bzw. »topologische Psychologie«. Erst als kurz nach Lewins Tod Dorwin Cartwright einige von dessen bedeutendsten Texten unter dem Titel »Field Theory in Social Science« veröffentlichte, ließ dies Kurt Lewin zu dem Feldtheoretiker schlechthin werden.

1890 wird Kurt Lewin in Mogilno (damals Preußen, heute Polen) geboren. Seine Mutter und sein Vater sind Juden. Ab 1905 lebt die Familie in Berlin. Er beginnt 1909, in München Medizin zu studieren, wechselt dann aber nach Berlin und studiert bei Carl Stumpf, der die Fächer Philosophie und Psychologie vertritt. Ein weiterer akademischer Lehrer mit Einfluss auf Lewin ist der Neukantianer Ernst Cassirer. Bei Ausbruch des Weltkriegs 1914 meldet sich Lewin freiwillig zum Wehrdienst, promoviert jedoch nebenher 1916 und heiratet 1918 Maria Landsberg. Im gleichen Jahr wird er schwer verwundet. Sein jüngerer Bruder Fritz fällt. Nach Kriegsende lehrt und forscht Lewin als Privatdozent am Berliner Institut. Der Umgang mit den Studenten ist unterstützend und großzügig. Ende der 1920er Jahre lässt sich Lewin scheiden und heiratet Gertrud Weiß. Aus seinen beiden Ehen gehen je zwei Kinder hervor. Als den Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übergeben wird, emigriert Lewins erste Frau mit den Kindern nach Palästina. Lewin hat zu der Zeit eine Gastprofessur in den USA inne und beschließt schweren Herzens, Deutschland den Rücken zu kehren.

Zunehmend finden das experimentelle Herangehen und die Gestalttheorie Lewins ebenso wie die Wolfgang Köhlers, Kurt Koffkas und Kurt Goldsteins akademisches Interesse in den USA. In Deutschland hatte Lewin unter dem nur drei Jahre älteren Köhler, der das Berliner Institut ab dem Ausscheiden Carl Stumpfs 1922 leitet, gearbeitet; zugleich waren die Familien miteinander befreundet. Einer der berühmten Filme, an denen Lewin seine Vektorpsychologie demonstriert, zeigt – vermutlich – die zweijährige Tochter Köhlers, Karin, beim Erkunden des Treppensteigens und Ballspiels. In den USA behält Lewin seine Hochachtung für Köhler bei, doch scheint es zu einer Abkühlung des persönlichen Verhältnisses gekommen zu sein. Seinem Buch »Principles of Topological Psychology« stellt er als Einleitung einen fiktiven Brief an Köhler voran, beginnend mit »Dear Köhler«, in welchem er dann aber in recht unpersönlichem Ton von der Entstehung der Gedanken berichtet, wie wenn Köhler Lewin darin nicht jahrelang begleitet hätte und wie wenn Lewin Köhler um Verständnis bitten wollte. Am Ende des Briefes widmet er das Buch dann überraschenderweise nicht etwa Köhler, sondern seinen Schülern in Iowa, wo er hoffe, dass »neue produktive Gemeinschaften entstehen« werden; Gemeinschaften, denen Köhler offenbar nicht mehr angehört. ¿Eine Art Abschied?

Mehrere wesentliche Essays von Lewin werden ins Englische übersetzt. Seine in deutsch begonnenen »Grundzüge der topologischen Psychologie« arbeitet Lewin ins Englische um, die deutsche Fassung erscheint erst 1969. Als zweiten Teil dieser Schrift verfasst er »The Conceptual Representation and the Measurement of Psychological Factors« (1938), die vielleicht am wenigsten rezipierte Schrift Lewins, zugleich ist sie allerdings als bedeutungsvoll einzuschätzen. Zunehmend widmet sich Lewin Fragen der angewandten Sozialpsychologie. Teils nehmen seine Überlegungen gar sozialtechnokratischen Charakter an, so, wenn es um die Planung und Steuerung von Verhaltensänderungen bei Gruppen geht. Doch auch diese Forschungen und Überlegungen sind voll von Einsichten und Anregungen, die erst bruchstückhafte Beachtung fanden, etwa mündeten sie in der »Gruppendynamik« und »Aktions-« bzw. »Handlungsforschung«. Zu der Gruppe von jungen Forschern, die sich in den USA um Lewin scharen, gehört unter anderen auch die berühmte Ethnologin Margaret Mead.

1947 stirbt Kurt Lewin und hinterlässt ein fragmentarisches, an vielen Stellen nicht zuende gedachtes Werk. Sein Einfluss und sein Ansehen sind zunächst noch durch die große Zahl hervorragender Schüler stark, verblassen jedoch zusehends. Psychoanalyse auf der intellektuellen und Behaviorismus auf der experimentellen Seite beherrschen seitdem das Feld.

Die Begriffe »Feld« und »Dynamik« haben inzwischen sich völlig losgelöst von Kurt Lewin, wenngleich sie noch auf ihn zurückgeführt werden. Unter »Feld« und »Dynamik« versteht man heute gemeinhin unbestimmte, umfassende »Ganzheiten«, »Holismus«, also einen allseitigen Zusammenhang, der gegen die Kategorie der Kausalität einer dämonisierten »Wissenschaft« zu gebrauchen sei. Geht es demgegenüber um Lewin, so ist für ihn das »Feld« ein klar eingegrenzter Bereich, in dem die Dynamik durch genau bestimmbare Kräfte kausal bewirkt wird – diesen Feldbegriff, diese Theorie kausal-dynamischer Psychologie im Sinne von Kurt Lewin rekonstruiere ich im Folgenden.

Die Gesetzmäßigkeit der psychischen Dynamik: Verhalten, Person und Umwelt als die psychischen Bezugsgrößen

Immer wieder fordert Lewin eine »strenge Gesetzmäßigkeit« in der Psychologie, analog der physikalischen Gesetzmäßigkeit. Als Kantianer verweist er gern auf Galilei und das Gesetz vom freien Fall. Damit spricht er insbesondere sich gegen ein solches statistisches Verfahren aus, das mit Häufigkeiten und Tendenzen »zufrieden« ist. Ausnahmen nicht ernst zu nehmen oder stillschweigend zu übergehen, sei eine Nachlässigkeit, die Neugierde und Erkenntnisgewinn behindern. Lewin nimmt ausdrücklich nicht gegen Empirie im Allgemeinen oder Experimente im Besonderen Stellung, ihm geht es nicht um den Gegensatz zwischen deduktivem oder induktivem Vorgehen in der Forschung und Schlussfolgerung, vielmehr um die Exaktheit bei der Formulierung von Ergebnissen. Auf Gesetze jedoch stoße man in der modernen Physik bekanntlich nicht mit einer Untersuchung statistischer Wiederholungen, sagt Lewin. Obwohl wir inzwischen brav gelernt haben, dass Gleichzeitigkeit und Korrelation keine ursächlichen Zusammenhänge beweisen, gründen nach wie vor wissenschaftliche Argumentationen oft in der statistischen Illusion. In seinem zentralen Text über die »Struktur der Seele« von 1926 führt Lewin dazu aus: »Eine Voraussetzung zumindest der experimentellen wissenschaftlichen Psychologie ist die These von der Gesetzlichkeit des Psychischen.«

Die These von der strengen Gesetzlichkeit der Gegenstände im Gebiete einer bestimmten Wissenschaft pflegt sich bei den einzelnen Wissenschaften erst allmählich im Verlaufe gewisser typischer Entwicklungsperioden durchzusetzen. Das gilt auch für die Psychologie. Dabei ist nicht entscheidend, wie sehr die These der Gesetzlichkeit nach außen hin, etwa gegen philosophische Einwände theoretisch verteidigt werden muss. Wichtiger ist es, dass selbst dort, wo der Psychologie-Forscher sich ›prinzipiell‹ auf den Boden dieser These stellt, der faktische Wissenschaftsbetrieb ihr doch nicht folgt.

Man kann die These von der Gesetzlichkeit quantitativ und qualitativ einschränken. Man kann sie z.B. für die Sinneswahrnehmungen und das Gedächtnis gelten lassen, aber für das ›höhere‹ Seelenleben, für Gefühle und Willensentscheidungen oder wenigstens für die lebenswichtigen Entscheidungen ablehnen. Oder aber man schwächt die Gesetzlichkeit ab zu bloßen Regelmäßigkeiten, die z.B. bei Kopfschmerzen nicht gelten sollen. Diese Einstellung hat methodisch außerordentlich weitreichende Konsequenzen gehabt und z.B. dazu geführt, dass selbst innerhalb der im engeren Sinne experimentellen Methodik das rein statistische Denken eine ungebührlich große Rolle spielt.

Demgegenüber gilt es, der These von der absolut strengen und schlechthin ausnahmslosen Gültigkeit der psychischen Gesetze auch in der Forschung zum Durchbruch zu verhelfen. Es könnte zunächst für die Forschung selbst gleichgültig erscheinen, wie streng diese These vertreten wird, die eine bloße ›Voraussetzung‹ der experimentellen Forschung bildet und nicht in dem Sinne wie ein einzelner psychologischer Satz bewiesen werden kann. Aber ihr Ernstnehmen zwingt zu einem Ernstmachen mit den Theorien, die keine Grenzscheiden zwischen normalem und anormalem Seelenleben aufrichten und keine Ausnahmen kennen dürfen, mit denen sich eine laxere Auffassung mehr oder minder leicht zu helfen vermag. Was man als psychologisches Gesetz anerkennt, muss schlechterdings immer und überall in allen seinen Konsequenzen als maßgebend angesetzt werden.

Die These der Gesetzlichkeit verlangt, dass man nicht nur die gröbsten Eigentümlichkeiten, sondern auch die feineren Nuancen und Eigenarten des Sonderfalles zur Diskussion stellt, die eine laxere Auffassung gerade auf affektpsychologischem Gebiete dem ›Zufall‹ zuzuschieben oder unbeachtet zu lassen versucht. Das bedeutet jedoch nicht, dass man irgendwelche speziellen und speziellsten Eigenschaften und Prozesse, etwa die Herz- und Lungenphänomene bei affektiven Vorgängen, relativ isoliert in den Vordergrund stellen darf, sondern man wird von dem umfassenden Ganzen des Vorganges herkommend, Einzelheiten immer nur als Sonderheiten eben dieses Ganzen zu bewerten haben.

Ein ähnlicher Sachverhalt besteht für die Frage des Quantitativen. Die begriffliche Erfassung von Gesetzen weitreichender Natur setzt auf allen Gebieten die Berücksichtigung der vollen Wirklichkeit, also auch ihrer quantitativen bzw. intensiven Verhältnisse voraus. Man kann diese Seite der Wirklichkeit nicht fortlassen, ohne zu leeren, blutarmen Schemen zu gelangen. Das gilt gerade auch für das Gebiet des ›höheren‹ Seelenlebens, bei dem Quantität und Qualität aufs Innigste verbunden sind. Damit soll nicht einer blinden Zahlensucht das Wort geredet und auch keineswegs abgeschwächt werden, dass der quantitativen Untersuchung die qualitative in gewissem Sinne vorauszugehen hat, und dass man deren Primat auf willens- und affektpsychologischem Gebiete wahrscheinlich noch für lange energisch wird betonen müssen.

Die These der Gesetzlichkeit zwingt [einerseits] dazu, die Möglichkeit von Gegenbeispielen aus dem Gesamtgebiet des psychischen Lebens in Betracht zu ziehen; sie drängt daher von vornherein zur Berücksichtigung der ganzen Breite der psychischen Phänomene und stärkt so die nicht zuletzt für die Psychologie des Willens und Affektlebens wichtige Tendenz zur Selbstkritik der Theorien.

Andererseits bietet, wie wir sogleich sehen werden, gerade die strenge Auffassung der Gesetzlichkeit des Psychischen durch die Position, die sie dem Experiment verleiht, eine method[olog]ische Grundlage für breitere Forschungsmöglichkeiten.

Die Einstellung auf bloße [!] Regelmäßigkeiten, also etwas statistisch zu Erfassendes, dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, wenn man vielfach als ein Hauptmerkmal des Experimentes seine Wiederholbarkeit angesprochen hat. Damit musste von vornherein die experimentelle Erforschung von Prozessen nur sehr beschränkt möglich erscheinen, bei denen, wie den Affekten, der erste Versuch eine grundlegende Änderung der Basis für den zweiten Versuch mit sich zu bringen pflegt.

Mit der These von der strengen Gesetzlichkeit des Psychischen entfällt diese Schranke[:] Ein einzelner, individueller Fall reicht im Prinzip für die Widerlegung oder den Beweis eines Satzes aus, sofern nur die Bedingungsstruktur des betreffenden Falles hinreichend gesichert ist. Die Wiederholbarkeit wird statt einer notwendigen Bedingung lediglich [!] etwas, was gewisse technische Annehmlichkeiten besitzt. An Stelle der Wiederholung des Gleichen tritt die Analyse durch Variation, der Vergleich planmäßig erzeugter Verschiedenheiten.«

Wer bei Lewin nach in Analogie zu der Physik formulierten psychologischen Gesetzen Ausschau hält, der wird zunächst allerdings enttäuscht sein. Lewins Werk ist fragmentarisch, meist handelt es sich um Essays, die einerseits eine gewisse erkenntnistheoretische Programmatik entfalten, andererseits von Experimenten oder Überlegungen bezüglich gewisser Detailfragen der Psychologie berichten. Auch in den Monografien »Principles of Topological Psychology« (1936) und »The Conceptual Representation and the Measurement of Psychological Forces« (1938), die zusammengenommen seine »Vektorpsychologie« darstellen sollen, wird man die geforderten Gesetze jedoch vergeblich suchen. Die beiden Monografien enthalten eher das Instrumentarium, um psychologische Tatbestände und Dynamiken beschreiben zu können.

Meine Rekonstruktion von Lewins psychologischen Hauptsätzen umfasst derer zwei, nämlich erstens Gegenwärtigkeit und zweitens Gerichtetheit des Verhaltens. Ich will nicht behaupten, dass alles, was Lewin jemals an Gesetzmäßigkeit psychologischer Dynamik formuliert hat, unter die beiden Hauptsätze der »Gegenwärtigkeit« und der »Gerichtetheit« des Verhaltens sich fassen lässt, jedoch meiner Überzeugung nach ein großer Teil. Möglicherweise müssen die beiden Hauptsätze noch ergänzt werden, die Zahl zwei soll hier noch nicht als kanonisch missverstanden werden.

Die Gleichung V=f(P,U) stellt stets die Grundformel für Lewin dar: Verhalten gleich Funktion von Person und Umwelt. Das hört sich unspektakulär an, ist es aber nicht. Die Person könne, so die Aussage von Lewin, nicht auf die Umwelt, die Umwelt nicht auf die Person reduziert werden. Beide haben Anteil am Verhalten. Sowohl Milieutheoretiker als auch (undialektisch denkende) Marxisten bemängeln an der Aussage, dass die Person doch ihrerseits als ein Produkt von der Umwelt aufgefasst werden müsse. Umgekehrt versuchen Psychologen immer wieder, die Umwelt aus der Person hervorgehen zu lassen. Die Umwelt sei rein subjektiv nur das, was die Person wahr=wahnnehme, sich als Wahrheit zurechtlege, konstruiere. »Jeder habe seine eigene Wahrheit.« In den letzten Jahrzehnten setzte sich speziell eine Form von »konstruktivistischem Kollektivismus« philosophisch durch und erhielt politische Bedeutung: Die Umwelt werde ausschließlich oder fast ausschließlich durch die gesellschaftliche Konstruktion bestimmt; eine Ausprägung ist etwa die Behauptung, es gäbe keine biologischen Geschlechter, sondern bloß sozial konstruierte Gender.

Von Lewin her wäre den Einwänden folgendermaßen zu begegnen: Unter dem Gesichtspunkt des gegenwärtigen Verhaltens ist es unerheblich, aus welcher historischen Quelle die Tendenz von einer Person stammt, sich in die eine oder andere Richtung zu bewegen. In gleicher Weise unerheblich ist es bezogen auf die Umwelt, dass wir in der Vergangenheit etwa ein Haus geplant und gebaut haben. Gegenwärtig steht es uns als ein objektiver Gegenstand so und nicht anders zur Verfügung.

Eine Linie der Kritik an Lewin lautet, diese wie auch seine anderen Formeln seien »pseudo-mathematisch«. Allerdings geht jene Kritik gar nicht auf die mathematischen Aspekte ein, sondern unterstellt eine lineare Analogiebildung der Lewinschen Begriffe zur Physik. Im Abschnitt zu Lewins Wissenschaftslehre werde ich noch darauf zurück kommen, dass mir dies – bestenfalls – ein Missverständnis zu sein scheint, wenngleich Lewin selber an ihm nicht ganz unschuldig sein mag. Wie man die Grundformel von Lewin anwenden kann, zeige ich in Grafik 1. Als Beispiel habe ich die Beziehung zwischen der Stärke eines Bedürfnisses, das eine Person als Spannung empfindet, und dem Grad an Sicherheit gewählt, den die Umwelt bietet, während das Bedürfnis befriedigt wird. Die Sicherheit kann etwa durch Zweifel an der Unverdorbenheit einer Speise, die man essen will, beeinträchtigt sein oder durch Angst vor Sanktionen, wenn das, was man beabsichtigt, verboten ist. Beide Skalen sollen von 0 (keine Bedürfnisspannung bzw. keine Sicherheit) bis 10 (eine hohe Bedürfnisspannung bzw. die volle Sicherheit) reichen.

Das Verhalten sei Funktion der beiden Werte Bedürfnis (B) und Sicherheit (S). Wenn nun keine Bedürfnisspannung (B=0) vorliegt, wird es, unabhängig davon, wie die Sicherheit (S zw. 0 und 10) sich bemisst, zu keiner Handlung kommen. Ebenso wird eine Handlung unterbleiben, wenn das Bedürfnis zwar hoch gespannt (B=10) ist, die Sicherheitslage dessen Befriedigung aber nicht ohne unakzeptable Folgen (S=0) gestattet. Die Extremsituationen des Nicht-Handelns sind allerdings deutlich zu unterschieden: Die erste (B=0, S=0) ist entspannt, die zweite (B=0, S=10) entspannend, die dritte (B=10, S=0) konflikthaft. Diese führt zur Bockigkeit, zur Rebellion oder zum Ausweichen auf Ersatzhandlungen wie beispielsweise Halluzinationen. Nehmen Bedürfnisspannung und gewährte Sicherheit zu, so auch die Handlungswahrscheinlichkeit. Die Kurven in der Grafik sind idealtypisch angenommen.

Nun steht allerdings die Information zur Sicherheitslage in ihrer objektiven Umweltbedingung der handelnden Person nicht zur Verfügung, vielmehr gibt es nur die Annahme der Person über die Sicherheitslage. Die Menschen haben zwar vielfältige alltägliche, wissenschaftliche und technologische Mittel erfunden, sich Gewissheit zu verschaffen. Dennoch stellt die objektive Umweltbedingung letztlich sich erst ex post durch gewisse Konsequenzen heraus. Ein Leben, d.h. Bedürfnisbefriedigung ohne jedes Risiko gibt es nicht. Eine allzu unrealistische Einschätzung der Umweltbedingung rächt sich aber rasch. Ob eine Übereinstimmung von 100% in subjektiver Einschätzung (SP) und objektiver Bedingung (SU) je erreicht werden kann [Grad an Realität GR=(SPx100)÷SU], ist unerheblich; sie ist jedenfalls denkmöglich und auch darstellbar. Das Gegenteil, d.h. absolute Irrealität (GR=0%) der Einschätzung führt aber früher oder später zu erheblichen Problemen für die Person.

Ebenso wie in der Umweltbedingung für das Handeln, hier auf den Parameter »Sicherheit« eingeschränkt, die Person mitgedacht werden muss, so auch bei dem Parameter des »Bedürfnisses« die Umwelt. Eine konkrete Person P hat ihre Bedürfnisse (BP+BU), falls wir sie nicht vollständig abstrahiert auf beispielsweise Nahrungsaufnahme und -ausscheidung reduzieren, immer in einem kulturellen und ökonomischen Kontext (BU). Die Konstellation, in der es nicht den geringsten Umwelteinfluss auf die Bedürfnisse (BU=0) gibt, ist ebenso unwahrscheinlich wie die, in der die Person gar keine ureigenen Bedürfnisse (BP=0) hat. – Der Grad an Autonomie (GA) sei der Ausdruck für den relativen Einfluss der Umwelt: GA=(BPx100)÷B. B=BP+BU. Der Wert für BU ist wie SU nicht durch Selbstauskünfte der Person P, vielmehr nur durch Fremdbeobachtung zu ermitteln.

Um in der Grundformel V=f P,U) entweder die Person auf den Umwelteinfluss zu reduzieren, müssten GR=100% sowie GA=0%, oder jeden Umwelteinfluss auf die Person auszuschließen, GR=0% sowie GA=100% gegeben sein. Beides wären, so gesehen, ja eher unrealistische Annahmen, obwohl Psychologie und Soziologie weiterhin mit ihnen operieren, als habe Lewin nie etwas geschrieben.

Die (Inter-)Dependenz von P und U lässt sich mathematisch korrekt dann folgendermaßen für das Beispiel formulieren:

  • Bedürfnis B=b(P,U)
  • Sicherheit S=s(P,U)
  • Verhalten V=v(B,S)=v(b(P,U),s(P,U))=f(P,U)

Quelle:

  • Stefan Blankertz (2017). Kurt Lewins Kritik der Ganzheit. Books on Demand.

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