“Pseudo-Emotionen: Wie Mobbing beginnen kann” von Franz Will

Verwirrte Gefühle sind der optimale Nährboden für Mobbing. Sie verführen zu nutzlosen Rivalitäten und Kämpfen. Irgendwann weiß man nicht mehr, wie und warum alles angefangen hat. Man verbraucht seine Kräfte und fühlt sich als Opfer. Wenn man glaubt, sich sofort wehren zu müssen, kann man auch zum Täter werden. Aber wie durchschaut man das verrückte Spiel?

Der folgende Artikel ist dem Buch “Teamkonflikte erkennen und lösen – Zwischen Emotionen und Sachzwängen” (S. 171 f.) entnommen.

Vorsicht vor Pseudo-Emotionen: Hase-und-Igel-Wettlauf im Kritikgespräch

In dem Volksmärchen vom Hase-und-Igel-Wettlauf ist eigentlich der Hase der bessere Läufer. Der Igel aber setzt auf eine ausgefuchste Strategie und gewinnt. Hase und Igel vereinbaren gemeinsam eine lange Ackerfurche hinunterzulaufen, um den besseren Läufer zu ermitteln. Beim Start läuft der Hase sofort weg, der Igel jedoch täuscht den Lauf nur vor. Am unteren Ende der Ackerfurche hat der Igel seine Frau postiert, die der Hase mit dem Igelmann verwechselt, und die den Hasen mit den Worten »Ich bin schon da« empfängt. Der Hase denkt, er habe den Wettlauf gegen den Igelmann verloren. Wutentbrannt dreht er sofort um und nimmt den vermeintlichen Wettkampf erneut auf. Doch als er an der oberen Ackerfurche ankommt empfängt ihn der Igelmann ebenfalls mit den Worten »Ich bin schon da«. Der Hase läuft so lange die Ackerfurche von oben nach unten, bis er tot zusammenbricht.

Igelmann und Igelfrau jedoch sitzen vergnügt jeweils am Ende der Ackerfurche und freuen sich über ihr gelungenes Spiel. Sie haben ohne zu laufen gewonnen, indem sie das Ziel doppelt besetzten. Soweit das Volksmärchen.

Man kann den Arbeitsplatz mit einer langen Ackerfurche vergleichen: Oben sind die Sachfragen, unten die Emotionen. Wer nicht beide Pole zugleich im Auge behält, verliert, falls er es mit einem schlauen Igel-Partner zu tun hat. Igel-Kollegen neigen nämlich dazu, die Ebenen zu wechseln: von den Sachen zu den Emotionen oder von den Emotionen zu den Sachen.

Sie sind die Spieler, die das Gesamtsystem Arbeitsstelle immer im Blickfeld haben und seine Tastatur zu bedienen wissen. Deshalb machen sie selbst dann Karriere, wenn ihre Leistungen nur mittelmäßig sind. Souverän ziehen sie an den sportlicheren Hasen-Kollegen vorbei, die nur auf Leistung fixiert sind: möglichst schnell laufen, ohne zu denken.

Von der Sachfrage zur Pseudo-Emotion abgelenkt

Beispiel: Geschickter Themenwechsel

Der Geselle hat einen Vorgang wieder fehlerhaft bearbeitet. Der Meister macht ihn bestimmt, aber sachlich darauf aufmerksam. Hier geht es für den Meister um die Sache, denn die Arbeit muss perfekt erledigt werden. Der Geselle ist jetzt in der Klemme. Das Kritikgespräch ist ihm unangenehm, aber er findet (unbewusst?) eine Lösung: Er verdreht die Sachkritik in ein Beziehungsproblem. Das gelingt ihm, indem er die Sachfrage glatt ignoriert und das angebliche Verhalten vom Meister mit »Schreien Sie mich nicht so an!« kritisiert.

Dabei hat der Meister gar nicht geschrien, sondern nur klar und deutlich das Fehlverhalten angesprochen. War vorher der Geselle wegen fehlerhafter Arbeit der Beschuldigte, so sitzt jetzt der Meister auf der Anklagebank, da er sich emotional im Ton vergriffen hätte. Eine perfekte Igel-Strategie. Wahrscheinlich verteidigt sich jetzt der Meister unglücklich mit: »Ich habe Sie nicht angeschrien!« und verliert so die Sache immer mehr aus den Augen, da er damit beschäftigt ist, das eigene Verhalten zu rechtfertigen. Er sieht nur noch die eine Seite der Ackerfurche: den ungerechten Vorwurf, den Kollegen gekränkt zu haben, gegen den er sich verteidigt. Der Igel-Kollege entrüstet sich jetzt so lange über den angeblich miesen Umgangsstil, bis seine sachlichen Fehler verdrängt sind. Er »dreht emotional hoch« und beklagt wehleidig das ihm angeblich zugefügte Unrecht. Eine perfekte Ablenkung.

So erreichen Sie den Igel trotz Stacheln

Bekanntlich rollen sich Igel, wenn sie sich bedroht fühlen, zu einer Kugel zusammen. Sie spreizen dann die Stacheln von sich ab und machen sich unangreifbar. Der Igel-Kollege jammert dann über seine verletzten Gefühle und zeigt seine »stachlige Seite«. Mit minimaler Einfühlung holen Sie den Igel-Kollegen wieder aus seiner Verteidigungshaltung heraus. Zum Beispiel, indem Sie sagen: »Fühlen Sie sich persönlich bedroht, weil ich einen Fehler kritisiert habe? … Das wollte ich nicht, ich lege aber Wert darauf, dass die Arbeit in Zukunft …« oder »Ich verstehe und akzeptiere, dass Ihnen das Gespräch unangenehm ist. Das ginge mir auch so. Aber trotzdem müssen Sie in Zukunft …«

Der Konflikt hat zwei Seiten. Einerseits ist der Geselle mit seinen Pseudo-Emotionen ziemlich dreist. Andererseits greift er nur deshalb zu diesem Hilfsmittel, weil er sich vom Meister bedroht sieht (selbst wenn dieser das gar nicht beabsichtigt hatte). Beim Kritikgespräch sollte man daher immer beide Seiten der Ackerfurche im Blick haben: die Sachfragen und die Emotionen. Sonst erleidet man vielleicht doch noch mal das Schicksal des Hasen …

Dr. Franz Will ist Fachbuchautor und seit 1985 Dipl. Supervisor für soziale Berufe (DGSv) und Kommunikationstrainer in München.

Kontakt: supervision@franz-will.de www.franz-will.de

Quelle:

  • Franz Will (2012). Teamkonflikte erkennen und lösen – Zwischen Emotionen und Sachzwängen. BELTZ-Verlag.

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