Günter G. Bamberger – Das verlorene Selbst

Günter G. Bamberger

Günter G. Bamberger

Lieber Rainer Müller,

wieder einmal bewundere ich Ihr Engagement. „WOW!!!“ würde jetzt Insoo Kim Berg sagen, die zusammen mit Steve de Shazer die Lösungsorientierte Beratung/Therapie begründet hat. Einem solchen bewundernden WOW! kann ich mich nur anschließen.

Ich erlebe mich von Ihnen eingeladen, mir zu überlegen, wie ich wohl „lösungsorientiert“ reagieren würde, wenn ich mit einem Klienten bei einem „CoachWalk“ (www.coachwalk.de) im Naturschutzgebiet Schönbuch unterwegs wäre und dieser auf meine übliche Starter-Frage, was für heute unser Thema sein solle, antworten würde:

„Warum soll es mir gut gehen dürfen? Ich bin ja schließlich nicht wichtig!“

Tja, im ersten Moment wäre ich irritiert angesichts dieser Frage, die der Fragesteller gleichzeitig auch noch selbst beantwortet. Was erwartet mein Gesprächspartner dann von mir? Empathie? Widerspruch? Oder eine Diagnose, die ihn vielleicht herausführen könnte aus seiner „Isolierung“ und hinein in die Zugehörigkeit zu einer (Diagnose-) Gruppe, die eben viele Betroffene umfasst? Zum Beispiel die Diagnose eines „depressiven impliziten Selbsts“, verbunden mit der Zusicherung, dass so etwas gut behandelt werden könne?

Während ich dies hier schreibe, wünschte ich mir, dass ich – sozusagen respektvoll – meine Irritation zum Anlass nehmen würde, um innezuhalten. Einlassung als aktive Zuwendung zu einem Anderen braucht Zeit, braucht das Los-Lassen, auch das Lassen von eigenen unbedacht-routinierten Reaktionen. Und braucht vor allem Zeit, um der aufkommenden Ahnung nachzugehen, dass ich hier womöglich zuerst für mich etwas klären muss, zum Beispiel was die unausgesprochenen Prämissen und Werthaltungen betrifft, mit denen ich als psychologischer Berater unterwegs bin, und was meine doch so eingeschliffenen Routinen auf Stichworte wie „Resignation“ oder „Depression“ oder … angeht.

Aber gleichzeitig befürchte ich, dass meine Fähigkeit zum achtsamen Innehalten doch sehr begrenzt ist. Gerade in Situationen, die meine vermeintliche beraterische Selbstsicherheit gefährden. Dann hält die in vielen Jahren erworbene „Berufserfahrung“ dagegen. Und verstehen sich Psychologen letztlich nicht gerne als Experten, die mehr oder weniger zu wissen vorgeben, wie Leben geht, richtiges Leben? Ich denke, dass der aktuelle Boom der „Positiven Psychologie“ für einen Zeitgeist steht, dem wir Psychologen uns selbst gerne verschreiben.

Aber da kommt nun jemand, der geradezu das Gegenteil zu den Konzepten der Positiven Psychologie für sich offenbart. Will er tatsächlich, wenn auch insgeheim, zum Gegenteil bekehrt werden, wie es mir mein erster Impuls signalisiert? Die entsprechenden beraterischen Appelle liegen auf der Hand: „Trau’ dich zu leben!“ oder „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ oder wie sonst auch die eingängigen Slogans lauten mögen. Ich will diese Slogans hier nicht mit einem Fragezeichen oder gar negativem Etikett versehen – aber den „Schnellschuss“ damit. Solch ein unmittelbares Umdeuten übermittelt ja als unterschwellige Botschaft dem Gesprächspartner, dass er sich einem „Denkfehler“ hingegeben habe, den es nun zu korrigieren gelte.

Ambiguitätstoleranz

Manfred Evertz

Was dann??? Lieber Rainer Müller, Ihr erfolgreicher Anstoß zu meiner Verunsicherung hat mich zur Lektüre eines kleinen Büchleins des Philosophen Wilhelm Schmid gebracht. Er ist es, der als „Philosoph der Lebenskunst“ sich dafür engagiert, den gegenwärtig in unserer Gesellschaft so bejubelten Lebensentwurf des Erfolgs (mit Merkmalen wie Überlegenheit, Wohlbefinden, Glück usw.) zu überwinden und statt dessen eine bewusste Akzeptanz gegenüber der „ganzen Fülle des Lebens“ zu entwickeln. Und zu dieser Fülle gehören sozusagen unvermeidlich eben auch Misserfolg, Leid, Schmerz, Enttäuschung, Melancholie, Einsamkeit usw. In diesem Sinne dann der Titel dieses Büchleins aus dem Jahr 2012: „Unglücklich sein – eine Ermutigung“. Ich will jetzt nicht daraus zitieren, auch wenn ich an mancher Stelle denke, dass so etwas eine wertschätzende Rückmeldung für meinen Gesprächspartner sein könnte. Mich selbst hat zum Beispiel am meisten folgende Aussage berührt: „Erheblich früher als die Glücklichen bemerken die Unglücklichen eine Gefahr, eine Fehlentwicklung, ein Unrecht oder eine Ungerechtigkeit.“ Es ist also eine besondere Kompetenz, über die sie verfügen, und die so wichtig ist für unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben. Auf keinen Fall soll mein Gesprächspartner in die Schublade „Unglücklicher“ gesteckt werden. Vielmehr möchte ich für mich mit dieser Sichtweise mehr „Ambiguitätstoleranz“ bzw. einfach mehr „Toleranz“ gewinnen – und damit eine größere Fähigkeit zum Innehalten einschließlich eines bedachteren Reagierens bei meinen beraterischen Gesprächen.

Nach so viel „psychologisierendem Rumeiern“ nun aber ganz konkret: Was wünschte ich mir, was ich dem Gesprächspartner konkret anbieten würde auf seinen Themenvorschlag hin?

Es ist die Bitte an ihn, dass er mir die Zeit geben möge, seine Frage mir durch den Kopf gehen zu lassen (bzw. in meinem Herzen zu bewegen), während wir uns auf den Weg machen durch diesen herrlichen Schönbuch – um nach dieser Stunde, vielleicht werden es auch zwei, nochmals gemeinsam hinzuschauen, bei mir und auch bei meinem Gesprächspartner, inwieweit diese Erfahrung von Bewegung, von Bewegung in der freien Natur, von der gemeinsamen Bewegung und der dabei gespürten Verbundenheit irgendwie Einfluss genommen hat auf die Ausgangsfrage „Warum soll es mir gut gehen dürfen?“ Oder geht es dann meinem Gesprächspartner und auch mir ganz unmittelbar gut? Und wie konnte so etwas geschehen? Wie könnte es wieder geschehen? Wäre das wünschenswert?

Wir hätten dann am Ende unseres CoachWalks womöglich viele neue Fragen – und denen könnten wir uns dann beim nächsten CoachWalk zuwenden, sofern mein Gesprächspartner das möchte.

Ich bin überzeugt, dass dieses „impliziten Selbst“, wie immer es auch beschrieben bzw. „begnostiziert“ sein mag, nur schwer erreichbar ist über einen sprachlichen Dialog. Es gibt auch kein rationales Überschreiben oder Löschen von entsprechenden Erfahrungen, die dort im limbischen System gespeichert sein mögen. Entwicklung und Veränderung diese „Selbst“ lassen sich nur über neue, alternative Erfahrungen initiieren.

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Günter G. Bamberger ist Diplom-Psychologe, Coach und Autor des Buches „Lösungsorientierte Beratung“, das m. E. zu den besten seiner Art zählt. Weitere Informationen über ihn und seine Arbeit finden Sie auf der Webseite www.coachwalk.de.