„Kognitive Wende und Neuhumanismus“ von Prof. Dr. Wolfgang Schönpflug

Schönpflug - Geschichte und Systematik der PsychologieDas Buch „Geschichte und Systematik der Psychologie“ ist während meiner Studienzeit entstanden und liegt inzwischen in der 3. Auflage vor. Hierin erläutert Prof. Dr. Wolfgang Schönpflug mit viel Liebe zum Detail, wie sich die Teilgebiete und theoretischen Richtungen der modernen Psychologie sowie deren Methoden historisch entwickelt haben. Dabei geht der Autor bis in die griechische Antike zurück und zeigt auf, welchen Einfluss die jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen auf das Denken über die Natur des Menschen hatten. Das Sachwörter- und Autorenverzeichnis machen es übrigens zu einem wunderbaren Nachschlagewerk, in das ich seit meinem Studium immer wieder gern hineinschaue. Mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Beltz möchte ich Ihnen anlässlich seines 80. Geburtstags, den Prof. Schönpflug am 31.03. feiern durfte, einen kleinen Ausschnitt daraus vorstellen und auf diese Weise vielleicht Ihren Appetit auf das ganze Buch wecken…

Kognitive Wende und Neuhumanismus

Wie ein Sieg wurde in den USA und bald darauf auch in Westeuropa eine „kognitive Wende“ ausgerufen. Dies ging einher mit dem Erstarken kognitionspsychologischer Forschung und kognitiver Theorien. Insbesondere gegenüber dem Behaviorismus konnte sich der Kognitivismus immer besser behaupten; nach häufiger Defensive gewann er zunehmend die Oberhand. Was freilich mit den dramatischen Ausdrücken „Sieg“ und „Wende“ belegt wird, war weitgehend eine Krise innerhalb des Behaviorismus selbst. Jüngere Forscher, von denen man die Fortführung der behavioristischen Tradition erwartete, bedienten sich kognitivistischer Konzepte, um Begrenztheiten der behavioristischen Theorie und Methode zu überwinden.

Den Übergang bzw. die Rückkehr vom behavioristischen zum kognitivistischen Ansatz erkennt man recht deutlich in Neissers Cognitive Psychology aus dem Jahr 1967 – ein Buch, das häufig als Markstein der kognitiven Wende angeführt wird. Der Autor erkennt das behavioristische Reiz-Reaktionsschema als Ausgangspunkt für psychologische Fragestellungen durchaus an. Er bemängelt aber die Enthaltsamkeit behavioristischer Autoren bezüglich der inneren Prozesse, die zwischen dem Eintreffen eines Reizes und der folgenden Reaktion liegen. Bevor ein Reiz im Verhalten seine Wirkung zeige, durchlaufe er mehrere Wandlungen und diese seien wiederum die Folge innerer Bearbeitungsprozesse. Diese inneren Prozesse nannte der Autor kognitiv. Unbeschadet aller methodischen Unsicherheiten und Vorbehalte, forderte er die Analyse dieser Vorgänge. Was er an Untersuchungsbeispielen vortrug, stammte aus dem Repertoire der experimentellen Bewusstseins- und Assoziationspsychologie […]. Er erweiterte es mit Hilfe moderner Methoden (z.B. der Tachistoskopie, d.h. der schnellen Reizdarbietung) und mit neuen theoretischen Ansätzen (z.B. der Informationstheorie). Zwischen Sinnesreizung und Reaktion schoben sich in Neissers kognitiver Psychologie Speicher-, Aufmerksamkeits- und Vorstellungsprozesse, ereigneten sich Merkmalsanalysen (engl. feature analysis) und bildeten sich Zusammenhänge (engl. synthesis).

Widerspruch regte sich ebenfalls gegen den von behavioristischer Seite befürworteten Sozialdarwinismus und die darauf aufbauenden Techniken der Verhaltenskontrolle […]. Eine Gruppe gesellschaftspolitisch engagierter Psychologinnen und Psychologen – unter ihnen Charlotte Bühler, Kurt Goldstein, Abraham Maslow, Carl Rogers, Henry Murray und David Riesman – bekräftigten im Sinne der idealistischen Ethik die Verpflichtung auf bürgerliche Werte. Sie forderten vor allem die Beachtung von Menschenwürde und Freiheit und wählten für ihre Richtung einen Namen, der an die Befreiung des Menschen in der Renaissance […] erinnert: Humanistische Psychologie. Die Humanistische Psychologie trat in der Wissenschaft für Forschungen und Theorien ein, welche den Menschen in seiner Selbstbestimmung zeigen. Praxis sollte die Menschen in ihrem Streben nach Selbstverwirklichung unterstützen. Dabei verstanden die Humanistischen Psychologen Wissenschaft und Praxis als Teil der Politik und wandten sich in Erklärungen insbesondere gegen Verletzungen von Menschenrechten und gegen Folter (Bühler & Allen, 1962/1974).

Bereits dreißig Jahre vor der „kognitiven Wende“ und der „humanistischen Revolution“ in den westlichen Demokratien hat sich in der Sowjetunion die Rückkehr zur Bewusstseinspsychologie und zu einem humanistischen Menschenbild vollzogen. Während freilich in den westlichen Demokratien Auseinandersetzungen über einzuschlagende theoretische Richtung Angelegenheiten der wissenschaftlichen Gemeinschaft blieben, haben in der Sowjetunion Staat und Partei die wissenschaftlichen Kontroversen an sich gezogen und durch einige Beschlüsse entschieden. Dass nach der russischen Oktoberrevolution im Jahre 1917 der Materialismus zur Staatsdoktrin werden sollte, war unumstritten. Doch welches war die richtige Auslegung des Materialismus? Miteinander stritten eine mechanistische und eine dialektische Richtung. Der mechanistischen Richtung entsprach die Reflexologie, die zunächst hohe Förderung genoss. Um Techniken der Verhaltenskontrolle ergänzt, wie sie aus dem Behaviorismus bekannt wurden […], entwickelte sich die praxisorientierte Disziplin der Reaktologie. Reflexologie und Reaktologie versprachen, durch Umgestaltung der Lebensbedingungen nach Naturgesetzen den neuen Menschen zu schaffen. Dagegen berief sich die dialektische Richtung auf die von Marx und Engels beschriebene Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt: Die Wirklichkeit bestimme den Menschen, aber ebenso schaffe der Mensch sich seine Umwelt. Seinen schöpferischen Anteil könne der Mensch aber nur leisten vermöge seiner eigenen zielgerichteten Kraft und seines die Zukunft planenden Bewusstseins.

Im Jahre 1929 sprach sich die Zweite allgemeine Konferenz der marxistisch-leninistischen wissenschaftlichen Institutionen der Sowjetunion in einer Resolution für die dialektische Richtung aus. Daraufhin erließ das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ein Dekret zur Einführung des dialektischen Standpunkts. Damit galt als Staatsdoktrin: Das Bewusstsein ist eine höhere Form der Materie; es unterliegt anderen Gesetzen als sein stoffliches Substrat, das Sinnes- und Nervensystem. Außerdem: Der Mensch folgt dem teleologischen Prinzip, d.h. dem ihm innewohnenden Streben und nicht ausschließlich äußeren Einflüssen. Mit dem erwähnten Dekret trennte sich die Psychologie in der Sowjetunion von reflexologischen sowie von reaktologischen Ansätzen und verpflichtete sich kognitivistischen und humanistischen Prinzipien unter den Bedingungen des Realsozialismus (Bauer, 1952/1955).“

Quelle:

  • Wolfgang Schönpflug (2000). Geschichte und Systematik der Psychologie (S. 368/9). BELTZ Psychologie Verlags Union, Weinheim. Die 3. Auflage finden Sie hier.

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