Rezension: „Arbeits- und Organisationspsychologie“ von F. W. Nerdinger, G. Blickle & N. Schaper

Ein didaktisch gelungener Einblick in die Arbeits- und Organisationspsychologie!Arbeits- und Organisationspsychologie

Es ist viel geforscht worden seit 1998, dem Jahr, in dem ich mir meine Prüfungsliteratur für das Fach Arbeits- und Organisationspsychologie besorgt habe. Das vorliegende Buch bot mir die Gelegenheit, mich auf den neuesten Stand zu bringen.

Wie aber schreibt man eine Rezension über ein Lehrbuch, das über 600 Seiten umfasst? Da ich mich nicht für jedes der in dem Buch besprochenen Themen gleichermaßen interessiere, habe ich auch nicht alles gelesen. Die Kapitel I („Grundlagen“), III („Personal“ – mit Ausnahme des Abschnitts „Personalentwicklung“) und V („Die Schnittstelle Organisation – Markt: Dienstleistungen“) habe ich nur durchgeblättert. In dem Kapitel II („Organisation“) interessierten mich vor allem die Abschnitte „Interaktion und Kommunikation“, „Führung von Mitarbeitern“, „Konflikte in Organisationen“ sowie „Organisationsklima und Organisationskultur“ und aus Kapitel IV („Arbeit“) die „Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit“ sowie die „Formen des Arbeitsverhaltens“. Aufgrund dieser Selektion kann ich zu vielen Inhalten keine Stellung beziehen. Grundsätzlich lässt das Gelesene aber den Schluss zu, dass sowohl Tiefe wie auch Breite der Ausführungen angemessen für ein solches Lehrbuch sind und die Inhalte einen fantastischen Überblick über den aktuellen Forschungsstand geben. Die optische Darbietung ist sehr gelungen. Die vielen Abbildungen, Schaubilder, Tabellen, Zusammenfassungen und Übersichten machen es einem leicht, sich schnell und umfassend zu informieren und dabei sogar noch Vieles auf Anhieb im Gedächtnis zu behalten. Besser hätte man es m. E. nicht gestalten können. Natürlich werden viele Modelle und Studien nur skizziert. Wer sein Wissen aber vertiefen möchte, findet in jedem Abschnitt zahlreiche Literaturhinweise. Sucht man Informationen zu einem bestimmten Begriff, hilft einem das Stichwortverzeichnis dabei. Sehr nützlich sind auch das zwanzigseitige Glossar, in dem die meisten Fachbegriffe kurz und bündig erläutert werden, sowie die neunseitige Tabelle, in der die englischen Übersetzungen der wichtigsten von ihnen zu finden sind. Dass jede der darin vorgenommenen Übersetzungen notwendig gewesen wäre, möchte ich zwar bezweifeln, dennoch halte ich es für eine sehr schöne Idee. Beides lässt sich übrigens auch auf der Webseite des Verlags nachlesen. Das Lerncenter hingegen hat mich etwas enttäuscht. Hier finden sich lediglich die Gliederungen und kurze Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel sowie die oben erwähnten Glossare. Die Foliensätze, Abbildungen und Tabellen für Dozenten und Dozentinnen, die zum Download angeboten werden, scheinen ausschließlich für jene Leser vorgesehen zu sein, die an einer Universität lehren. Um sie einsehen zu können, ist eine Anmeldung erforderlich.

Wer sind die Herausgeber? Dr. Friedemann Nerdinger ist Professor für Wirtschafts- und Organisationspsychologie an der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Mitarbeiterbeteiligung und Unternehmenskultur, die Psychologie der Dienstleistung und des persönlichen Verkaufs, Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit sowie produktives, extraproduktives und kontraproduktives Arbeitsverhalten. Universitätsprofessor Dr. Gerhard Blickle ist Leiter der Abteilung für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Universität Bonn und befasst sich u. a. mit dem Mentoring, den politischen Fertigkeiten in Organisationen, Arbeit und Persönlichkeit sowie mit Ethik in Organisationen. Niclas Schaper beschäftigt sich als Universitätsprofessor für Arbeits- und Organisationspsychologie (Universität Paderborn) mit Fragen des Kompetenzerwerbs, der Kompetenzmessung und des Kompetenzmanagements beim arbeits- und berufsbezogenen Lernen sowie mit Einflussfaktoren des Weiterbildungsverhaltens, Methoden der Arbeits- und Aufgabenanalysen, Instrumenten der Organisationsdiagnose, Personalentwicklung durch eLearning sowie mit strategischen Konzepten der Personal- und Organisationsentwicklung.

Zu den Inhalten: Sehr erfreulich fand ich es, dass alle Autoren beim Verfassen ihrer Texte wohl darauf geachtet haben, dass sie gut zu verstehen sind. So hatte ich keine Schwierigkeiten, mir die Inhalte zu erarbeiten, die neu für mich waren. Nun macht es natürlich wenig Sinn, ein solch umfassendes Werk zusammenzufassen. Deshalb möchte ich im Folgenden nur ein paar (persönliche) Highlights aus den Kapiteln „Führung von Mitarbeitern“, „Interaktion und Kommunikation“ sowie „Konflikte in Organisationen“ erwähnen, um auf diese Weise Ihr Interesse zu wecken…

1. Dargestellt wird zum Beispiel die Stone Center Relational Theory von Fletcher und Käufer (2003), die sich auf die Arbeiten von Erich Fromm stützt. In ihr wird der „Prozess der Entwicklung als wachsende Verbindung der Menschen zueinander [erachtet]. Das Selbst wird [und muss] als Einheit gesehen [werden], die in Beziehung zu anderen steht („Self-in-Relation“) […], denn sobald Menschen zueinander in Interaktion treten, nehmen sie nicht nur die eigene Realität wahr, sondern auch die Realität anderer. Interdependenz ist demnach ein zentraler Bestandteil der menschlichen Natur.

2. Eine Form der Ausgrenzung: Ostrazismus bezeichnet den Ausschluss von Mitgliedern einer Organisation durch das Unterlassen angemessener sozialer Handlungen, d. h. dass die Interaktion unterbunden wird. Hat jemand den Eindruck, dass ein solches „Scherbengericht“ über ihn abgehalten wird, ist es für ihn schwer, dagegen anzugehen. In einer Metaanalyse zeigen Gerber und Wheeler (2009) auf, dass isolierte Menschen weniger positive und wesentlich mehr negative Stimmungen erleben und sie generell eine stärkere Erregung zeigen. Einzelne Studien belegen zudem eindeutig Konsequenzen wie Angst, Depression und emotionalen Stress. Das macht deutlich, dass es bei der Integration von Mitarbeitern immer auch um das Respektieren ihrer Persönlichkeit geht.

3. Spiele des betrieblichen Alltags: Bereits 1955 beobachtete Roy, wie Arbeiter in der Produktion ihren Arbeitsalltag durch verschiedene Spiele eingeteilt und auf diese Weise ihren Stress verringert haben. Eines dieser Spiele nannte er „Banana Time“. Hierbei wurde einem Mitarbeiter dadurch geneckt, dass ihm eine Banane, die dieser sich gerade schälten wollte, entwendet und erst nach einigem Hin und Her zurückgegeben wurde. Auch Mintzberg ermittelte 1983 in einer Studie über Macht in Organisationen 13 häufig auftretende, teilweise aber wenig „unterhaltsame“ Spiele: Widerstandsspiele (z. B. Manipulation, Unterlaufen oder übertrieben korrektes Ausführen von Entscheidungen) und Spiele gegen Widerstandsspiele, solche zum Aufbau von Macht, wozu sogenannte Sponsor-Progegé-Spiele, Bündnisspiele, Reichsgründungsspiele (d. h. Lagerbildung), Budgetspiele („Wer bekommt mehr?“), Expertisespiele („Ich bin der Experte!“) und Dominanzsspiele zählen, Spiele zur Bekämpfung von Rivalen (Linie-gegen-Stab-Spiel, Rivalisierende-Lager-Spiel) sowie Spiele zur Realisierung organisationalen Wandels, wie das Strategische-Kandidaten-Spiel, das Verpfeifungsspiel (vgl. Whistleblowing) oder das Jungtürkenspiel (Umsturz durch geheime Machtzirkel).

4. Die Wirkung von Gerüchten: Dass es drei Prozesse gibt, die mit der Weitergabe von Gerüchten verbunden sind, ist spätestens seit Allport und Postman (1947) bekannt: Levelling (Verkürzung), Sharpening (selektive Betonung oder Übertreibung) und Assimilation (Verzerrung in Richtung Vorurteil oder Interesse). Dass aber Situationen mit hoher Unsicherheit und Ambivalenz nicht nur Stress und Angst erzeugen, sondern auch die Weitergabe von Gerüchten wahrscheinlicher machen (Kapferer, 1997), Mitarbeiter Gerüchte über Vorgesetzte vor allem dann verbreiten, wenn sie diesen wenig vertrauen oder von ihnen unfreundlich behandelt werden (Ellwardt et al., 2012), oder Gerüchte, die später von der Unternehmensleitung als wahr bestätigt werden, das Vertrauen der Belegschaft untergraben (Blickle, 2004), wurde so wohl erst in den vergangenen Jahren erforscht.

5. Bad News? Das Überbringen schlechter Nachrichten (z. B. negative Leistungsrückmeldungen oder die Ablehnung von Bitten und Anfragen) gehört zu den unbeliebtesten Aufgaben von Managern (vgl. Bies, 2013). Oftmals werden die Empfänger psychologisch auf die Nachricht vorbereitet, wodurch das Gefühl der Vorhersagbarkeit erhöht wird. Auf diese Weise lassen sich Schockzustände wie z. B. bei anstehenden Entlassungen abmildern (Sutton, 2009). Eine überzeugende Erklärung verringert die Verantwortung des Überbringers für den Inhalt und erhöht den Grad der wahrgenommenen Fairness (Shaw, Wild & Colquitt, 2013).

6. Aber auch die Erforschung der sogenannten „dunklen“ Seite der Führung, also die des feindseligen Führungsverhaltens und dessen Auswirkungen, wurde in den vergangenen Jahren etwas ausgeweitet. So stellen Tepper et al. (2011) in der Theorie der moralischen Exklusion z. B. dar, dass die „Wahrnehmung von Beziehungskonflikten durch den Vorgesetzten und seine Einschätzung der Leistung des Mitarbeiters […] die Beziehung zwischen einer tief greifenden Unähnlichkeit und feindseligem Führungsverhalten [vermitteln].“

7. In dem Kapitel „Konflikte in Organisationen“ beschreibt Marc Solga deskriptive, die sich auf Konfliktverhalten und -gegenstände beziehen, erklärende und präskriptive Ansätze. Bei den erklärenden Ansätzen werden u. a. die Stufen der Konflikteskalation von Friedrich Glasl (1999), die soziale Interdependenztheorie von Deutsch (1973) und das Dual-Concern-Modell (Pruitt et al., 1993/94) sowie verschiedene Studien dargestellt. So konnte z. B. in zwei Metaanalysen aufgezeigt werden, dass die Leistungen von Arbeitsgruppen umso geringer sind, je stärker die Mitglieder Beziehungs- oder Aufgabenkonflikte (De Dreu & Weingart, 2003) bzw. Beziehungs- und Prozesskonflikte (de Wit et al., 2012) erleben. Kein Einfluss in diese Richtung ging von sogenannten Beurteilungskonflikten aus, da diese im Einzelfall wohl dazu führen, dass sich die aufgabenrelevante Informationsverarbeitung im Team intensiviert, was zu einem besseren Problemverständnis und zum Finden optimaler Lösungen beitragen kann. Als präskriptive Ansätze werden u. a. die integrative sowie die distributive Verhandlungstechnik (nach Thompson, 2009) erläutert, dessen Darstellung mir sehr gut gefallen hat.

Fazit: Ein großartiges Lehrbuch für Studierende und für jene, deren Studium bereits Jahre zurückliegt. Trotz der teilweise recht schwierigen Themen ist alles leicht verständlich und didaktisch hervorragend aufbereitet!

Friedemann W. Nerdinger, Gerhard Blickle & Niclas Schaper (2014). Arbeits- und Organisationspsychologie (3. Auflage). Springer-Verlag.

Quellenangaben (ausgewählte Inhalte):

  • Allport, G. W. & Postman, L. (1947). The psychology of rumor. New York: Holt, Rinehart and Winston.
  • Bies, R. J. (2013). The delivery of bad news in organizations: A framework for analysis. Journal of Management, 39, 136-162.
  • De Dreu, C. K. & Weingart, L. R. (2003). Task versus relationship conflict, team performance, and team member satisfaction: A meta-analysis. Journal of Applied Psychology, 88, 741-749.
  • Deutsch, M. (1973). The resolution of conflict: Constructive and destructive processes. New Haven: Yale University Press.
  • de Wit, F. R. C., Greer, L. L. & Jehn, K. A. (2012). The paradox of intragroup conflict: A meta-analysis. Journal of Applied Psychology, 97, 360-390.
  • Ellwardt, L., Wittek, R. & Wielers, R. (2012). Talking about the boss: Effects of generalized and interpersonal trust on workplace gossip. Group & Organization Management, 37, 521-549.
  • Fletcher, J. K. & Käufer, K. (2003). Shared leadership. Paradox and posibility. In C. Pearce & J. Conger (Hrsg.). Shared leadership: Reframing the hows and whys of leadership (S. 21-47). Thousand Oaks, CA: Sage.
  • Gerber, J. & Wheeler, L. (2009). On being rejected: A meta-analysis of experimental research on rejection. Perspectives on Psychological Science, 44, 468-488.
  • Glasl, F. (1999). Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater (6. Auflage). Bern: Haupt.
  • Kapferer, J. N. (1997). Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt. Berlin: Aufbau.
  • Mintzberg, H. (1983). Power in and around organizations. Englewood Cliffs: Prentice Hall.
  • Pruitt, D. G. & Carnevale, P. J. (1993). Negotiation in social conflict. Buckingham: Open University Press.
  • Roy, D. (1955). Banana time: Job satisfaction and informal interaction. Human Organization, 18, 158-168.
  • Rubin, J. Z., Pruitt, D. G. & Kim, S. H. (1994). Social conflict: Escalation, stalemate and settlement (2. Auflage). New York: McGrawe-Hill.
  • Shaw, J. C., Wild, E. & Colquitt, J. A. (2003). To justify or excuse? A meta-analytic review of the effects of explanation. Journal of Applied Psychology, 88, 444-458.
    Sutton, R. I. (2009). How to be a good boss in a bad economy. Havard Business Review, 87(6), 42-50.
  • Tepper, B. J., Moss, S. E. & Duffy, M. K. (2011). Predictors of abusive supervision: Supervisor perceptions of deep-level dissimilarity, relationship conflict, and subordinate performance. Academy of Management Journal, 54, 279-294.
  • Thompson, L. L. (2009). The mind and the heart of the negotiator (4. Auflage). Upper Saddle River, N. J.: Pearson.