Notfallpsychologie – Interview mit Prof. Dr. Bernd Gasch

Vom 11. bis zum 13. Oktober 2018 fand in Hamburg die 5. Fachtagung Notfallspsychologie statt. Im Anschluss daran hatte ich die Gelegenheit, ein persönliches Gespräch mit Prof. Dr. Bernd Gasch zu führen.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich mit einem Gebiet zu beschäftigen, das sich mit Notfällen und den entsprechenden Aspekten und Aufgaben befasst, die für die Psychologie von Interesse sind?

B. G.: Es ist schon etliche Jahre her, da fuhr ich auf dem Heimweg nach Nordkirchen im Münsterland mit meinem Auto an einer Unfallstelle vorbei und sah dort einen verletzten Motorradfahrer liegen. Da der Krankenwagen bereits unterwegs war, konnte ich zwar weiterfahren, stellte mir daraufhin aber die Frage, was ich in einer solchen Situation eigentlich hätte tun können? Woran ich auch dachte, die gängigen Interventionsmöglichkeiten erschienen mir allesamt nicht zweckmäßig zu sein: Ein Tiefenpsychologe hätte vielleicht analysiert, in welchem Zusammenhang dieses Ereignis mit der Beziehung steht, die der Verunglückte zu seinen Eltern hat? Ein Verhaltenstherapeut wäre eventuell auf Idee gekommen, die ein oder andere Entspannungstechnik aus seinem Methodenkoffer hervorzuholen. Auch Viktor Frankls Frage nach dem „Sinn“ hätte hier wohl nicht geholfen. Also sprach ich mit meinem Kollegen Frank Lasogga darüber, der anmerkte, dass es so etwas wie eine Fünf-Minuten-Kurzzeittherapie wohl nicht gäbe. Daraufhin beschlossen wir, ein Buch über die psychologische Erste Hilfe bei Unfällen zu schreiben.

Womit haben Sie sich eigentlich (vorrangig) befasst, bevor Sie diese Idee hatten?

B. G.: Offiziell habe ich eine Professur für Psychologie mit dem Schwerpunkt Pädagogische und Unterrichtsspsychologie. Dafür wurde ich damals an der Pädagogischen Hochschule Ruhr eingestellt, die nach einem halben Jahr meiner dortigen Tätigkeit mit der Universität Dortmund zusammengeführt wurde. Das war ein recht streitvoller Prozess. Eine Folge davon war es, dass ich dort zunächst innerhalb der Lehrerausbildung keine konkreten Zuständigkeiten hatte. Man sagte mir: „Machen Sie halt mal was!“ Die acht Lehrstunden pro Woche, die ich laut meines Vertrags abhalten durfte, habe ich dann nach eigenem Gutdünken gefüllt.

Womit?

B. G.: Ich habe zunächst eine „Einführung in die Psychologie“ für alle angeboten, vor allem für Lehramtsstudenten und Diplom-Pädagogen. Das hat sich dann jahrzehntelang fortgesetzt. Diese Vorlesungen wurden jeweils von ca. 600 Studentinnen und Studenten besucht. Des Weiteren habe ich klassische Themen abgearbeitet, von denen ich vermutete, dass LehrerInnen davon einen Nutzen davon hätten, z. B. Lerntheorien und Intelligenzforschung, Ein bis zwei Themen waren jedoch immer etwas außergewöhnlicher. So habe ich einen Kompaktkurs „Gesprächsführung in Problemsituationen“ konzipiert, den ich auch jetzt noch in der Weiterbildung für Schulleiter anbiete. Weitere Sonderveranstaltungen waren „Kreativitätsförderung“ oder ein Seminar zum Thema „Meine eigenen Schulerfahrungen und die Konsequenzen für den Lehrerberuf“. Interessant für die Studierenden war auch das Seminar „Prüfungsvorbereitung und -technik“, im Verlauf dessen die Studenten/-innen auch mich zu einem Thema ihrer Wahl prüfen und dieses Szenario mit einer Videokamera aufnehmen sollten. Dabei habe ich aufzeigen können, dass es gewisse Strategien gibt, mit denen man sich selbst dann herausreden kann, wenn man mal in die Klemme kommt.

Was ja auch irgendwie „Notfallpsychologie“ ist, wenn auch in einem ganz anderen Sinne…

B. G.: Dann kam ein neuer Strang hinzu: Der ehemalige Rektor und der ehemalige Kanzler hatten die Idee, an der Universität Dortmund auch Diplom-Psychologen auszubilden. Bei der Beantragung gab es jedoch Probleme. Zudem witterte die Universität Bochum Konkurrenz, weshalb wir dann ersatzweise einen „Zusatzstudiengang Organisationspsychologie“ einrichteten. Ich hatte zwar immer wieder mal überlegt, ob ich mich vielleicht irgendwo anders bewerbe und die Universtität wechsle, blieb aber doch in Dortmund; denn in dieser Zeit war ich bereits Dekan und wurde in den 1990er Jahren auch einer der Pro-Rektoren.

Obwohl ich in diesen Positionen weniger lehren musste, ließ ich mir die Freude nicht nehmen, mir für die verbleibenden Stunden etwas Neues einfallen zu lassen. Aufregend fand ich insbesondere ein Seminar zum „Abbau unerwünschter Hemmungen“, da ich bis dato überhaupt keine Vorstellung davon hatte, wovor die Studenten/-innen Hemmungen hatten (beispielsweise sich zu melden oder in ein Mikrophon zu sprechen). Im Rahmen dieses Seminars führten wir dann auch verschiedenartige öffentliche Mutproben durch. In einer davon ging es darum, mit zwei unterschiedlichen Schuhen in der Stadt umherzulaufen. Dabei gab es dann einen herrlichen Vorfall, an den ich mich noch bestens erinnere: Ich stellte mich selbst mit zwei verschiedenen Schuhen vor ein Schuhgeschäft und erklärte den Passanten, welche Vorteile es hat, so herumzulaufen, bis der Geschäftsführer aus dem Laden kam und mich ärgerlich fragte, was ich denn da tue? Als ich es ihm erklärte und ihm anbot, ihm diese Geschäftsidee zu verkaufen, war er empört und rief die Polizei. Als diese daraufhin kann, erklärte ich auch dem Polizisten meinen Vorschlag. Ich sollte dann dem Geschäftsführer meine Adresse nennen, was ich auch ohne Bedenken tat. Der kündigte dann eine Reaktion seiner Zentrale an, auf die ich mich wirklich freute, die aber leider nicht erfolgte. Die zuschauenden Studenten sollten lernen, sich nicht vor Autoritäten zu fürchten, wenn sie sich im Recht fühlten. Jedenfalls amüsierten sie sich köstlich.

Was hat Sie damals dazu motiviert, Psychologie zu studieren?

B. G.: Oberflächliche Antwort: In der Abiturklasse wurden wir eines Tages alle gefragt, was wir studieren wollen? Ich hatte damals den Vorsatz, mir ein Fach auszuwählen, das sonst niemand studierte. Zwar habe ich es trotzdem zunächst mit einem Semester Jura probiert, bin dann allerdings rasch zur Psychologie gewechselt, obwohl meine Eltern etwas ängstlich waren, da die Psychologie damals nicht zu den Studienfächern zählte, mit denen man Geld verdienen könne.

Tiefergehende Antwort: Ich bin 1941 in der Tschechoslowakei geboren und damit „Heimatvertriebener“. 1946 wurden dort alle Deutschen „entfernt“ und landeten zunächst in einem Flüchtlingslager. Damals war ich vier Jahre alt. Daraus entstand wohl irgendwie der Wunsch, Dinge, die Menschen tun, zu ordnen, weil zu jener Zeit alles irgendwie durcheinander ging…

Warum haben Sie aus der Notfallpsychologie ein eigenständiges Fachgebiet innerhalb der Psychologie gemacht? Anders gefragt: Warum wurden diese Erkenntnisse nicht „einfach“ der Sozialpsychologie zugeordnet?

B. G.: Frank Lasogga und ich haben einen Antrag auf Förderung des Projekts Notfallpsychologie bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gestellt. Der wurde abgelehnt. Die Begründung war vermutlich, dass man nicht genau wusste, welchem Gutachter man den Antrag zuschicken sollte: den Arbeitspsychologen, den Verkehrspsychologen, den Therapeuten oder wem sonst? Das Fach lag denen sozusagen zu sehr zwischen den konventionellen Fächern. Anders war es beim Bund Deutscher Psychologen (BDP): Hier hat sich die Notfallpsychologie inzwischen etabliert. Zu der heutigen Tagung, die der BDP organisiert hat, kamen immerhin ca. 80 Teilnehmer aus zahlreichen Ländern.

Die Notfallarten sowie die damit einhergehenden Interventionsmöglichkeiten weisen auf ein breites Forschungsfeld hin. Gibt es darunter Bereiche oder Themen, die Sie besonders interessieren?

B. G.: Ein Thema, das mich besonders interessiert, ist der öffentliche Suizid. Warum? Eigentlich hatte ich Angst, dass ich mal an einem solchen Notfall vorbeikomme und angesprochen werde, ich solle da helfen. Darauf wollte ich vorbereitet sein.

Das zweite Thema ist „Panik“. Grund dafür war ein persönliches Erlebnis. Es gab mal eine notfallmedizinische und notfallorganisatorische Übung im Westfalen-Stadion in Dortmund, zu der ich eingeladen wurde und bei der ein Großunfall simuliert wurde: Ein Feuer sei durch das Verhalten von Hooligans entstanden! Dann kam ein Polizist zur Lautsprecherkabine und machte die m. E. vollkommen unmögliche Durchsage, dass „durch das unvernünftige Verhalten einiger Chaoten“ ein Brand enstanden sei. Als ich ihn daraufhin auf diese für mich unangebrachte Formulierung ansprach, erhielt ich lapidar die Antwort: „Machen Sie’s doch besser“, was ich dann auch mit einer alternativen Durchsage versuchte“. Das war der Startpunkt, mich intensiver mit der Panik zu beschäftigen und entsprechende Kapitel zu schreiben.

Gab es im Laufe der jungen Geschichte der Notfallpsychologie Erkenntnisse, die Sie überrascht haben?

B. G.: Für mich war eine der überraschendsten Erkenntnisse, was ein Helfer zu einem Notfallopfer sagen sollte, bevor der Rettungswagen kommt. Die bislang vorherrschende Meinung war, dass man nach „Rogers und Tausch“ vorgehen solle, also „echte positive Wertschätzung, emotionale Wärme, und einfühlendes Verständnis“ zeigen sollte. „Oh, das ist ja wirklich schlimm. Ich kann das wirklich gut nachfühlen!“ Später haben wir Unfallopfer im Krankenhaus interviewt. Ein Patient sagte, dass er diese Formuierungen nicht positiv empfunden hatte und äußerte: „Der wollte mich ja nur trösten“. Was braucht ein Notfallopfer stattdessen? Ordnung im Chaos und Information! Das erreicht man, indem man sagt, wer man ist, konkret fragt, welche Hilfestellungen der- oder diejenige braucht und ihn informiert, dass und wann bspw. der Rettungswagen kommt. In aller Kürze geht es also darum, die kognitive Seite zu betonen, nicht die emotionale. Wir haben dann dieses Vorgehen in vier Regeln für Laien sowie in ca. zwölf für professionelle Helfer zusammengefasst.

Gibt es einen Menschen, der Sie besonders inspiriert hat? Wer war das und warum?

B. G.: Mein ehemaliger Lehrer, Walter Toman, Der ist zwar nicht sehr bekannt, hat aber alle seine Assistenten enorm beeinflusst. Er war ein hagerer, fast unsicherer wirkender Mensch und entsprach damit nicht dem Klischee eines Idols. Aber er hat sich im besonderen Maße um seine „Zöglinge“ gekümmert und sie umfassend und gut betreut. Jeder von uns musste zum Beispiel unter seiner Supervision einen anderen Menschen therapeutisch begleiten. Er war einerseits psychoanalytischer Therapeut, war aber auch viele Jahre in Amerika gewesen und hat dort behavioristisches Denken adaptiert und mit den analytischen Theorien verbunden. Eine Schlüsselveranstaltung von ihm ging um Gesprächsführung (Exploration). Dort hat er ein „Gespräch“ mit einem ihm fremden Menschen geführt und anschließend eine Zusammenfassung vorgetragen. Dabei habe ich einige Regeln gelernt, die er uns implizit vermittelt hat, zum Beispiel wie man einen anderen Menschen akzeptiert, aber auch „öffnet“. Seine Vorgehensweise bestand u. a. darin, keine neuen Themen in ein Gespräch einzuführen, sondern immer nur an dem anzuknüpfen, was der andere sagt.

Haben Sie sich durch die dauerhafte Auseinandersetzung mit der Notfallpsychologie in irgendeiner Weise verändert?

B. G.: Wenig. Und das liegt daran, dass ich nicht aus altruistischen Gründen darauf gekommen bin, mich damit zu beschäftigen, also nicht wegen eines Helfersyndroms. Mein Motiv war der Ärger über die eigene Wissenschaft, dass sie für diese Situationen nichts Wesentliches beizutragen hatte. Es war bei mir also eher ein wissenschaftliches Interesse.

Mit welchen Projekten beschäftigen Sie sich zurzeit? Oder lassen Sie Ihre Arbeit allmählich ausklingen, um Ihren Ruhestand einzuleiten?

B. G.: Letzteres. Die Tendenz geht in Richtung eines ausgedehnteren Ruhestands. Ich habe zunächst freiwillig ein Jahr länger gearbeitet, als ich es gemusst hätte. Was tue ich ab jetzt? Nun: Der Vorschlag meiner Frau, mehr im Garten zu helfen, missglückte total. Aktuell bilde ich noch leitende Notärzte dahingehend aus, wie sie sich in komplexen Situationen unter Stress verhalten sollten, also in dem, womit sich auch Dietrich Dörner lange Zeit beschäftigt hat. Das werde ich wahrscheinlich noch eine ganze Weile tun. Fortführen werde ich auch die Seminare „Schwierige Gesprächsführung“ für Schulleiter.

Gibt es etwas, das Sie der nachfolgenden Generation von Psychologen mit auf dem Weg geben wollen?

B. G.: Ja. Kümmert euch um das Verhalten der Menschen und nicht um Worte! Gebt euch bspw. nicht mit einer Floskel wie „Kooperation“ zufrieden, sondern geht eine Stufe tiefer und schaut, wie sich diese auf der konkreten Verhaltensebene zeigt. Im Grunde genommen bin ich also ein Behaviorist. Aber nicht wie im manipulativen Sinne, wie Watson oder Skinner diesen wohl verstanden haben. Ich meine damit, dass ich mir das Verhalten angucke, das mir die Menschen anbieten, ohne sie in irgendeine Richtung beeinflussen zu wollen. Mein Leitspruch lautet also: Schaut, was die Leute tun, nehmt es zur Kenntnis und zieht dann Schlüsse! Eine Übungsaufgabe für Studenten war: Geht mal unvoreingenommen für eine Stunde auf einen öffentlichen Kinderspielplatz und schreibt alles auf, was dort geschieht. Dadurch bekommt ihr Einblicke, die wirklich interessant sind!

Gerade fand in Hamburg die 5. Fachtagung Notfallpsychologie statt. Gibt es in diesem Zusammenhang etwas Interessantes zu berichten?

B. G.: Auf der Tagung wurde deutlich, dass sich die Notfallpsychologie in eine neue Richtung entwickelt. So entdecken die jungen Notfallpsychologen insbesondere größere Unternehmen und Organisationen als Kundenkreis. Dabei geht es zum Beispiel um die Prävention von Suiziden unter den Mitarbeitern etc. Wahrscheinlich sind derartige Zielgruppen auch deshalb so interessant, weil sich damit Geld verdienen lässt. Es wurden inzwischen Beratungsunternehmen gegründet, die sich mit solchen Problematiken beschäftigen, und entsprechende Lösungen anbieten. Dies wurde jedoch in der Tagung kontrovers diskutiert („Kapitalismus!“). Ein weiterer Trend, der auf der Tagung festzustellen war, erfreut mich allerdings sehr: Die Internationalität nimmt offensichtlich zu!

Betrachten Sie und Prof. Dr. Frank Lasogga sich als die „Urväter der Notfallpsychologie“?

B. G.: Nein, obwohl wir schon manchmal so bezeichnet worden sind. Vielleicht liegt der Grund darin, dass wir das Thema schon sehr früh aufgegriffen haben und mit Beharrlichkeit versucht haben, nahezu alle Aspekte der Thematik einzubeziehen. Dies hat dazu geführt, dass unser letztes Buch „Notfallpsychologie“ offenbar ein „Standardwerk“ geworden ist. Frank und ich hatten aber bestimmt nie die Absicht, „Urväter“ zu werden.

Prof. Dr. (em.) Bernd Gasch, geb. 1941, Dipl-Psych. Promotion an der Universität Erlangen. Tätig in Augsburg, Mannheim. Seit 1979 Professur an der Universität Dortmund, Forschungsaufenthalte in Mailand, Australien, USA. Forschungsgebiete: Pädagogische Psychologie, Organisationspsychologie, Notfallpsychologie.

Literaturhinweis:

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