Der Mythos von der (ewig) stabilen Persönlichkeit

„Als Geschäftsführer im Consulting-Bereich ist es für mich eigentlich nicht vorstellbar, mit Kollegen zu arbeiten, die unter einer psychischen Erkrankung leiden. Unsere Mitarbeiter beraten Unternehmen meist in exponierter Position, meist auch teilweise oder dauerhaft vor Ort. Von daher ist eine stabile Persönlichkeit Grundvoraussetzung für den Job.“

Manfred Evertz

Unternehmen sind daran interessiert, ihre vakanten Positionen so zu besetzen, dass die neuen Mitarbeiter mit den auf sie wartenden Herausforderungen gut zurechtkommen. Dabei ist neben der Qualifikation eines Bewerbers dessen charakterliche Struktur ein wichtiges Auswahlkriterium. Allerdings können auch vermeintlich gefestigte Persönlichkeiten, von denen man es nicht erwarten würde, durch eine Belastungs- oder Krisensituation in ein seelisches Ungleichgewicht geraten und psychisch erkranken. Es gehört zur menschlichen Natur, gelegentlich Leid, Schmerz, Trauer und Ärger etc. zu empfinden und damit umzugehen. Das Berufsleben ist aber mehr denn je durch ständige Veränderungen und Umbrüche gekennzeichnet, die – wenn man darauf nicht vorbereitet ist – als belastend empfunden werden bzw. zu seelischen Qualen und Verhaltensauffälligkeiten führen können. Die weit verbreitete Haltung, dass psychisch erkrankte Mitarbeiter für ein Unternehmen nicht tragbar sind, führt in der Regel lediglich dazu, dass Betroffene sich darum bemühen, diese solange zu verschweigen, bis der Leidensdruck übermächtig wird und zu langen Krankschreibungen führt. Neben den somatoformen Störungen, bei denen der Körper mit Symptomen auf psychische Belastungen reagiert, über die man dann viel leichter sprechen kann, oftmals allerdings ohne sich der seelischen Komponente bewusst zu sein, sind vor allem Angststörungen und Depressionen weit verbreitet. Da beide Erkrankungen nach wie vor mit einem Stigma versehen sind, werden Ängste in der Regel verschwiegen und Depressionen heutzutage lieber als „Burnout“ bezeichnet. Beides birgt die Gefahr, dass die dann notwendigen Schritte (wie z. B. das Aufsuchen eines Therapeuten) viel zu spät eingeleitet werden.

„Es ist besser auszubrennen als zu verblassen.“ Kurt Cobain

Edgar Piel

Ist „Burnout“ also nur ein Modebegriff? In dem Buch „Die erschöpfte Gesellschaft“ fasst Stephan Grunewald die Ergebnisse von tausenden psychologischen Tiefeninterviews zusammen, die das rheingold institut in den vergangenen Jahren durchgeführt hat. Dem zufolge sind eine notorische Unruhe und Rastlosigkeit sowie ein sich immer weiter steigernder Effizienzwahn wesentliche Merkmale unserer Gesellschaft, in der ein Burnout wie eine Tapferkeitsmedaille stolz auf der Brust getragen wird. Schließlich kann ja nur ausbrennen und sich damit „schmücken“, der einmal für etwas „gebrannt“ und sich über seine Kräfte hinaus dafür engagiert hat?! Bereits 1974 wurde der Begriff durch den amerikanischen Psychologen Herbert Freudenberger im Zusammenhang mit einem Überengagement von Helfern in der psychosozialen Versorgung öffentlich bekannt. Als eine gesellschaftliche Ursache benennt er den rapiden gesellschaftlichen Wandel, die Auflösung alter Strukturen und Tabus, den zunehmendem Hedonismus, die fortschreitende Trennung zwischen Arbeit und Beruf sowie den Verlust von sozialen Bindungen, was zu einem Klima der Verunsicherung führt, in dem sich das Phänomen des Ausbrennens entwickeln kann (Freudenberger und Richelson, 1980).

Eine anfänglich typische Müdigkeit mündet häufig in Versuchen diese durch Gleichgültigkeit und Zynismus zu kompensieren. Schlaf- und Konzentrationsstörungen treten vermehrt auf und es werden Anstrengungen unternommen, die dadurch entstehenden Fehl- oder Minderleistungen durch längere Arbeitszeiten auszugleichen. Schon 1994 betrachtete Prof. Dr. Matthias Burisch Autonomieeinbußen in misslingenden Auseinandersetzungen des Individuums mit seiner Umwelt bzw. die durch die innere Repräsentation solcher „gestörter“ Interaktionen sowie das Scheitern bei ihrer Bewältigung als eine der wesentlichen Ursachen für einen Burnout. Die Betroffenen wirken dann auffällig ungeduldig und reizbar, sie entwickeln psychosomatische Beschwerden und nicht selten eine schwere Depression.

Obwohl „Burnout“ laut dem ICD-10 (noch) keine anerkannte psychische Erkrankung ist, wird im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements viel dafür getan, die Mitarbeiter davor zu schützen. Im Internet kursieren zahlreiche Checklisten und Tests, anhand derer man die eigene Betroffenheit einschätzen kann, die aber (auch aufgrund der Uneinheitlichkeit des Konzeptes) zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Zudem gibt es etliche „Helfer“, die ihre Dienste anbieten, und unzählige Aus- und Weiterbildungen zum Burnout-Berater von teilweise sehr fragwürdiger Qualität. Wichtig zu wissen ist, dass eine kleine Auszeit bzw. ein Urlaub, Achtsamkeits- und Entspannungsübungen sowie ein Herunterdrosseln der Arbeitsbelastung bei einer Erschöpfungsreaktion sicher hilfreich sind, bei einer Depression jedoch für sich genommen nicht die erwünschte Wirkung erzielen. Deshalb ist es wichtig, sich fachkundigen Rat einzuholen, sollten sich entsprechende Symptome zeigen.

„Ein großer Teil der Sorgen besteht aus unbegründeter Furcht.“ Jean Paul Sartre

Der Wunsch, unbedingt erfolgreich sein zu sein wollen, kann zudem dazu führen, dass der Schutzmechanismus der Angst davor, berufsbedingte Erfordernisse nicht erfüllen zu können bzw. den damit verbundenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden, ausgehebelt wird und die Menschen über ihre (Belastungs-)Grenzen hinausgehen. Ist diese Angst aber erst einmal da, unabhängig davon, ob sie „begründet“ ist, verändert sie die Wahrnehmung und das Verhalten der Betroffenen. Wird ihnen keine Gelegenheit gegeben, über ihre Sorgen zu sprechen, werden sie verdrängt und wirken als abgespaltene Persönlichkeitsanteile aus dem Unterbewusstsein mittels kaum noch berechenbarer Abwehrstrategien weiter. Das kann zu Katastrophisierungen oder zu unüberwindbaren Widerständen gegenüber gegebenen Anforderungen führen. Überraschende Kündigungen von Führungskräften oder Leistungsträgern sind dann eine der möglichen Folgen.

Elisabeth Naomi Reuter

Welchen Ängsten Arbeitskräfte ausgesetzt sind, wird regelmäßig in zahlreichen Studien untersucht, wie z. B. in der von Mozy, einem Online-Backup-Lösungsanbieter, bei 550 IT-Entscheider und 1.250 Büroangestellte aus den USA und fünf Ländern in Europa befragt wurden (Mai 2013). Hiernach sind vor allem die Angst vor einem Verlust des Arbeitsplatzes (23%), vor Präsentationen (15%) oder davor, von niemandem gemocht zu werden (14%), weit verbreitet. Laut des Edenred-Ipsos-Barometers, bei dem 7.200 Arbeitnehmer aus sechs europäischen Ländern befragt wurden, gaben 44 Prozent an, dass ein gesichertes Arbeitsverhältnis ihre größte berufliche Sorge sei. Existenzängste und die grundlegenden Merkmale einer sozialen Phobie sind also häufiger anzutreffen, als man es gern wahrhaben möchte. Hinzu kommt die weit verbreitete Angst vor dem eigenen Versagen, die – je höher die Anforderungen und die Verantwortung sind – umso massiver werden kann und von der in wirtschaftlich unsicheren Zeiten vor allem Führungskräfte betroffen sind. Aber auch Veränderungen und betriebliche Umstrukturierungen erzeugen oftmals Angst, da liebgewonnene Gewohnheiten und Vertrautes aufgegeben werden müssen, wodurch in vielen Fällen Unsicherheit oder Frustration entsteht. Der dadurch ausgelöste innere Widerstand zeigt sich dann häufig in einem feindseligen oder aggressiven Verhalten. Vor allem auffällig heftige emotionale Reaktionen von Mitarbeitern deuten darauf hin, dass Neuerungen als bedrohlich empfunden werden.

Ängste gehören jedoch zum menschlichen Repertoire und haben eine wichtige Warnfunktion für den Organismus. Ab einem gewissen Grad wirken sie sich aber dysfunktional aus und können die Handlungsfähigkeit der Betroffenen so sehr einschränken bzw. einen so großen Leidensdruck erzeugen, dass es ratsam ist, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denkt man zum Beispiel über 50 Prozent des Tages über seine Ängste nach oder schafft es nicht mehr, sie aus eigener Kraft zu überwinden, führen sie dazu, dass man das eigene Leben bzw. wichtige Entscheidungen maßgeblich nach ihnen ausrichtet, entstehen durch sie Probleme in der Partnerschaft bzw. Ehe oder ernsthafte Schwierigkeiten, berufliche Aufgaben zu erfüllen, oder lösen sie sogar Suizidgedanken aus, ist eine therapeutische Unterstützung geboten, um sie aufzulösen. Oftmals ist es aber schon hilfreich, die verborgenen Ursachen der Ängste und Unsicherheiten bereits in ihren Anfängen in einem Gespräch zu erhellen. Geduld ist hierbei angezeigt und es ist ratsam, das Wort „Angst“ durch „Sorgen“ zu ersetzen, da die meisten Menschen eher zugeben, dass sie sich über etwas Gedanken machen, als dass sie ängstlich sind. Geht man davon aus, dass Ängste durch eine (möglicherweise) inadäquate Bewältigung von Belastungssituationen entstehen, können Fragen nützlich sein, die eine Realitätsüberprüfung im Sinne einer Entkatastrophisierung oder Konkretisierung ermöglichen bzw. die auf dahinterliegende Ressourcen oder Chancen aufmerksam machen oder die angstauslösenden Aspekte relativieren bzw. es den Betroffenen erlauben, eine gesunde emotionale Distanz zu wahren.

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Literatur:

  • Burisch, Matthias (2014). Das Burnout-Syndrom (5. Auflage). Springer Verlag.
  • Burisch, Matthias (1994). Ausgebrannt, verschlissen, durchgerostet. Psychologie heute (September 94), 23-26.
  • Freudenberger, H. J. & Richelson, G. (1980). Burn-Out. The High Cost of High Achievement. Garden City, N.Y.: Anchor Press.
  • Grunewald, Stephan (2013). Die erschöpfte Gesellschaft: Warum Deutschland neu träumen muss. Frankfurt am Main: Campus Verlag.