Mensch im Umbruch

Warum fällt es uns so schwer, die eigene Persönlichkeit zu verändern, und warum lassen sich schlechte Angewohnheiten i. d. R. nicht einfach ablegen? Unsere Persönlichkeit ist zwar durch relativ überdauernde Eigenschaften beschreibbar, dennoch verändert sie sich im Laufe unseres Lebens stetig.

Grundsätzlich stellt sich die Persönlichkeitspsychologie die Frage, worauf Unterschiede in der Ausprägung gewisser Merkmale bzw. Eigenschaften zwischen den Individuen beruhen, also inwieweit sie bspw. durch Veranlagung zustande kommen oder durch Erfahrung erworben und ausgebildet werden?

Mit diesem Thema befasse ich mich bereits seit meiner Studienzeit. Jetzt habe ich gerade ein Konzept entwickelt, mit dem ich andere Menschen dabei unterstützen möchte, ihre eigene Persönlichkeit und ihr Verhalten zu reflektieren, individuelle Entwicklungspotenziale zu identifizieren und erste Schritte in Richtung einer gewünschten Veränderung einzuleiten. Gestern habe ich nun vom Hogrefe Verlag die freundliche Genehmigung bekommen, im Rahmen meiner Seminare die Kurzform eines Tests einsetzen zu dürfen, mit dem die individuellen Ausprägungen der 14 Persönlichkeitsstile erfasst werden, den PSSI-K. Dieser basiert u. a. auf der PSI-Theorie von Prof. Dr. Julius Kuhl und ist angelehnt an das Modell der Persönlichkeitsstörungen nach dem DSM (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen). Es ermöglicht einen ressourcenorientierten (statt einseitig defizitorientierten) sowie einen problemorientierten therapeutischen Zugang zum Verständnis der Verschiedenartigkeit von Menschen, indem jeder Persönlichkeitsstil in seinen Stärken und in seinen Risiken bzw. Schwächen dargestellt wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass oftmals seltsam und befremdlich wirkendes Verhalten im Grunde genommen subjektiv sinnhafte Anpassungs- und Überlebensstrategien in spezifischen Sozialisationskontexten waren.

Menschen mit einem dominanten Persönlichkeitsstil bevorzugen – ebenso wie jene, die eine entsprechende Persönlichkeitsstörung aufweisen – eine damit korrespondierende Systemkonfiguration. Die Systemkonfigurationen stehen in einem direkten Zusammenhang mit den vier Makrosystemen der PSI-Theorie.

Die PSI-Theorie (siehe: Eine neue Persönlichkeitstheorie) geht davon aus, dass die Umsetzung von Motiven durch Affekte moduliert wird, und zwar durch den Einfluss, den Affekte auf die Aktivierung jener kognitiven Systeme ausüben, die für die Motivumsetzung wichtig sind (vgl. Modulationsannahmen). So werden unterschiedliche Systemkonfigurationen differenziert, mit denen sich jedes Motiv verbinden kann. Diese Systemkonfigurationen werden als Formen der Motivumsetzung interpretiert, die je nach den vorherrschenden Bedingungen mehr oder weniger adaptiv sein können.

  • Fühlen (Extensionsgedächtnis):  Das „Fühl-System“ ist adaptiv für alle Motive: Fühlen ermöglicht Flexibilität der Umsetzung (Bedürfnisbefriedigung) und aktive Bewältigung der mit Herausforderungen verbundenen negativen Gefühle.
  • Intuieren (Intuitive Verhaltenssteuerung): Intuieren ist besonders adaptiv für die Umsetzung des Bedürfnisses nach Anschluss: Der spontane Austausch mit anderen Menschen erfordert intuitive Programme der emotionalen Ansteckung, des Blickverhaltens u.v.m.
  • Denken (Intentionsgedächtnis): Die Denkfunktion ist maladaptiv im Bereich Anschluss; adaptiv im Bereich Leistung und evtl. Macht, also überall da, wo strategisches, planerisches Vorgehen erforderlich ist.
  • Empfinden (Objekterkennungssystem): Empfinden ist für kein Motiv besonders adaptiv, da diese Funktion die Perseveration (= Tendenz seelischer Erlebnisse und Inhalte, im Bewusstsein zu verharren) negativer Gefühle erfasst, die nicht durch das Fühlen integriert werden können. Das Empfinden ist mit einem “diskrepanz- und konfliktsensitiven” Aufmerksamkeitssystem verbunden: Unstimmigkeiten werden besonders stark beachtet und können u. U. gar nicht mehr ausgeblendet werden.

BIld: Manfred Evertz

Eine zentrale Annahme der PSI-Theorie besagt, dass sich psychische Systeme – je nach situativen Anforderungen – immer wieder neu konfigurieren. Verschiedene soziale Basisbedürfnisse verlangen unterschiedliche Systemkonfigurationen. Affektive und kognitive Einseitigkeiten, wie sie bei den Persönlichkeitsstörungen angenommen werden, können zu Schwierigkeiten bei der Befriedigung verschiedener Bedürfnisse führen. Eine Person kann sich in ihrem Verhalten und in ihrer Selbstwahrnehmung zunehmend von ihrem eigenen Selbst entfremden, wenn sie nicht gelernt hat, flexibel zu den jeweils passenden Systemkonfigurationen umzuschalten, sobald ein neues Bedürfnis auftaucht. Demzufolge werden Persönlichkeitsstile und ihre pathologischen Übersteigerungen in der PSI-Theorie als stabile bzw. chronische Varianten entsprechender kurzfristig auftretender Systemkonfigurationen verstanden.

“Bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer anderen Welt.“ Arthur Schopenhauer

Nun habe ich den PSSI-K natürlich selbst ausprobiert, da es mich interessierte, ob ich mit dem Ergebnis etwas anfangen kann? Vermutet habe ich, insbesondere bei hoher Belastung, einen selbstkritischen Persönlichkeitsstil zu zeigen. Dort hatte ich dann aber lediglich mit 7 die zweithöchste Punktzahl. Meinen höchsten Wert erreichte ich dabei beim „loyalen Persönlichkeitsstil“, der immerhin bei 9 von 12 möglichen Punkten lag. Wäre er etwas höher gewesen, würde er auf eine abhängige bzw. dependente Persönlichkeitsstörung hindeuten. Mein Testergebnis weist zwar noch längst nicht auf eine psychische Erkrankung hin, zeigt allerdings mit aller Deutlichkeit, wo meine „Baustellen“ verortet sind. Beide Stile haben nämlich etwas gemeinsam: Die Betroffenen neigen zum diskrepanzsensitiven Empfinden (ausgeprägte Empfänglichkeit für negative Affekte) und sie sind eher “kopflastig”, d. h. im Denk-Modus (gedämpfter positiver Affekt). Die Gefühle, die diese Stille am ehesten charakterisieren, sind Angst (loyaler PS) und Scham (selbstkritischer PS). Dass ich mich in schwierigen Lebensphasen oder unter Stress recht häufig im Objekterkennungssystem verheddere, war mir schon bewusst. Auch, dass ich in Zeiten, in denen ich einer hohen Belastung ausgesetzt bin, zur Anhedonie neige, wusste ich schon. Scham kenne ich ebenfalls recht gut. Das mit der “Angst” hat mich allerdings zunächst überrascht.

Manchmal ist die Wahrheit unbequem. Schon seit Beginn meiner Pubertät frage ich mich immer mal wieder, was mit mir eigentlich nicht stimmt? Obwohl ich seither nach Antworten suche, habe ich es irgendwie trotz eines Psychologiestudiums geschafft, über viele Jahre nahezu sämtliche relevante Informationen auszublenden, die mich zu einer tieferen Selbsterkenntnis hätten führen können. Dass ich gewisse Erfahrungen, die ich in meiner Kindheit machen musste, aus meinem Erleben abgespalten hatte, ist mir inzwischen bewusst, ebenso wie die Tatsache, dass ich manchmal dazu neige, „unerwünschte“ Lebenswirklichkeiten, die für andere Menschen vollkommen selbstverständlich sind, komplett auszublenden und ein selbstausbeuterisches Verhalten an den Tag zu legen. Und ja, ich suche tatsächlich nach Halt, wobei mir gar nicht so ganz klar ist, was genau ich eigentlich damit meine. Dennoch ist dieses diffuse Grundmotiv im hohen Maße charakteristisch für mich. Auch wenn ich – dank meiner sogenannten „gesunden Anteile“ – unter normalen Lebensbedingungen weit davon entfernt bin, mir eine Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, so weiß ich doch, dass ich insbesondere in kritischen Lebensphasen dazu neige, zumindest einen Teil jener diagnostischen Kriterien zu erfüllen, die eine dependente Persönlichkeit ausmachen.

In solchen Phasen ist es mir tatsächlich mehr oder weniger gleichgültig, wer mir den gewünschten Halt gibt, sofern es sich natürlich um einen Menschen handelt, von dem ich annehme, Halt “bekommen” zu können. Und es stimmt auch, dass viele meiner Beziehungen, die ich dann aufbaue, rasch instabil werden, da ich mich zu sehr mit mir selbst und meiner eigenen Unzulänglichkeit beschäftige, sodass ich kaum wirkliches Interesse für die Bedürfnisse und Befindlichkeiten eines Gegenübers aufbringen kann. Ich fühle mich dann wieder so, wie ich es als kleiner Junge getan habe, was dazu führt, dass meine emotionale Bindung zu „ausgewählten“ Personen über die eines Kindes tatsächlich kaum hinausreicht. Das Stichwort lautet „Bedürftigkeit“. Dabei neige ich vermutlich eher zu einem aktiv-dependenten Interaktionsmuster. Diese Variante ist mit Anstrengungen verknüpft, und die Betroffenen sind in der Regel lebhaft, sozial angepasst und charmant, mit dem Ziel, (bestimmten) anderen Menschen zu gefallen und deren Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ebenfalls bewusst bin ich mir meiner Neigung zur dramatischen Gefühlsbetonung. Wer meinen Blog kennt hat, dürfte das vielleicht bereits bemerkt haben, mein damaliger Therapeut hat es jedenfalls ganz gewiss, was bei ihm – meinem Empfinden zufolge – zu äußerst bedrohlichen Abwehrreaktionen geführt hat.

Wie kommt es dazu, dass ich mich insbesondere in jenen Situationen so seltsam verhalte, in denen ich extremen Belastungen ausgesetzt bin? Psychotherapeuten/-innen würden darauf vermutlich wie folgt antworten: „Dies weist deutlich auf einen Schock im Kindesalter hin, in dem sich das Subjekt einer Situation anpassen musste, der sie kognitiv nicht gewachsen war (z. B. sexueller, körperlicher oder seelischer Missbrauch, Übernahme von Erwachsenenrollen etc.). Oft ist es eine Form der anhaltenden Demütigung, welche die betroffene Person durch Abspaltung als Form der Ich-Abwehr versucht, zu meiden, oder besser zu ertragen.” (1) Ups… Es gibt sie allem Anschein nach auch bei mir, diese inneren Prozesse, die sich der Selbstaufmerksamkeit beharrlich entziehen und somit auch nur schwerlich artikulierbar sind.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass laut der Auswertung eines Tests, der sogenannte maladaptive Schemata erfasst, die „Trennungsangst“ wohl ein zentrales Thema in meinem Leben ist. Zwar erinnere ich mich an eine Situation aus meiner Kindheit, in der ich diese ganz intensiv gespürt habe, im weiteren Verlauf meines Lebens tauchte sie aber nie wieder auf. Warum sollte ich mich also heute damit beschäftigen? Gibt es da vielleicht einen Zusammenhang? Was geschieht eigentlich mit Gefühlen, die nicht mehr erlebbar oder abgespalten sind? Sind sie einfach weg? Oder wirken sie aus dem Unbewussten weiter? Wie verhält sich das bei mir?

Leider muss ich mir eingestehen, dass ich mich seit jeher schon bei den geringsten Anzeichen einer möglicherweise bevorstehenden Trennung oder Abweisung emotional aus einer Beziehung herausgezogen – d. h. mich umgehend getrennt – habe, vermutlich deshalb, um die Angst, verlassen zu werden, gar nicht erst ausstehen zu müssen. Inzwischen scheint es mir aus diesem Grund sogar fast unmöglich zu sein, mich überhaupt auf eine Liebesbeziehung einzulassen. Ich denke, dass die Angst vor dieser existenziellen Bedrohung, die ich als Kind wohl gespürt haben muss, ein wesentlicher Grund dafür ist. Daran arbeite ich aber schon eine ganze Weile mit recht gutem Erfolg. Dennoch finde ich es beachtlich, diesbezüglich abermals “entlarvt” worden zu sein.

Die gute Nachricht ist, dass ich mich in jenen Kriterien, anhand derer eine dependente Persönlichkeitsstörung dem ICD-10 nach diagnostiziert wird, nicht wiederfinde, und zwar in keinem von ihnen. Im DSM-5 gibt es jedoch ein Kriterium, mit dem ich mich im gewissen Maße durchaus identifizieren kann:

  • Betroffene haben Schwierigkeiten, Unternehmungen selbst zu beginnen oder Dinge unabhängig durchzuführen (eher aufgrund von mangelndem Vertrauen in die eigene Urteilskraft oder die eigenen Fähigkeiten als aus mangelnder Motivation oder Tatkraft).

Darüber habe ich im Rahmen meiner (Lehr-)Therapie sehr häufig gesprochen. Wie kann es mir gelingen, in allen Lebensbereichen Selbstverantwortung zu übernehmen bzw. mich damit abzufinden, selbst für mich sorgen zu müssen? Was genau bereitet mir eigentlich so große Schwierigkeiten dabei, Unternehmungen selbst zu beginnen oder Dinge unabhängig durchzuführen? Und was kann ich tun, damit es mir künftig leichter fällt? So hat der Entschluss, das Seminar „Persönlichkeit im Wandel“ eigenständig (d.h. nicht im Auftrag irgendeines renommierten Trainingsanbieters) durchzuführen, mich abermals mit einer meiner zentralen Entwicklungsaufgaben konfrontiert. Das fühlt sich überhaupt nicht gut an. Aushalten werde ich das jetzt aber trotzdem!

„Es kommt vieles auf ein richtiges Auffassen der eigenen Individualität an; wer sich falsch beurteilt, ist in Gefahr, sich selbst zu zerreiben.“ Johann Friedrich Herbart

Nun hat jeder Mensch natürlich seine eigene Geschichte und demzufolge auch ganz individuelle Themen, die es sich vielleicht lohnt, mal genauer anzuschauen. Dabei kann das Modell der Persönlichkeitsstile m. E. äußerst hilfreich sein. Im nächsten Schritt bietet es sich an, darüber nachzudenken, welche Veränderungen wünschenswert sind und wie sie sich realisieren lassen. Das tue ich, und das sollte eigentlich jeder tun.

Fußnote:

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Abhängige_Persönlichkeitsstörung

Literaturempfehlung:

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„Gütemerkmale der therapeutischen Allianz und Therapieerfolg“ von Dr. rer. medic. Hans-Jörg Lütgerhorst unter Mitarbeit von Nina Petermann

„Egal, was Therapeut und Patient miteinander anstellen, die Therapie ist erfolgreich, wenn sich beide wertschätzen.“ (Spitzer 2003) – Dann wäre es ja einfach, ein guter und erfolgreicher Psychotherapeut zu werden, ein akademisch-wissenschaftliches Studium und eine Psychotherapieausbildung wären sogar überflüssig.

Man stelle sich jedoch Folgendes vor: Der Psychotherapeut vermittelt Wertschätzung, Empathie, Wärme und Anteilnahme, aber er ist ungepflegt, das Zimmer ist in einem ungelüfteten und chaotischen Zustand, er weist Körper- und Mundgeruch auf, er versäumt Termine, vergisst wichtige Informationen oder nimmt Eigendokumentationen des Patienten nicht zur Kenntnis, raucht während der Sitzung, die Tür ist nicht geschlossen. Auch wenn man von diesem postmodernen Waldschratmodell eines Psychotherapeuten absieht und nur ein oder zwei seiner Merkmale erwartungswidrig sind, wird der Patient momentan in einen mentalen Zustand versetzt, in dem Wertschätzung, Empathie etc. möglicherweise nicht mehr wirken.

Nur in Einzelfällen können Abweichungen des Psychotherapeuten vom äußeren Habitus und Paradoxien in der Intervention zu einer Verblüffung und „Erfolg versprechenden Verstörung“ i. S. eines Weckrufs führen, wobei die Erwartungswidrigkeit ein Innehalten bewirken kann und vielleicht einen Neustart weg von eingefahrenen Kommunikationsmustern ermöglicht.

Bild: Manfred Evertz

Es stellt sich im Rahmen unseres Themas auch ein methodisches Problem, das die Vergleichbarkeit von Studien einschränkt: Wer schätzt die Güte bzw. Qualität der Allianz ein – der Psychotherapeut, der Patient oder ein unabhängiger Untersucher? Besonders komplex wird es bei multiplen Beurteilungen im Rahmen von Gruppentherapie. Und wie werden Therapieerfolg bzw. Stagnation oder Misserfolg gemessen – mittels Symptomreduktion, Verbesserung der Selbstwertschätzung, Verringerung der Symptomlast, Zunahme an Lebenszufriedenheit, Reduktion der Arbeitsunfähigkeitstage, Stabilität des Therapieerfolgs über Zeit hinweg, Anzahl der benötigten Therapiesitzungen etc.? Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Haltungen, Verhaltensweisen und Interventionsformen über Empathie und Wertschätzung hinaus die Güte der Allianz ausmachen. Interagiert die Güte oder Qualität der therapeutischen Allianz mit anderen Prädiktoren für den Therapieerfolg?

Studienlage in Auszügen

Nach Lambert (1992) beruhen 30 % des Therapieerfolgs auf der therapeutischen Allianz und nur 15 % auf der spezifischen Technik. Norcross und Wampold (2011) betonen die Bedeutung der therapeutischen Allianz in all ihren Aspekten für den Therapieerfolg, wozu auf Seiten des Therapeuten v.a. Empathie gehöre. Eine Metaanalyse der Studien über die Erfolgswirkung der Allianz liefert zwar eine mittlere Effektstärke von 0.57, dies lässt aber offen, in welchem Ausmaß die Allianzgüte mit der Behandlungskompetenz kovariiert bzw. davon abhängt (Horvath et al. 2011). Im Handbuch von Lambert (2013) werden ausführlich alle Einflussfaktoren für den Therapieerfolg dargestellt und diskutiert. In der umfangreichen Literatur zu diesem Thema ist es verwirrend, dass einige Autoren die Allianzgüte und die Therapeutenkompetenz unter „Therapeuteneffekt“ zusammenfassen, während andere (z.B. Wampold 2015) die therapeutische Allianz unter „gemeinsame Faktoren“ der verschiedenen Methoden subsummieren. Löffler et al. (2014) fanden in einer naturalistischen Studie, dass die Allianzgüte (in Patienteneinschätzung) eine signifikante Moderatorvariable für den erfolgreichen Einsatz von Techniken der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) bei der Depressionsbehandlung darstellt. Demnach ist die KVT umso besser, je mehr Therapeutenkompetenz zur Herstellung einer tragfähigen Allianz einschl. eines Arbeitsbündnisses vorhanden ist, was wiederum auch durch Patientenmerkmale wie deren Bindungsstil beeinflusst ist.

Sicher passen die folgenden Überlegungen und Vorschläge nicht so ganz in die gegenwärtige Wissenschaftslandschaft und sind provokativ. Die gesamte Fragestellung hat einen hohen Komplexitätsgrad. Eine Matrix unabhängiger (Psychotherapeut und Methode) und abhängiger Faktoren (Patient) würde sehr umfangreich ausfallen und keineswegs nur diese beiden Dimensionen umfassen. Dann stellt sich die Frage, was macht weitere Dimensionen aus? Handelt es sich um demografische soziokulturelle Faktoren oder um sogenannte Kontextfaktoren wie Geschlecht (s. Kap. 17.2), um Alter, Passung von Werthaltungen (Rosenthal 1955), Passung des Störungsmodells, Einbezug von Bezugspersonen, Einzel- versus Gruppentherapie, kompakte oder kontinuierliche Interventionsverteilung? Zu diesen Dimensionen gehört aber auch das Basisverhalten des Patienten wie z. B. Verlässlichkeit, soziale Verträglichkeit, Offenheit, Ausdauer, Veränderungsbereitschaft und aktive Anstrengungsbereitschaft.

Bei der Heranziehung von Daten aus dem deutschsprachigen Raum (Lohmann u. Mittag 1979) fällt auf, dass diejenigen Psychoanalytiker als besonders positiv vom Patienten eingeschätzt werden, die als empathisch erlebt werden. Diejenigen Gesprächspsychotherapeuten werden als besonders positiv eingeschätzt, die ab und zu auch einen Ratschlag gaben.

Freud wurde von seinen Schülern und Analysanden keineswegs als so beziehungsabstinent eingeschätzt, wie er es theoretisch vorgab, sondern vielmehr als anteilnehmend und empathisch. Wird damit die anfangs zitierte Bedeutung der Wertschätzung von Spitzer gestützt? Die gesamte gesprächspsychotherapeutische Forschung hat immer wieder die Bedeutung von Empathie, unbedingter Wertschätzung und Echtheit aufseiten des Therapeuten herausgestellt. Wir vermuten, dass auf „Echtheit“ des Psychotherapeuten nicht nur aus seiner verbalen Zuwendung geschlossen wird, sondern auch aus der Konkordanz von nonverbalen Botschaften und verbal geäußertem Inhalt. Placebo-Studien zeigen nämlich, dass der unzweideutig ausgestrahlte Optimismus entscheidend ist für die Bildung von Besserungserwartung, wobei Letztere der allgemeinste Prädiktor für Therapieerfolg aufseiten des Patienten zu sein scheint. Wir nehmen an, dass ein wesentlicher Aspekt der Resonanzfähigkeit des Psychotherapeuten darin besteht, dass er Mimik, Gestik, Stimmführung zu „deuten“ vermag sowie Diskordanzen zwischen den verbalen Äußerungen des Patienten einerseits und seinen nonverbalen Äußerungen andererseits richtig „deutet“ und in seinen Interventionen nutzt.

Klagen von Patienten über Psychotherapeuten (Mohr 1995) beziehen sich auf Distanziertheit, Empathiemangel und Ungeduld. Dies gilt unabhängig von der Therapierichtung. Auch Heim (2009) weist auf die Bedeutung der Dichotomie „freundlich versus unfreundlich“ hin. Er erwähnt aber auch die Dichotomie „dominant versus submissiv“ aufseiten des Psychotherapeuten; beide dieser Extremvarianten sind nicht hilfreich. Darüber hinaus gilt es auf möglichst ausgeglichene Redeanteile zu achten (Ausnahmen: Hypnose und Hypnotherapie).

Zusammenfassend weisen die Studien auf die Bedeutung der emotional-sozialen Kompetenz und Intelligenz des Psychotherapeuten hin. Schon 1961(!) wurde in einer Broschüre der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung über den Beruf des Psychotherapeuten auf folgende Voraussetzungen hingewiesen: natürliche Anlagen, Erwerb erlernbaren Wissens und erlernbarer Fähigkeiten (sic!), verstehende Güte und lebendiges Einfühlungsvermögen.

Zeichnet dieses zwischenmenschliche Geschick die Psychotherapeuten bereits vor ihrer Ausbildung aus und lässt es sich durch die Ausbildung verbessern? Emotional-soziale Intelligenz wird schließlich auch von Nicht-Professionellen erworben, z. B. durch Modelllernen, Übung, Rückmeldung und Reflexion (Lambert 2013). Umso mehr sollten diese übenden Aspekte in der Aus- und Weiterbildung systematische Berücksichtigung finden. Interessanterweise werden von Psychotherapeuten, die selbst Psychotherapie in Anspruch nehmen, nicht nur Wärme, Offenheit und Fürsorge geschätzt, sondern auch Berufserfahrung und -kompetenz (Norcross et al. 2009). […]

Zusammenfassung und Ausblick

Die therapeutische Allianz ist kein isolierter Faktor im Sinne von Orthogonalität. Es bestehen diverse Interkorrelationen zwischen Kontextmerkmalen einschließlich des Einflusses von relevanten Bezugspersonen, Patientenmerkmalen einschließlich der Art und des Ausprägungsgrades der Störung, der Veränderungsmotivation des Patienten und seines Beziehungsstils. Hinzu kommen folgende Therapeutenmerkmale: grundlegende emotional-soziale Intelligenz, Empathie in der Gestaltung der Allianz, die Beachtung formaler Regeln, Störungs- und Interventionswissen und vor allem aber Anwendungsfertigkeiten und -sicherheit im Rahmen fachlich-methodischer Behandlungskompetenz. Alles zusammen macht die Güte der therapeutischen Allianz aus und fördert den Therapieerfolg. Die bloße „kognitive“ Kenntnis der therapeutischen Handlungsregeln (Grawe 1999) reicht u. E. nicht aus, wenn nicht die Umsetzung der Regeln trainiert wird und Umsetzungskompetenz erworben wird. Hier klafft in der Aus- bzw. Weiterbildung eine zu schließende Lücke zwischen Wissen und Können. Es ist weder die Anwesenheit von Supervisoren bei Therapien von Ausbildungsteilnehmern vorgesehen noch die Anwesenheit von Teilnehmern bei Therapie von Supervisoren. Bisher geschieht Supervision nach vier Sitzungen stets verzögert und konterkariert das Wissen über die Wirksamkeit unmittelbarer Rückmeldung. […]

Das Training von Anwendungsfertigkeiten bzw. von Behandlungskompetenz halten wir im Rahmen der geplanten „Direktausbildung“ an Universitäten und Kliniken für gefährdet, und zwar sowohl wegen der geringen Erfahrung von Hochschullehrern in der praktischen Anwendung von Psychotherapie als auch wegen des Verzichts auf die Supervisions- und Selbsterfahrungsexpertise von in der Versorgungsrealität tätigen Psychotherapeuten während der Ausbildungsphase, die zur Approbation führen soll. Denn Psychotherapie ist nicht nur eine Wissenschaft, sondern bei deren Anwendung in der Versorgungsrealität auch eine Kunst (Sulz 2014, 2015). Dies gilt trotz der Unterschiedlichkeit in den Konzeptualisierungen der therapeutischen Allianz zwischen den Psychotherapierichtungen, wie sie in Bronisch und Sulz (2015) dargestellt werden.

Auf diesen Erkenntnissen, Überzeugungen und eigenen Erfahrungen aufbauend begrüßen wir einen Brückenschlag zwischen Behandlungsmethoden. Dieser integrative Ansatz wird auch von ehemals rein kognitiven Verhaltenstherapeuten favorisiert, welche die eher aus psychodynamischen und humanistischen Verfahren stammende Einbeziehung von frühen sozialen Erfahrungen und Prägungen (Bindungserfahrungen) nahelegen. Außerdem wird ein Eingehen auf die Vermeidung von emotionalem und somatischem Erleben sowie die Einbeziehung des Erlebens der gegenwärtigen therapeutischen Allianz empfohlen (Borkovec 2005; Newman et al. 2004). Wir schlagen daher eine maßgeschneiderte und Ressourcen berücksichtigende Psychotherapie mit Individuum bezogener „Feinsteuerung“ (Dick et al. 1999) vor, und zwar über Richtlinienverfahren hinaus. Die große Mehrzahl stationär und ambulant tätiger Psychotherapeuten behandelt trotz ihrer verfahrensspezifischen Ausbildung übrigens längst im Sinne einer integrativen Psychotherapie (s. Kap. 12). Systematisierte eklektische Ansätze sind bereits von Wachtel (1977), Beutler (1983) und von Orlinsky und Howard (1987) vorgelegt worden. Heim (2ooo) hat den Versuch unternommen, solche Modelle einem Ausbildungskonzept zu Grunde zu legen. Lazarus (1989) hatte sich mit seine Multimodalen Therapie von der klassischen Verhaltenstherapie zu Gunsten eines technischen Eklektizismus` entfernt. All diese seit langer Zeit bekannten Ansätze entsprechen im Kern unserer hier dargelegten Auffassung von einer Individuum bezogenen Maßschneiderung.

Seit Jahren mehren sich die Veröffentlichungen über Glück und Glücklichsein (z.B. Bormans 2011) und über Freude als Haltung dem Leben gegenüber i.S. einer spirituellen Lebensphilosophie (Dalai Lama und Tutu 2016). Diese Ansätze der Philosophischen Psychologie sind oft überlappend mit solchen der Positiven Psychologie (Seligman 2012). Tugenden, Resilienz- und Salutogenesefaktoren sind daraus zu entnehmen wie: Akzeptanz, Weisheit, Neugier, Echtheit, Tapferkeit, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Selbstdistanzierung, Besonnenheit, Dankbarkeit, Vergebung, Transzendenz, Humor, Sinnorientierung und -erleben. Insbesondere im Sinnerleben besteht eine Nähe zum Kohärenzkonzept von Antonovsky (1997). Was das nun für Psychotherapeuten und deren Allianz- und Interventionsgestaltung bedeutet, das mag jeder für sich entscheiden. Aber welchen Wert hat eine Haltung ohne entsprechendes Verhalten, denn: „Um die Menschen kennen zu lernen, muss man sie handeln sehen“ (J. J. Rousseau).

PS: In dem Buchartikel finden sich 43 Hinweise für die Ausbildung von Umsetzungs- und Behandlungskompetenz.

Dr. Hans-Jörg Lütgerhorst war 35 Jahre in psychiatrischen und psychotherapeutischen Kliniken in Vollzeit tätig, seit 2010 in ambulanter Praxis. Er verfügt über eine Approbation und zertifizierte über Aus- bzw. Weiterbildungen in Verhaltenstherapie und Kognitiver VT, Gesprächspsychotherapie und Focusing-Therapie sowie Hypnosetherapie. Er wurde 1993 von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung als Supervisor für Einzel- und Gruppen-VT anerkannt und ist akkreditierter Dozent, Supervisor, Selbsterfahrungsleiter und Approbationsprüfer an den Landesprüfungsämtern NRW u. RPL. Er unterrichtet in Südafrika sowie an 10 staatlich zugelassenen Aus- und Weiterbildungsinstituten im Bundesgebiet und hat 6 Fachartikel veröffentlicht. Weitere Informationen zum Werdegang finden Sie hier: Curriculum Vitae 2020. E-Mail: hans-joerg@luetgerhorst.de

Quelle:

Bei diesem Text handelt es sich um Auszüge aus dem 9. Kapitel des folgenden Buches:

  • Sabine Trautmann-Voigt & Bernd Voigt (Hrsg.) (2017). Psychodynamische Psychotherapie und Verhaltenstherapie: Ein integratives Praxishandbuch. Klett-Cotta / Schattauer.

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„Startet das Psychotherapiestudium im Wintersemester 20/21?“ von Prof. Dr. Wolfgang Schönpflug

Die neue Approbationsordnung ist da! Vor einem Jahr habe ich in einem Interview mit dem Titel “Ist die Psychologie noch zu retten?” die dramatischen Veränderungen behandelt, welche der Psychologie als Wissenschaft und Beruf bevorstehen dürften, wenn die gegenwärtige Reform der Psychotherapieausbildung verwirklicht wird. Nachdem in diesem Monat das Gesundheitsministerium die neue Approbationsordnung erlassen hat, lassen sich manche Auswirkungen klarer einschätzen. Zunächst werde ich darstellen, wie überhaupt die Ausbildung der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Zukunft gestaltet sein soll.

Die Reform ist nun in vollem Gange: Das „Gesetz zur Reform der Psychotherapeutenausbildung“ ist beschlossen, der Bundesgesundheitsminister hat gerade die zugehörige Approbationsordnung erlassen (veröffentlicht im Bundesgesetzblatt vom 12. März 2020). Nun sind die Hochschulen am Zug. Sie müssen ihre Studienordnungen neu schreiben. Und ihre Entwürfe müssen die zuständigen Landesministerien oder Senatsverwaltungen genehmigen. Ob das bis zum Wintersemester gelingt, wenn der nächste Jahrgang von Studienwilligen in die Hörsäle drängt? Nach den alten gesetzlichen Bestimmungen kann der neue Jahrgang jedenfalls das Studium nicht mehr aufnehmen. Denn diese sind nur noch bis zum 1. September dieses Jahres in Kraft.

So wird es in Zukunft sein: Es gibt eine staatliche Approbationsprüfung. Wer die Prüfung besteht, erhält die Approbation für Psychotherapie. Die Approbation berechtigt zur selbständigen und eigenverantwortlichen Psychotherapie. Approbierte können sich beruflich weiterbilden; danach können sie die Zulassung zum System der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten. Die Approbationsprüfung setzt ein Bachelor-/Masterstudium an einer Hochschule voraus. Für das Bachelorstudium sind sechs Lehrgebiete vorgeschrieben: Klinische Psychologie, Nicht-klinische Psychologie (u. a. Entwicklungs- und Sozialpsychologie), Methodenlehre und Diagnostik, Medizin und Psychopharmakologie; für diese Lehrgebiete ist ein Mindestumfang vorgegeben. Hinzu treten weitere Bezugswissenschaften der Psychotherapie – wie etwa Philosophie oder Neurowissenschaft. Im Bachelorstudium soll in die Grundlagen der Psychotherapie eingeführt werden. Das Masterstudium konzentriert sich dann auf Forschungen zur Psychotherapie, die Lehre von den psychischen Störungen und ihrer Behandlung, die weiteren Aufgaben Klinischer Psychologinnen und Psychologen – wie etwa Begutachtung – sowie einschlägige berufsrechtliche und ethische Fragen. Auch zum Masterstudium werden Mindestumfänge für Lehrgebiete vorgegeben. Das Studium soll die für den Beruf der Psychotherapie nötigen Kompetenzen vermitteln. Daher gehören zum Pflichtprogramm sowohl im Bachelor- als auch im Masterabschnitt praktische und patientennahe Übungen und Tätigkeiten. Insgesamt sind etwa zwei Drittel des Studiums staatlich vorgegeben, und die Hochschulen sind verpflichtet, etwa ein Fünftel des Studiums praxis- und patientennah zu gestalten.

Was wird damit anders? Die Approbation wird vor der Weiterbildung erteilt, nicht wie bisher nach der Weiterbildung. Therapeutische Leistungen können daher schon während der Weiterbildung vergütet werden; das Gesetz garantiert sogar ein Mindesteinkommen von 1.000 Euro monatlich. Damit entspannt sich die oft als prekär beklagte Lage der Berufsanfänger. Die Approbation wird für Psychotherapie insgesamt erteilt, nicht mehr wie bisher getrennt für Erwachsenen- sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Daher setzt die Vorbereitung auf die Approbation weder – wie bisher für Erwachsenenpsychotherapie – allein ein Studium der Psychologie voraus, noch – wie bisher für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie – allein ein Studium der Pädagogik. Vielmehr werden sowohl Kenntnisse der Psychologie als auch Kenntnisse der Pädagogik verlangt, dazu noch – wie erwähnt – Medizin, Psychopharmakologie sowie andere Bezugswissenschaften. Das bisher disziplinäre Studium wird also multidisziplinär.

Wenn in Zukunft Großeltern ihre Enkel fragen: „Was studierst du eigentlich?“ Dann müssten die „studierenden Personen“ – so die neue Sprachregelung in der Approbationsordnung – streng nach der gesetzlichen Regelung antworten: „Wir erwerben die Kompetenzen zur Ausübung des Berufs eines Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin.“ So drückt es der Gesetzgeber aus und vermeidet es, dem von ihm kreierten Studiengang einen Namen zu geben. Der Gesundheitsminister ist vor der Presse weniger zurückhaltend und spricht beherzt von einem Psychotherapiestudium. Die Bezeichnung „Psychotherapiestudium“ ist inzwischen in aller Munde. Die Scheu, die zum Psychotherapeutenberuf führende Ausbildung offiziell als Psychotherapiestudium zu bezeichnen, beruht vor allem auf Rücksichtnahme gegenüber der Psychologie und der Pädagogik, die bisher allein die wissenschaftliche Vorbereitung auf die therapeutische Praxis geleistet haben. Ob sie das effektiv genug taten, ist umstritten. Obwohl der Gesetzgeber im Streit um die Kompetenz akademischer Disziplinen nicht offen Partei ergreift, folgt er doch zwei Forderungen aus der öffentlichen Debatte: Die Anerkennung einer eigenen Psychotherapiewissenschaft und die Einführung eines sich über alle Studiensemester erstreckenden „Direktstudiums“ der Psychotherapie. Die Entscheidung über den Namen des neuen Studiengangs ist nunmehr in die Hochschulen verlagert, und diese werden sich wahrscheinlich nicht alle auf denselben Namen einigen. Sie können den neuen Studiengang weiterhin als „Psychologie“ oder „Pädagogik“ bezeichnen, oder sie geben den traditionellen Namen auf und bezeichnen den Studiengang klar als „Psychotherapie“ – wobei als Kompromisslösung auch „Psychologie und Psychotherapie“ eine Chance hat.

Bild: Manfred Evertz

Eine kleine Revolution ist für ein akademisches Fach die vergleichsweise hohe Praxis- und Patientennähe des Studiums. Man kann den neuen Studiengang fast als „dual“ bezeichnen. Bisher hat man Studierende in den Semesterferien in sechswöchige Außenpraktika geschickt, damit sie etwas Berufspraxis schnuppern. In den Instituten gab es ein Empirisches Praktikum, bei dem die Probanden meist selbst Studierende waren. Für die neuen „Berufspraktischen Einsätze“, Magisterarbeiten und weitere Forschungen werden die Hochschulen Kliniken und andere Gesundheitseinrichtungen als Partnerinnen gewinnen müssen. Wollen sie aber selbst Lehre, Forschung und Praxis verbinden, werden sie ihre Hochschulambulanzen ausbauen. Dann entstehen Kliniken wie in der Medizin, in denen angehende Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten einen Teil ihres Studiums absolvieren, Forschungen für ihre wissenschaftlichen Arbeiten durchführen und schließlich ihre berufliche Weiterbildung erhalten.

Das mag gesundheitspolitisch eine glänzende Perspektive sein. Für die Psychologie wird die gegenwärtige Entwicklung zur Existenzfrage. Verliert das Fach Psychologie im Psychotherapiestudium an Bedeutung, so wird Psychotherapie nicht mehr als psychologischer Beruf erkennbar. Das droht auch, die Qualifikation der Studienabsolventen zu mindern. „Wirkt nicht richtig“, hat der Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen das Reformgesetz kritisiert und aus Protest dagegen sogar eine Demonstration vor dem Berliner Reichstagsgebäude veranstaltet. Zudem befürchtet der Berufsverband eine „Klinikisierung und Medikalisierung“ psychologischer Berufe, wenn für Psychotherapie Approbierte in Schulen, Bertriebe etc. drängen. Besorgnis erregt an den Psychologischen Instituten und Fachbereichen der Hochschulen, dass Personal- und Sachmittel für Grundlagen- und nicht-klinische Praxisfächer gestrichen werden könnten, um Mittel für den erhöhten Bedarf an im Bereich der Psychotherapie freizusetzen.

In der Tat: Die Nachfrage nach dem neuen Psychotherapiestudium wird beträchtlich sein. Ob dagegen an allen Hochschulorten die bundesweite Nachfrage nach Experimenteller Psychologie, Sozialpsychologie, Wirtschaftspsychologie und Ähnlichem für ein volles Lehrangebot ausreicht, ist ungewiss. Wirtschaftlich gesehen, ist dann eine Umschichtung von Ressourcen zugunsten des klinisch-therapeutischen Bereichs geboten. Und was den Psychologenberuf anbelangt: Angesichts der zu erwartenden starken Nachfrage werden die staatlichen Hochschulen bestrebt sein, die Zahl der Plätze für das Psychotherapiestudium hochzuhalten; für Privathochschulen ist das Studienangebot sicher auch finanziell attraktiv. Studierende haben freilich keine Gewähr, nach dem Studium zum Psychotherapeutenberuf zu gelangen; der Gesundheitsminister will nämlich die Zahl der Approbationen „deckeln“. Auch hat, wer nach der Approbation die Weiterbildung absolviert hat, keinen Anspruch auf Krankenkassenzulassung; die Kassen können die Zulassung aus Kostengründen einschränken. Damit ist abzusehen, dass psychotherapeutisch Aus- und sogar Weitergebildete auf nicht-therapeutische Berufe ausweichen müssen, dann z.B. mit ausgebildeten Familien-, Schul- und Arbeitspsychologen konkurrieren und in Schulen, Betrieben usw. das breite Spektrum psychologischer Leistungen auf klinisch ausgerichtete reduzieren (z. B. in Schulen auf die Betreuung von auffälligen Schülern zu Lasten von Schullaufbahnberatung und Unterrichtsorganisation).

Eine Konkurrenz zwischen Psychotherapie und nicht-klinischer Psychologie wäre gar nicht entstanden, hätte man das neue Studium zusätzlich zu dem bestehenden eingerichtet; wofür man allerdings beträchtliche Personal- und Sachmittel bereitstellen müsste. Völlige Neueinrichtungen waren freilich nicht nötig. Die bestehenden Psychologischen Institute und Fachbereiche waren bereit, ja sogar vielfach bestrebt, sich an dem reformierten Studium zu beteiligen. Doch nun erweist sich: Für die Reform reichen die vorhandenen Kapazitäten an Klinischer Psychologie nicht aus, während vorhandene Kapazitäten an nicht-klinischer Psychologie jedenfalls für den Psychotherapiestudiengang nicht mehr gebraucht werden. Kann man die Kapazitäten erhalten für psychologische Lehre und Forschung außerhalb der Psychotherapie?

Die Präsidenten der Deutsche Gesellschaft für Psychologie und des Berufsverbandes deutscher Psychologinnen und Psychologen unterzeichneten noch 2015 eine Erklärung, nach der die Reform der Therapieausbildung nicht auf Kosten nicht-klinischer Fächer erfolgen dürfe. Das war eine klare Forderung nach zusätzlichen Mitteln. Der Gesundheitsminister selbst errechnete einen erhöhten Bedarf für die neue Ausbildung und Prüfung. Doch schon bei der Beratung im Bundesrat gaben die für die Finanzierung der Hochschulen zuständigen Länder zu Protokoll, sie seien an der Vorbereitung der Reform nur unzureichend beteiligt gewesen und hätten dafür keine Mittel vorgesehen. Das bedeutet: Auf absehbare Zeit müssen die Hochschulen die Reform aus ihren bestehenden Haushalten finanzieren. Werden sie dafür nicht in erster Linie Mittel aus dem Bereich der Psychologie selbst umwidmen?

Die Präsidien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie haben bei der Reform der Psychotherapieausbildung einen besonderen Eifer an den Tag gelegt. Ihre Strategie war, den Schwerpunkt der klinischen Ausbildung in den Masterstudiengang zu legen und die nicht-klinische Psychologie im Bachelorstudium so zu stärken, dass deren Kapazitäten voll erhalten blieben. Dazu sollte vor allem der Freiraum genutzt werden, den Gesetz und Verordnung den Hochschulen bei ihrer Studienordnung ließ. Das Bachelorstudium sollte dadurch „polyvalent“ werden, d.h. eine Fortsetzung in Masterstudien mit anderen als klinischen Schwerpunkten zulassen. Der Begriff „polyvalent“ wurde tatsächlich in das Reformgesetz aufgenommen. Doch die weiteren Regeln machen es sehr schwer, eine Polyvalenz in dem genannten Sinne zu verwirklichen. Denn der für polyvalente Psychologie verfügbare Freiraum ist im Laufe der Beratungen immer kleiner geworden. Erstens wurden die festgesetzten Pflichtanteile als Mindestwerte deklariert; es ist damit zu rechnen, dass diese in den örtlichen Studienordnungen überschritten werden und die zur freien Verfügung verbleibende Stundenzahl schrumpft. Zweitens ist Psychologie eindeutig als Bezugswissenschaft der Psychotherapie definiert und steht in Konkurrenz mit anderen als Bezugswissenschaft in Frage kommenden Disziplinen. Und drittens ist deutlich gemacht, dass Psychologie das Studienangebot nicht dominieren darf und überhaupt nur insoweit zu lehren ist, als eine Relevanz für die Psychotherapie besteht. Man muss fragen: Für welche Psychotherapie? Ist es die in den Klassifikationssystemen der Krankenkassen und in den Manualen der Richtlinienverfahren definierte? Dann muss sich psychologische Lehre tatsächlich – wie schon so oft in der Vergangenheit – die Kritik gefallen lassen, sie sei für die Praxis nicht relevant! Dann ist nur wissenschaftlich legitimierte und nur in anderen Anwendungsfeldern bewährte Psychologie Ballast, den Reformer zu Recht abzuwerfen trachten!

Spätestens bei der Studienplanung wird man sehen: Das Konzept der Polyvalenz ist gescheitert. Und wenn Hochschulen an dem Konzept festhalten, so ist das Formsache und wird der Psychologie in ihrer bisherigen Fächervielfalt nicht helfen, ihre Bestände zu erhalten. Wie konnten die Deutsche Gesellschaft für Psychologie am Reformprozess mitwirken, ohne für den Fall einer ernsthaften Gefährdung zahlreicher Fachgruppen ihre Unterstützung zu versagen? Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als die überwiegende Mehrheit ihrer Mitglieder gefährdeten Fachgruppen angehört. Über Erklärungen wird man wohl diskutieren, wenn in den nächsten Monaten die Folgen der laufenden Reform erkennbar werden. Doch Erklärungsansätze seien schon heute genannt: Motor der Reformen waren Therapeutenverbände, insbesondere die Bundespsychotherapeutenkammer, die alle in Deutschland tätigen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vertritt – es sind 52.000. Seit dem 16. Psychotherapeutentag im Jahre 2010 hat die Bundespsychotherapeutenkammer das Prinzip der einheitlichen und multidisziplinären Ausbildung vertreten. Beim Bundesgesundheitsministerium fand das offenen Ohren, weil es in das Schema der heilkundlichen Berufe passte. Innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Psychologie suchte die Fachgruppe „Klinische Psychologie“ oder zumindest die in einer Kommission „Psychologie und Psychotherapie“ vertretenen Mitglieder der Fachgruppe den Schulterschluss mit der Bundespsychotherapeutenkammer. Allerdings war man mit einem klinischen Schwerpunkt im Masterstudiengang zufrieden; ein Wachstum an Personal und eine Vergrößerung von Hochschulambulanzen hätte auch eine vergleichsweise kleine Reform eingebracht.

Als sich eine Reform abzeichnete, welche die Psychologie in ihrer Breite zu dezimieren droht, hat der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychologie keinen Widerspruch eingelegt. Das mag daran liegen, dass in der Gesellschaft selbst eine Gruppierung Einfluss gewonnen hatte, für die ein Direktstudium der Psychotherapie die höchste Priorität hatte: der Fakultätentag Psychologie. Der Fakultätentag ist eine Versammlung von Vertretern psychologischer Studieneinrichtungen – offenbar nach dem Vorbild des Psychotherapeutentages und des Medizinischen Fakultätentages. Der Fakultätentag ist – wohl auf Initiative Klinischer Psychologen – im Jahre 2016, in der Endphase der Reformdiskussion, gegründet worden. Als Institutionenvertretung bildet er – eine ungewöhnliche Konstruktion – eine Fachgruppe innerhalb der Gesellschaft, und ihr Vorsitzender ist im Reformjahr zusammen mit der Präsidentin der Gesellschaft als Doppelspitze aufgetreten. Zusammen haben sie das Reformgesetz und die Approbationsordnung öffentlich begrüßt.

Das Jahr 2020 könnte also zu einem Schicksalsjahr für die Psychologie in Deutschland werden. Wird Psychologie als Wissenschaft und Beruf bleiben, was sie geworden ist – frei und reich an Perspektiven? Oder wird sie zur alten Dame am Hof einer aufstrebenden Psychotherapie? Oder wird sie zum gesunkenen Luxusliner, aus dessen Rumpf findige Taucher immer wieder wertvolle Stücke bergen?

Wolfgang Schönpflug

  • Geboren 1936 in Berlin. Studium der Psychologie, Physiologie, Betriebswirtschaftslehre an der University of Kansas, Lawrence, Kansas (USA) und Frankfurt am Main.
  • Wissenschaftlicher Assistent an den Universitäten Frankfurt a. M. (Prof. Rausch) und Bochum (Prof. Heckhausen). 1967 Dozent, 1969 Wissenschaftlicher Rat und Professor an der Universität Bochum. Seit 1974 Professor für Psychologie (Schwerpunkt Allgemeine Psychologie) an der Freien Universität Berlin (seit 2003 emeritiert).
  • Mitwirkung in örtlichen und überregionalen Studienreformkommissionen. Erster Vorsitzender der Sektion Ausbildung (jetzt: Aus-, Fort- und Weiterbildung) des Berufsverbands deutscher Psychologen (jetzt: Psychologinnen und Psychologen). 2016 Goldene Ehrennadel des Berufsverbandes deutscher Psychologinnen und Psychologen.

Literaturhinweise:

  • Schönpflug, W. (2006). Einführung in die Psychologie. Weinheim: BeltzPVU (2012 Lizenzausgabe Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
  • Schönpflug, W. (2013). Geschichte und Systematik der Psychologie. Weinheim: Beltz (dritte, neu bearbeitete Auflage).
  • Schönpflug, W. (2016). Psychologie – historisch betrachtet. Wiesbaden: Springer.

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Warum neigen Menschen zur Prokrastination?

Wie kommen wir bei unliebsamen Aufgaben ins Handeln? Was wir tun können, ist uns für die Erledigung zu belohnen, uns die positiven Konsequenzen vor Augen zu halten, die damit verbunden sind, oder uns etwaige Folgen bewusst zu machen, die uns erwarten, sollten wir untätig bleiben. Bei umfangreicheren Aufgaben empfiehlt es sich, diese in kleine Häppchen zu zergliedern, um sie daraufhin peu à peu abzuarbeiten. Hilfreich soll auch die 10-Minuten-Regel sein, bei der man sich einen Wecker stellt, um nach zehn Minuten des Tuns zu entscheiden, ob man weitermachen möchte oder aufgrund einer verbleibenden Lustlosigkeit zunächst wieder damit aufhört, um in naher Zukunft einen erneuten Anlauf zu starten. Hat man sich erst einmal überwunden und angefangen, ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass man dann auch am Ball bleibt und die Sache abschließt. Ein vernünftiges Zeitmanagement mit SMARTen Zielen, eine ablenkungsfreie Arbeitsumgebung und ein wenig Selbstdisziplin dürften dann wohl genügen, um das unerfreuliche Vorhaben anzugehen und alles, was damit zusammenhängt, kurz darauf erledigt zu haben, oder? Nun, obwohl es so funktionieren kann, scheint es das nicht immer zu tun.

Bild: Manfred Evertz

Wenn aus einer harmlosen Aufschieberitis ein ernsthaftes Problem wird, sind die meisten Tipps, die gängigerweise gegeben werden, oft nur wenig hilfreich. Auf die Frage, warum das so ist, liefert die PSI-Theorie (“Eine neue  Persönlichkeitstheorie”, pdf-Dokument) von Prof. Dr. Julius Kuhl schlüssige Antworten (PSI-Impuls 2).

Um Vorhaben umzusetzen bzw. um ihren Transfer vom Intentionsgedächtnis in das intuitive Verhaltenssteuerungssystem zu ermöglichen, braucht es die Willensbahnung, d.h. einen selbst- oder fremdgenerierten positiven Affekt. Es geht also vor allem um die Förderung der Fähigkeit, sich selbst zu motivieren. Bereitet das Schwierigkeiten, besteht der optimale Lösungsweg nicht immer darin, sich unliebsame Aufgaben schönzureden oder einen (neuen) Blickwinkel einzunehmen, der es ermöglicht, deren Erledigung positiv zu bewerten. Hilfreich ist es hingegen, nach den Ursachen des problematischen Verhaltens zu fragen und sich die Bedingungen genauer anzuschauen, unter denen es gezeigt wird. Die Neigung zur Prokrastination kann nämlich ganz unterschiedliche Gründe haben, von denen in diesem Artikel fünf besprochen werden: Lustfixierung, Unlustfixierung, Vermeidungsmotivation, Bequemlichkeit und Reaktanz (Trotz gegenüber Fremdbestimmung).

Bildet man eine Absicht, d. h. „lädt“ man sie ins Intentionsgedächtnis, wird zugleich auch eine Ausführungshemmung aufgebaut. Diese Hemmung hat die Funktion, den Organismus dazu zu befähigen, auf den richtigen Ausführungszeitpunkt zu warten, statt vorschnell zu handeln, da das ja nicht immer sinnvoll oder möglich ist.

Gegensatz: Lust vs. Unlust (Lust-Unlust-Paradox)

Das Umsetzen von Vorsätzen wird durch die Interaktion des Intentionsgedächtnisses (Arbeitsgedächtnis) mit der intuitiven Verhaltenssteuerung vermittelt. Diese Interaktion ist wiederum von dem Wechsel zwischen dem Aushalten von „Unlust“ (d. h. Dämpfung von positivem Affekt) und „Lust“ (zum Handeln) abhängig. Unlust braucht man, um einen unangenehmen Vorsatz zu bilden und aufrechterhalten zu können, Lust braucht man, um ihn in die Tat umzusetzen.

→ Ursache 1: Lustfixierung

Beschreibung: Der Lusttypus hat Schwierigkeiten mit Schwierigkeiten. Ohne Unlust oder „Frustrationstoleranz“ kann man nämlich nur Dinge tun, die Spaß machen.

Diagnostik: Erkennen lässt sich dieser Typus daran, dass der Proband dann, wenn er bei einer schwierigen „Willensaufgabe“ (Emoscan©) an positive Erlebnisse im Leistungsbereich erinnert wird, nicht den üblichen Willensbahnungseffekt (d. h. verkürzte Reaktionszeiten) zeigt, sondern einen Willenshemmungseffekt. Eine besonders lukrative Variante dieses Typs ist der Manager, der für das Delegieren schwieriger oder unangenehmer Aufgaben sogar gut bezahlt wird.

Intervention: Hilfreich ist es, zwischen dem Fokussieren auf angenehme Zielvorstellungen („Wie fühle ich mich, wenn ich den Vorsatz erfolgreich ausgeführt habe?“) und der Imagination der nächsten schwierigen oder unangenehmen Schritte, die auf dem Weg zum Ziel zu gehen sind (vgl. die Kontrastierungsmethode von Prof. Gabriele Oettingen), zu pendeln. Hier kommt es vor allem darauf an, Frustrationstoleranz, z. B. das Aushalten von auftretenden Schwierigkeiten, zu üben.

  • Frustrationstoleranz stärken: https://karrierebibel.de/frustrationstoleranz/
  • Kontrastierungsmethode: Im wissenschaftlichen Kontext wird diese Methode “Mentales Kontrastieren mit Implementierungs-Intentionen” (MCII) genannt. Das Kürzel “WOOP” ist jedoch etwas griffiger. Dabei steht das „W“ für Wish (Wunsch), ein „O“ für Outcome (Ergebnis, positive Folge), das andere „O“ für Obstacle (Hindernis) und das „P“ für den Plan bzw. für “Wenn-Dann-Pläne” (nach Peter Gollwitzer).

 

→ Ursache 2: Unlustfixierung

Beschreibung: Menschen dieses Typs waren in ihrer Kindheit vermutlich einem strengen Erziehungsklima ausgesetzt. Man erkennt sie daran, dass sie zwar wunderbar Absichten bilden und auch davon erzählen, sie aber nicht gut umsetzen können, zumindest nicht über die vorteilhafte Variante, die durch den verhaltensbahnenden positiven Affekt vermittelt wird.

Diagnostik: Erkennen können wir den Unlust-Typus an einem niedrigen Testwert für prospektive (d. h. auf auszuführende Absichten bezogene) Handlungsorientierung, was einer hohen prospektiven Lageorientierung gleichkommt: Lageorientierte zeigen einen Willenshemmungseffekt, wenn sie an Situationen erinnert werden, in denen es um Leistung oder Macht geht (d. h. in wirkungs- oder zweckorientierten Motivationslagen).

Intervention: Die Kontrastierungsmethode (s. o.) ist hier ebenfalls hilfreich. Dabei kommt es jetzt aber vor allem darauf an, den selbstständigen Wechsel in den positiven Affekt zu üben, z. B. durch positive Zielimaginationen, Ermutigung bei auftretenden Schwierigkeiten und Motivationsverlust, das Aktivieren des Selbstzugangs (z.B. durch Aktivieren der rechten Hemisphäre wie es das Team um Prof. Nicola Baumann aufgezeigt hat) oder durch Motto-Ziele (vgl. das ZRM©).

  • Aktivieren des Selbstzugangs: Solange es gelingt, Stress und negative Emotionen selbstkonfrontativ und handlungsorientiert zu bewältigen, bleibt der Selbstkontakt (auch ohne Maßnahmen zur Aktivierung der rechten Hemisphäre) intakt. Ein versperrter Selbstzugang geht mit einer Unteraktivierung des rechten Vorderhirns einher. Falsche Selbstzuschreibungen fremder Einflüsse auf das eigene Verhalten durch das bewusste Ich führen häufig zum (wenig hilfreichen) Grübeln über die Ursachen einer negativen Stimmung. Die rechte Hirnhemisphäre lässt sich allerdings recht einfach aktivieren, bspw. durch das dreiminütige Drücken eines Softballs mit der linken Hand.

 

Stress und negativer Affekt hemmt den Zugang zum Extensionsgedächtnis und zum integrierten Selbst, das dabei hilft, sehr viele Erfahrungen und Wissenbestände miteinander zu verbinden. Wenn es gelingt, den negativen Affekt zu dämpfen, wird dieser Zugang ermöglicht.

Gegensatz: Vermeidung vs. Bequemlichkeit (Sonderfall: Reaktanz)

→ Ursache 3: Vermeidungsmotivation

Beschreibung: Der Vermeidungstyp führt unangenehme Vorsätze besonders dann aus, wenn er ein Angst besetztes Ereignis vermeiden kann (natürlich kann er gleichzeitig auch ein Unlust- oder Lusttypus sein). Ängstliche Menschen können aus dieser Motivationsquelle (= Vermeidung unangenehmer Konsequenzen) viel Handlungsenergie beziehen. Der Nachteil dieser Variante: Im Unterschied zur Selbstmotivierung durch positiven Affekt, hemmt der mit der Angst und anderen negativen Affekten verbundene Stress ausgerechnet die höheren Funktionen, die helfen Verbindungen zwischen verschiedenen Wissens- und Erfahrungsbeständen herzustellen.

Diagnostik: Schüler und Studierende, die allzu einseitig unter solchen Bedingungen lernen, erkennt man daran, dass sie zwar auswendig Gelerntes wiedergeben können, aber Schwierigkeiten haben, verschiedene Fakten mit einander oder mit passenden Beispielen zu verbinden.

Intervention: Hier sollte das Aufspüren und Bewältigen willenslähmender Ängste im Vordergrund stehen. Derlei Ängste können nämlich nicht nur den Zugang zur Selbstwahrnehmung lähmen, sondern auch den Zugriff auf die für das Handeln erforderliche Energie beeinträchtigen.

  • Die Befürchtung, etwas falsch zu machen, kann dazu führen, dass die Betroffenen gar nichts tun. Im schlimmsten Fall führt dies zu der negativistischen Überzeugung, dass andere Menschen mit mehr “Talenten” ausgestattet sind und man selbst immer nur benachteiligt wird. “Dann sieht man das Leben vielleicht als Konkurrenzkampf […], und man versteckt seine eigenen Ressourcen, um sie zu schützen, und merkt gar nicht, dass man gerade dadurch selbst dazu beiträgt, dass sie sich nicht enfalten können. […] Nur die beschönigungsfreie Konfrontation mit der Mutlosigkeit und dem Schmerz über die “ungerechte Welt” […] bietet die Chance, irgendwann vielleicht einmal aus diesem Lamento herauszukommen.” (Quelle: “Spirituelle Intelligenz”)

→ Ursache 4: Bequemlichkeit

Beschreibung: Nicht Ängstlichkeit, sondern Gelassenheit ist seine typische Stimmungslage. Die hohe Gelassenheit kann dazu führen, dass der Bequemlichkeitstypus gerade dann, wenn Druck entsteht, in eine gelassene Stimmung geht, womit der allerdings nicht nur den Druck reduziert, sondern auch die Energie Vorsätze umzusetzen. Die gelassene Stimmung kann dazu führen, dass das Aufschieben ganz positiv, vielleicht sogar als besondere Fähigkeit gesehen wird (man „schont die eigenen Kräfte“, lässt sich nicht drängen etc.). Man könnte also auch vom „fröhlichen Aufschieber“ (happy procrastinator) sprechen. Der Bequemlichkeitstyp hadert nicht mit seinem Aufschieben, sondern findet gute Gründe dafür und macht eher andere als sich selbst dafür verantwortlich (Selbstkritik erfordert ja eine gewisse Schmerztoleranz).

Diagnostik: Indirekte Methoden zur Messung der unbewussten Gelassenheit (Osnabrücker Persönlichkeitsdiagnostik (EOS und Emoscan©)

Intervention: Hier sollte das Fokussieren und Aushalten von negativen Gefühlen (eigener wie fremder) im Vordergrund stehen.

→ Ursache 5: Reaktanz

Die Reaktanztheorie “erklärt die Reaktionen von Personen, deren Handlungs- bzw. Entscheidungsfreiheit bedroht ist. Reaktanz ist eine motivationale Erregung mit dem Ziel, die bedrohte Freiheit wiederherzustellen. Freiheit impliziert, zwischen Alternativen wählen oder eine Handlung ausführen zu können. Diese Freiheit ist bedroht, wenn die Ausübung der Handlung schwieriger bis unmöglich geworden ist. Die Stärke der Reaktanz steigt mit der Wichtigkeit der eingeengten Freiheit, dem Umfang des (subjektiven) Freiheitsverlustes und der Stärke der Einengung. Die motivationale Erregung wird abgebaut durch (1) direkte Wiederherstellung der Freiheit (zu tun, was verboten, oder zu lassen, was geboten wurde; (2) indirekte Wiederherstellung der Freiheit (z. B. ein anderes, aber vergleichbares Verhalten ausüben oder aber in einer anderen Situation das bedrohte Verhalten zeigen); (3) Aggression (die einengende Instanz kann attackiert werden, damit die Freiheitseinengung aufgehoben wird) und (4) Attraktivitätsveränderungen (die verbotene Alternative wird attraktiver, die gebotene weniger attraktiv).” (vgl. DORSCH, Lexikon der Psychologie: https://portal.hogrefe.com/dorsch/reaktanz-reaktanztheorie/)

Beschreibung: Der Reaktanztypus schiebt unangenehme Vorsätze besonders dann auf, wenn er sich fremdbestimmt fühlt (da das oft mit dem Gefühl einhergeht, unter Druck zu geraten, gibt es hier Berührungspunkte mit dem Bequemlichkeitstypus). Beim Reaktanztyp kann die bewusste oder unbewusste Vorstellung, von anderen kontrolliert zu werden, sogar dann auftreten, wenn er selbst einen Vorsatz fasst. Dieses Phänomen könnte daher rühren, dass in der Lerngeschichte einer solchen Person (also z.B. in der Kindheit) unangenehme Vorsätze meist von anderen Personen aufgezwungen wurden (z.B. Eltern oder Lehrern), sodass jeder Gedanke an einen unerledigten Vorsatz schon mit der Vorstellung von Fremdbestimmung verknüpft ist. Das ist natürlich besonders schmerzhaft für Menschen, die ein starkes Bedürfnis nach Autonomie (freies, ungehindertes Selbstsein) entwickelt haben (z. B. wenn dieses Bedürfnis in der Kindheit oft verletzt wurde). Wir haben in unserer Forschung beobachtet, dass der Reaktanztyp leicht in eine ärgerliche Stimmung geraten kann, besonders natürlich dann, wenn er sich fremdbestimmt fühlt.

Diagnostik: Diese Stimmung wird aber meist nicht bewusst erlebt (vielleicht deshalb, weil dieser Typus zumindest im bewussten Erleben auf Gelassenheit festgelegt ist) und ist deshalb nur (bzw. vornehmlich) durch indirekte Messmethoden erkennbar.

Intervention: Hier geht es insbesondere darum, früh erlebte und aktuell relevante Quellen von Fremdkontrolle aufzuspüren und Autonomie fördernde Ermutigung zum „freien Selbstsein“ anzubieten. Menschen, die an der Reaktanzvariante der Prokrastination leiden, werden Fortschritte machen, wenn sie lernen, eigene von fremden Erwartungen und Wünschen zu unterscheiden, fremde Erwartungen so umzugestalten, dass sie selbstkompatibel sind bzw. abzulehnen, wenn eine solche Umgestaltung nicht möglich ist.

  • Wer erwartet was von Ihnen? Übung: www.ryschka.de/arbeitsblatt-rollenklaerung.pdf
  • Bei der Symptomverschreibung wird das als problematisch verstandene Verhalten (z. B. die Prokrastination) bewusst gefördert, um eine Veränderung zu bewirken. So kann z. B. die folgende Anweisung gegeben werden: “Bis zu unserer Sitzung untersagen Sie es sich bitte, jedweden Tätigkeiten nachzugehen, die mit dieser Aufgabe in Verbindung stehen.” Das eigentliche Problem – nämlich der Gedanke, fremdbestimmt etwas tun zu müssen – löst sich dadurch eventuell auf.

Ergänzende Hilfestellungen: Auf karrierebibel.de (hier) und typentest.de (hier) finden Sie zahlreiche Tipps zum Thema.

PS: Bei dem kursiv markierten Text handelt es sich um Passagen aus einem PSI-Impuls, der von mir mit einigen Erläuterungen und praktischen Hilfestellungen angereichert wurde.

Professor Dr. Julius Kuhl (geb. 27.07.1947) vertrat von 1986 bis 2015 den Lehrstuhl für Differentielle Psychologie und Persönlichkeits­forschung an der Universität Osnabrück und war 2008-2016 Leiter der psychologischen Abteilung der Forschungsstelle Begabungsförderung im Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe). Webseite: www.psi-theorie.com/.

Quellen:

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“Positive Aggression – Wer sie hat, ist klar im Vorteil” von Prof. Dr. Jens Weidner

Ein unbewusster Umgang mit den eigenen Aggressionen kann schaden – und zwar auf der ganzen Linie: Sowohl die Karriere als auch die Psyche können durch den falschen Einsatz der aggressiven Energien zerstört werden. Die Gesundheit wird nachhaltig schwer geschädigt, Unternehmen drohen Millionenschäden.

  • Wer nur kollegial, nett und teamorientiert ist, ist ein toller Mensch, aber ungeeignet fürs Management.
  • Wer sein eigenes aggressives Potential nicht reflektiert, beschneidet sich selbst.
  • Positiv Aggressive kämpfen engagiert für ihre Interessen und haben auch den Mumm, sie durchzusetzen.

Darum plädiert der Autor dieses Beitrages wie auch der renommierte Psychologe Fritz Riemann für die positive Aggression. Neben den strategischen Vorteilen im Beruf hilft der unverkrampfte, aber bewusste Umgang mit den eigenen aggressiven Anteilen außerdem, die eigenen Ängste besser in den Griff zu bekommen. Die gesunde und gekonnte Aggression, so Riemann in seinem Klassiker Grundformen der Angst, ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Selbstwertgefühls, des Gefühls für die Würde unserer Persönlichkeit und für einen gesunden Stolz!

Fakt ist: Wer seine positive Aggression nicht annehmen mag, wird größte Schwierigkeiten haben, sich in der Wettbewerbsgesellschaft zu positionieren. Wer hier den Kopf aus dem Fenster hält, muss den Gegenwind ertragen können – und dazu braucht man Biss. Positive Aggression ist – bei aller Rücksichtnahme und Teamgeist – der Schlüssel zum Erfolg. Die eigene Power aktivieren und ausleben, um Gutes zu tun: Gibt es etwas Schöneres und Konstruktiveres?

Ihr Einsatz, um das zu erreichen, ist Ihr Engagement gegen den Verlust der natürlichen Aggression, denn die positive Aggression ist das Kraftwerk in Ihnen, das Ihnen erst Mut macht, sich gegen Widerstände durchzusetzen!

www.manfred-evertz-art.com

Power freisetzen

Wer hier mehr Power freisetzen möchte, muss sein Verhalten ändern, muss auch gegen Kräfte in seinem Inneren (Moralvorstellungen, alte Erziehungsgrundsätze, gesellschaftliche Erwartungen) angehen. Doch es lohnt sich – und es dient einem guten Zweck, denn die konstruktiv-strategische Aggression dient nicht der Zerstörung, sondern der Erhaltung, genauer: der Erhaltung dessen, was man selbst für wichtig erachtet. Die Grundlage ist dabei ein vernünftiges Kalkül: Was nützt gleichzeitig mir und dem Unternehmen. Der Zweck heiligt hier nicht die Mittel. Die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Strategien muss stimmen, und das Gemeinwohl bleibt bedeutend. Dass sich mit diesem Selbstverständnis sogar werben lässt, demonstriert der schillernde Trigema-Chef Wolfgang Grupp: »Ich stehe für jeden Arbeitsplatz gerade, Shareholder Value ist unmenschlich. Wie kann sich einer als erfolgreicher Manager feiern lassen, weil er die Aktienkurse in die Höhe treibt, aber gleichzeitig rücksichtslos die Menschen auf die Straße setzt?«

Moralische Prinzipien

Gerade diese moralischen Prinzipien, so die kognitionspsychologischen Ausführungen der Managementautorin Hedwig Kellner, machen den zentralen Unterschied zwischen positiver Aggression und Boshaftigkeit aus und an denen sollten auch Sie sich orientieren:

  • Positiv aggressive Menschen kämpfen hart für ihre Interessen, aber sie streben keine Vernichtung Dritter an.
  • Sie demütigen nicht unterlegene Gegner.
  • Sie zollen ihnen Respekt.
  • Sie vergessen nicht, wer ihnen in schweren Zeiten geholfen hat.
  • Sie achten Fairness, Mitgefühl, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Seriosität.
  • Sie setzen sich gegen Unverschämtheiten und Erniedrigungen zur Wehr.
  • Sie legen Zivilcourage an den Tag, wenn es dem Unternehmen und den Mitarbeitern dient.

Positive Aggression ist also nicht für einen tumben Ellenbogen-Karrierismus geeignet. Positive Aggression ist der konstruktive Schlüssel zur Power, die wir brauchen, um dauerhaft erfolgreich zu sein!

Prof. Dr. Jens Weidner lehrt Kriminologie und Sozialisationstheorie an der Fakultät für Wirtschaft und Soziales der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Kontakt: https://prof-jens-weidner.de/

PS: Dieser Artikel wurde am 18.02.2020 bei XING veröffentlicht.

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Im Angesicht der Krise

Wie sollte man sich verhalten, wenn Klienten am Ende eines Gesprächs in einem emotionalen Ausnahmezustand sind, starke Belastungsreaktionen zeigen oder sogar Suizidgedanken äußern? Da mir diese Frage in Seminaren regelmäßig gestellt wird, möchte ich im Folgenden einmal in aller Kürze versuchen, sie zu beantworten:

“Schmerz und Freude liegt in einer Schale; ihre Mischung ist der Menschen Los.”  Johann Gottfried Seume

Zunächst einmal etwas ganz Grundsätzliches: Im Rahmen einer Therapie oder eines Coachings beschäftigen sich Menschen in einer intensiven Weise mit ihrem eigenen Erleben und Verhalten, wobei es mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Steigerung ihrer Selbstaufmerksamkeit kommt. Die Theorie der objektiven Aufmerksamkeit besagt, dass sich die Aufmerksamkeit eines Individuums auf externe Ereignisse oder auf die eigene Person richten kann. Im Zustand der objektiven Selbstaufmerksamkeit achtet das Individuum auf eigenes Verhalten sowie auf eigene Stimmungen und entsprechende Standards. Die wahrgenommene Diskrepanz führt zu dem Bedürfnis, diese zu reduzieren („Diskrepanzreduktion“). Das kann zu Verhaltensänderungen motivieren oder eine Defensivreaktion (Leugnen etc.) auslösen. Bestehende oder vermeintliche Ist-Soll-Diskrepanzen werden dabei verstärkt erlebt, aktuelle Emotionen intensiviert und die eigenen Normen für das Handeln wirken eventuell stärker. Auch das trägt dazu bei, dass es im Verlauf eines Coachings oder eines therapeutischen Prozesses immer mal wieder zu einer temporären Verschlechterung der Befindlichkeit kommen kann. Hinzu kommt, dass (nicht nur) im Rahmen einer Therapie zwischen sogenannten Verstehens- und Bewältigungspunkten unterschieden wird, wie die Abbildung (siehe unten) aufzeigt. Es ist demzufolge also durchaus möglich, dass sich Klienten am Ende eines Gesprächs in einer akuten Krise befinden.

Abbildung: Prof. Dr. Dirk Zimmer, Universität Tübingen: Gesprächsführung in der Verhaltenstherapie (Vorlesung)

Tipps zur Gesprächsführung

Was kann man also tun, um die Risiken für Klienten möglichst kleinzuhalten, wenn es um besonders problematische bzw. hoch emotionale Themen geht?

  • Im Rahmen einer Therapie oder eines Coachings ist es meist unerlässlich, „negative“ Gefühle sowie problembehaftete Facetten des individuellen Erlebens und Verhaltens zu explorieren. Davor sollte man sich keineswegs scheuen. Ein reflexartiges Ausweichen kann – ebenso wie eine unbeholfene Herangehensweise – u. a. dazu führen, dass dysfunktionale Abwehr- bzw. Vermeidungsstrategien der Klienten verstärkt werden, was eine Problemlösung eventuell erschwert oder schlimmstenfalls sogar verhindert. Eigene Ängste, die in einem solchen Zusammenhang spürbar werden, sollten also unbedingt hinterfragt und bearbeitet werden, damit sie den therapeutischen Prozess nicht behindern.
  • Fragen zu stellen bedeutet immer, die Aufmerksamkeit eines Gegenübers in eine entsprechende Richtung zu lenken. Auch die Dauer und die Intensität etwaiger Emotionen lassen sich dadurch beeinflussen.
  • Da die zur Verfügung stehende Gesprächszeit meist sehr begrenzt ist, sollte man darauf achten, das (vermeintlich) Schlimmste möglichst früh in einer Sitzung zu besprechen. Dann wäre anschließend nämlich noch hinreichend Zeit, die im Falle eines Falles zur Stabilisierung genutzt werden kann. D. h. im Umkehrschluss, dass man in heikle oder hoch emotionale Themen nicht erst gegen Ende einer Sitzung einsteigen sollte. Nutzen Sie dafür ggf. besser den nächsten Termin.

“Säge nicht den Ast ab, auf dem der Klient sitzt, bevor Du ihm geholfen hast, eine Leiter zu bauen!” Frederick Kanfer

Manfred Evertz / www.manfred-evertz-art.com

Wie beendet man eine Krisensitzung möglichst behutsam?

Auch wenn man die oben erwähnten Ratschläge gewissenhaft befolgt, kann es geschehen, dass Klienten am Ende eines Gesprächs sichtbar niedergeschlagen, todtraurig und ohne Hoffnung oder extrem aufgewühlt sind. Das Sprechen über problematische Themen kann sehr belastend sein, im schlimmsten Fall sogar eine Retraumatisierung zur Folge haben. Manchmal suchen Klienten das Gespräch, weil sie sich bereits in einer Krise befinden. Was kann man dann tun? Hier sind einige Anregungen, die – wie ich finde – ganz nützlich sind:

  • Zunächst einmal sollte man m. E. Mitgefühl haben und es auch zum Ausdruck bringen! Dabei halte ich es allerdings für wichtig, zugleich – in angemessener Weise – Zuversicht auszustrahlen, und nicht im Mitleid zu versinken.
  • Sprechen Sie Ihre Anerkennung für das in diesem Gespräch Erreichte aus. Loben Sie Ihre Klienten dafür, heute einen ganz wichtigen Schritt gemacht zu haben!
  • Hilfreich können auch sogenante Distanzierungstechniken sein. Ein Beispiel dafür ist die Tresor Technik: „Stellen Sie sich bitte einen Tresor vor, in dem wir all die wichtigen Themen ablegen und sicher aufbewahren, über die wir heute gesprochen haben. Die Inhalte werden wir am kommenden Termin dort herausholen, so dass nichts verloren geht. So brauchen Sie sich bis zu unserem nächsten Gespräch nicht weiter damit zu belasten, sondern können dann wieder gemeinsam mit mir daran arbeiten.“. Fertigen Sie ggf. eine Liste mit den wesentlichen Themen an und holen Sie diese in der folgenden Sitzung wieder hervor.
  • Sinnvoll ist es auch, die Aufmerksamkeit der Klienten auf jene Fortschritte zu richten, die die Therapie bereits macht, also auf das schon Erreichte, das Positive des heutigen Ereignisses sowie auf individuelle Ressourcen, die dazu beigetragen haben, dass es bis jetzt irgendwie gelungen ist, mit den Geschehnissen umgzugehen. Das hat den Zweck, die Aufmerksamkeit vom Schmerzvollen wegzulenken (“Umfokussierung”).
  • Ggf. kann man eine Entspannungstechnik zur Beruhigung einsetzen. Hier finden Sie einige Links zu angeleiteten Entspannungsübungen, die die Techniker Krankenkasse auf ihrer Webseite zum kostenlosen Download im mp3-Format anbietet.
  • Erarbeiten Sie gemeinsam mit Ihren Klienten einen Notfall-Plan: „Was werden Sie tun, wenn es Ihnen im Laufe der nächsten Zeit schlechter geht? Wer oder was kann Ihnen dann helfen? Wie kommen Sie über die nächste Woche?“
  • Treffen Sie verbindliche Vereinbarungen (vgl. Suizid-Vertrag)! Diese können Sie schriftlich festhalten und Ihren Klienten mitgeben, damit sie im Falle eines Falles nicht in Vergessenheit geraten.
  • Lassen Sie Ihre Klienten nicht gehen, solange Sie sich unsicher sind, ob Sie das verantworten können. Sprechen Sie mit ihnen darüber, was sie nach der Sitzung tun werden bzw. zu wem sie gehen. Organisieren Sie ggf. ein Treffen.
  • Zum Abschlus eines solchen Gesprächs ist es ratsam, einen weiteren Termin abzustimmen und die getroffenen Vereinbarungen in einer klaren und möglichst einfachen Sprache zu wiederholen. Ich bitte meine Klienten dann nochmals um Zustimmung, um die Verbindlichkeit der Abmachung zu unterstreichen: “Sind Sie damit einverstanden?”
  • Bieten Sie ggf. einen Notfall-Termin an, der auch kurzfristig vereinbart werden kann.

“Haben Sie schon mal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen?”

Unter Suizidalität versteht man sämtliche Gedanken und Handlungen, bei denen es darum geht, den eigenen Tod anzustreben bzw. diesen als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf zu nehmen. Dazu gehören suizidale Gedanken, Suizidideen und -absichten, Suizidankündigungen, Suizidversuche und Suizide.

Zum diesem Thema gibt es zahlreiche Informationen im Internet. Kennen Sie zum Beispiel den Unterschied zwischen einem “erweiterten” und einem “gemeinsamen” Suizid? Was ist ein “harter” und was ist ein “weicher” Suizid? Welche Risikofaktoren und Frühwarnzeichen gibt es? Sollte man Menschen darauf ansprechen und nach Suizidgedanken oder -absichten fragen? Falls ja, wie sollte man das tun?

“Über 100.000 Menschen versuchen sich jedes Jahr in Deutschland das Leben zu nehmen. Was für Anzeichen gibt es und wie geht man mit latenter und akuter Suizidgefahr um?” In diesem Online-Seminar aus dem Jahr 2012 finden Sie die wesentlichen Informationen, die für die Heilpraktiker-Prüfung benötigt werden.

Ein paar Tipps möchte ich noch ergänzen:

  • Sprechen Sie über Suizidgedanken! Wie genau äußern sie sich? Wie häufig treten sie auf? Wie lange schon? Wie stark? Erstmalig? Falls nein, wie haben sie sich zeitlich entwickelt? Werden mir Suizidgedanken anvertraut, versuche ich währenddessen beiläufig herauszufinden, was denjenigen oder diejenige dazu bewogen hat, mir diese anzuvertrauen? GIbt es einen Appell? Wie lautet er? Nach einer genaueren Betrachtung der Gedanken, thematisiere ich das manchmal.
  • Jene Verantwortung, die ich für mich selbst übernehme und als Psychologe für meine Klienten habe, bringe ich dann zur Sprache, wenn mir von konkreten Suizidabsichten berichtet wird: „Sie wissen schon, dass ich Sie jetzt nicht einfach so gehen lassen darf. Sie bringen mich in eine schwierige Situation. Als Mitwisser oder Eingeweihter trägt man gewissermaßen auch einen Teil der Verantwortung.”. Damit habe ich bislang jedenfalls gute Erfahrungen gemacht.
  • Als ich mit meinem damaligen Therapeuten über das Thema sprach, gab er mir den Tipp, in etwa Folgendes zu sagen, wenn es sich stimmig anfühlt: “Es täte mir wirklich sehr leid und es würde mich traurig machen, wenn ich erfahren müsste, dass Sie sich das Leben genommen hätten.”
  • Schließen Sie einen Suizid-Vertrag ab und/oder entwickeln Sie gemeinsam mit Ihren Klienten einen Krisenplan.
  • Im Notfall: Sorgen Sie für eine anschließende Betreuung. Die Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik (aufgrund einer akuten Selbstgefährdung) kann allerdings einen irreparablen Vertrauensverlust zur Folge haben! Deshalb sollte man meiner Ansicht nach vorab den Versuch unternehmen, die Situation zu deeskalieren und eine andere Möglichkeit zu finden (z. B. Familie, Freunde etc.).
  • Lassen Sie Klienten nicht einfach gehen, wenn ernsthafte (akute) Suizidgedanken geäußert werden. Setzen Sie das Gespräch dann solange fort, bis eine emotionale Beruhigung spürbar wird und ein Notfallplan erstellt ist!

Weiterführende Informationen zum Thema “Suizidalität”

Besonders gefährdet, einen Suizid zu begehen, sind Menschen, die an einer Depression leiden. Ca. 50% der Betroffenen waren daran erkrankt. Weitere Gefährdungsrisiken bestehen bei Alkoholismus und/oder Drogenabhängigkeit (ca. 20%), Schizophrenie (ca. 10%), vergangenen Suizid-Vorkommen in der Familie, früheren Suizidversuchen, in biologischen Krisenzeiten (Pubertät, Schwangerschaft, Wochenbett, Wechseljahre), bei zerrütteten Familienverhältnissen, Identitätsverlust und Migration, Einsamkeit bzw. Isolation, beim Fehlen religiöser Bindungen, nach critical life events, bei Schuld- und Insuffizienzgefühlen,andauernden Schlafstörungen, unheilbaren Krankheiten oder chronischen Schmerzen.

Antidepressiva können Suizidgedanken hervorrufen | Visite | NDR

“Antidepressiva werden verschrieben, um schwer depressive Menschen von negativen Gedanken abzukoppeln. In Ausnahmefällen rufen die Medikamente aber Suizidgedanken hervor.” In dieser Dokumentation geht es vor allem um die Nebenwirkungen der sogenannten SSRI-Antidepressiva. Eines der Symptome, das als Warnsignal gedeutet werden kann, ist die Akathisie (quälende Unruhe).

(Leider ist das o. g. Video nicht mehr verfügbar.)

Die beiden folgenden Modelle sind nützliche Heuristiken, die dabei helfen können, das Suizidrisiko von Menschen besser einzuschätzen:

Stadien der Suizidalität nach Erwin Ringel (1969)

  • 1. Präsuizidales Syndrom
    • Einengung (Suizid als letzter Ausweg)
    • sozialer Rückzug und Vorbereitung der suizidalen Handlung
    • Aggressionsumkehr (Wut, Autoaggression)
    • Suizid- und Todesfantasien
    • Anhedonie
    • depressiver Affekt (Antriebsminderung, Affektverflachung)
  • 2. Vorbereitungsstadium

Phasen der Suizidalität nach Walter Pöldinger (1968)

  • Erwägungsphase (Suizidgedanken)
  • Ambivalenzphase (Merkmale: Andeutungen und Appelle)
  • Entschlussphase & Ruhephase (Merkmale: verdächtig aufgeräumt, gelöst)

Wen sollte bzw. muss man im Notfall (d. h. bei akuter Selbstgefährdung von Klienten) kontaktieren?

  • Sozialpsychiatrischer Dienst
  • 112 (Notruf)
  • 110 (Polizei, nur in Bayern, laut Unterbringungsgesetz)

Bei einem Verdacht auf Suizidalität wird empfohlen, ein Gespräch mit einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie zu führen, um sich ggf. abzusichern und das weitere Vorgehen abzustimmen.

Das Leben nach einem Suizidversuch | SRF DOK

Jeden Tag versuchen in der Schweiz rund 50 Menschen, ihr Leben selbst zu beenden – und überleben. Im berührenden «DOK»-Film «Das Ende war der Anfang» erzählen Menschen, wie es dazu kam, dass sie ihrem Leben selbst ein Ende setzen wollten. Und wie sie den Weg zurück ins Leben und in die Gesellschaft wieder gefunden haben. Weil es einen Anfang gibt nach dem Ende.

Im Notfall können sich Betroffene, Angehörige oder Ratsuchende in Deutschand kostenfrei und rund um die Uhr an die TelefonSeelsorge wenden: 0800 / 111 0 111 oder 111 0 222.

Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention hat es sich zur Aufgabe gemacht, die praktische und wissenschaftliche Arbeit zu fördern, um Suizidalität zu verstehen, Konzepte adäquater Hilfen zu erarbeiten und Suizide zu verhindern.

Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Hermann Hesse, das mir persönlich sehr gut gefällt und vielleicht etwas Zuversicht vermittelt: “Wahrlich, keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt.”

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Sozialpsychologie mit Prof. (Dr. Hans-Peter) Erb

In der Sozialpsychologie wird untersucht, welchen Einfluss die tatsächliche oder vorgestellte Anwesenheit anderer auf menschliches Verhalten und Erleben hat. Auf einem YouTube-Kanal erläutert Prof. Dr. Hans-Peter Erb zahlreiche Fachbegriffe, die in diesem Forschungsgebiet eine Rolle spielen.

Worum es in den Interviews geht, erfahren Sie weiter unten. Die einleitenden Texte habe ich den jeweiligen Kurzbeschreibungen bei YouTube entnommen, gekürzt und teilweise ein wenig umformuliert. Vorab erfahren Sie aber noch, was Prof. Dr. Hans-Peter Erb motiviert, auf einem YouTube-Kanal über grundlegende Konzepte aus dem Forschungsfeld der Sozialpsychologie zu sprechen.

H.-P. Erb: “Das Team von „Sozialpsychologie mit Prof. Erb“ hat einfach Spaß daran, diesen Kanal zu betreiben. Wir wählen Themen aus, die wir spannend finden, und versuchen die Inhalte in freundlicher Atmosphäre so zu präsentieren, dass praktische alle sie verstehen können. Besonders spannend finden wir die Reaktionen: Warum wird das Video zur „Kognitiven Dissonanz“ mehr als 20.000-mal aufgerufen, das zu „Bauchentscheidungen“ aber nur 500-mal, obwohl wir es eigentlich umgekehrt erwartet hätten?

Die Sozialpsychologie hat eine enge Beziehung zum Alltag der Menschen. Soziale Beziehungen beeinflussen wie wir denken, fühlen und handeln. Wer über sozialpsychologische Phänomene Bescheid weiß, wird sich und andere besser verstehen können. Das Wissen ist verfügbar. Aber wer liest schon Lehrbücher oder gar wissenschaftliche Fachartikel? Hier kann der Kanal eine Brücke schlagen zwischen dem „Elfenbeinturm“ der Wissenschaft und der Relevanz, die Sozialpsychologie für alle Menschen jeden Tag hat.

Wir hatten von Anfang an im Sinn, dass ein großer Teil unseres Publikums aus Studierenden der Psychologie und verwandten Fächern wie Soziologie, Pädagogik, Sozialarbeit usw. besteht. Vieles spricht dafür, die Inhalte aus Vorlesung oder Seminar mit Hilfe eines Videos zu wiederholen, bevor man sich mit der Fachliteratur genauer auseinandersetzt.

Schließlich ergibt sich auch ein Motiv hinter „Sozialpsychologie mit Prof. Erb“ aus der Qualität mancher selbsternannter Psycho-Ratgeber auf YouTube auf dem Niveau von „Die 10 krassesten Psycho-Tricks“. Die Psychologie ist eine seriöse und wunderbare Wissenschaft. Diese Botschaft übermittelt der Kanal an derzeit etwa 9.000 Menschen monatlich. Und für die Zukunft wünschen wir uns, dass es bald doppelt so viele sein werden.”

Dr. Hans-Peter Erb ist seit 2007 als Professor für Sozialpsychologie an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg tätig. Seine Forschung umfasst die Themen Persuasion, Urteilsbildung im Allgemeinen und Sozialer Einfluss durch Minderheiten und Mehrheiten. Webseite: www.hsu-hh.de/sozpsy, E-Mail: erb@hsu-hh.de.

Im Folgenden finden Sie die Links zu zahlreichen Interviews aus dieser Serie bei YouTube. Die ausgewählten Videos sind den Themenfeldern „1. Persönlichkeit“, „2. Motivation & Verhalten“, „3. Sozialverhalten“ „4. Soziale Beeinflussung“ und „5. Fehlurteile & Selbsttäuschungen“ zugeordnet und innerhalb dieser Kategorien in einer möglichst stimmigen Abfolge aufgelistet:

1. Persönlichkeit

Wer bin ich? Oder was glaube ich, wer ich bin? Wie bzw. woraus entwickeln Menschen ihr Selbstkonzept?

Bei der Introspektion richtet der Mensch seine Aufmerksamkeit nach innen und macht sich Gedanken über die eigene Person und ihr psychisches Funktionieren. Aber wie zuverlässig ist Introspektion als Quelle individueller Selbsterkenntnis? Können wir uns selbst verstehen? Warum ist Introspektion fehleranfällig und wie kann eine realistische Selbsteinschätzung gelingen?

Das Selbstwertgefühl ist eine Einstellung gegenüber der eigenen Person: “Mag ich mich oder mag ich mich nicht?” Eine positive Einstellung sich selbst gegenüber ist eine wichtige Grundlage für individuelles Glück und ein erfolgreiches Leben. Interessant sind hier auch die Aussagen von Isabell Mezger, die gegen Ende des Videos über ihr eigenes Selbstwertgefühl spricht.

Dass wir bestimmte Einstellungen zu vielen Objekten und Menschen haben, ist vielen von uns bewusst. Wir reagieren mit guten oder schlechten Gedanken und Gefühlen auf solche Objekte und richten unser Verhalten danach aus.

Wenn wir uns nicht gut fühlen, weil unser Verhalten nicht zu unseren Überzeugungen passt, dann bezeichnen Psychologen diesen Zustand als “kognitive Dissonanz”.

Kreativität ist die Fähigkeit, die zu herausragenden Leistungen in Kunst oder Wissenschaft, aber auch zu nützlichen Einfällen im Alltag verhelfen kann. Die Befähigung liegt darin, Lösungen oder neue Möglichkeiten zu (er-)fnden, die in irgendeiner Weise nützlich sind. Was macht kreative Menschen aus und welche Situationen können Kreativität fördern?

Intelligenz beschreibt die Fähigkeit von Menschen in neuen Situationen Probleme zu lösen, die Denken erfordern. Was hat Intelligenz mit Wissen zu tun, wird sie vererbt oder gelernt, wie misst man Intelligenz und macht eine hohe Intelligenz glücklich?

Anders als im Alltag hat der Begriff “Persönlichkeit” in der Psychologie eine ganz spezielle Bedeutung. Man verwendet ihn dort insbesondere, um Unterschiede im Verhalten von Menschen zu erklären, die sich in derselben bzw. in einer vergleichbaren Situation befinden.

Die Big Five Persönlichkeitsfaktoren erfassen die zentralen Charaktereigenschaften (lexikalischer Ansatz). Dazu gehören Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für neue Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit.

Neu: Merkmale, die von vielen unterschiedlichen Faktoren beeinflusst werden, sind häufig normalverteilt. Das heißt, dass mittlere Werte häufiger vorkommen als extrem kleine oder extrem große Werte. Normalverteilt sind viele Größen in der Psychologie, wie z. B. Intelligenz oder Extraversion.

Menschen mit einer hohen Ambiguitätstoleranz sind offen für den Umgang mit mehrdeutigen Situationen. Sie reagieren positiv auf Spontaneität und sind offen für den Umgang mit Unerwartetem. Leute mit geringer Ambiguitätstoleranz planen gern genau und bevorzugen eindeutige Antworten, auch auf komplexe Fragen.

Need for Closure: Menschen unterscheiden sich dahingehend, wie sehr sie dazu neigen (bzw. es mögen), schnell zu entscheiden, ohne vorab alles genauestens zu durchdenken.

Narzissmus ist eine Persönlichkeitseigenschaft, die mit hoher Eigenliebe einhergeht. Was macht einen Narzissten aus? Wie erkennt man Narzissten im Alltag und wie kann man mit Narzissten umgehen? Wird unsere Gesellschaft immer narzisstischer?

Für den Autor des Buches “Ein Narzisst packt aus”, Leonard Anders, ist die Lehrbuchmeinung über Narzissmus nur eine Seite der Medaille. Im Interview berichtet er über das Innenleben bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung, darüber mit welchen Gefühlen und Gedanken Narzissmus einhergeht und wie man schließlich davon auch geheilt werden kann.

Autoritarismus: Die autoritäre Persönlichkeit zeichnet sich durch potenziell antidemokratische Einstellungen und Verhaltensweisen aus. Autoritätsgläubigkeit, Identifikation mit der Macht, Ablehnung von Schöngeistigem, Vorurteile gegenüber Minderheiten und Herabsetzung von anderen Menschen sind Merkmale dieser Persönlichkeitsstruktur.

Gehorsamkeit: In den berühmten Milgram-Experimenten wurden Menschen dazu gebracht, (vermeintlichen) Versuchspersonen gesundheitsschädliche, ja sogar tödliche Elektroschocks zu verabreichen. Sind das ganz besonders böse Menschen oder Leute wie du und ich? Wie weit und unter welchen Bedingungen neigen Menschen dazu, dem Befehl einer (selbsternannten) Autorität Folge zu leisten?

Individualismus und Kollektivismus: In individualistischen Kulturen steht der Unterschied der Menschen zu anderen Menschen im Fokus, während in kollektivistischen Kulturen die Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen betont werden. Was ist der Unterschied zwischen einer interdependenten und einer independenten Selbstkonstruktion?

Wie groß ist die Macht der Masse? Der Mensch neigt zur Konformität. Mit dem Strom zu schwimmen, gibt uns das Gefühl, mit Sicherheit das Richtige zu tun. Querdenker dagegen haben es viel schwerer. Doch was verbirgt sich hinter dem Phänomen der Konformität und warum verhalten wir uns in manchen Situationen konform?


2. Motivation & Verhalten

Neu: Um “gute Vorsätze” umzusetzen, benötigen wir Menschen Willenskraft und müssen Selbsterschöpfung vermeiden. Unter dem Stichwort Selbstregulation lässt es sich untersuchen, unter welchen Bedingungen, Menschen es eher schaffen zu erreichen, was sie sich vorgenommen haben.

Mithilfe der Theorie des geplanten Verhaltens kann man erklären, warum Einstellungen sich manchmal in Verhalten äußern und manchmal auch nicht.

Menschen entscheiden häufig “irrational” und verletzen dabei normative Modelle, wie etwa aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung oder der Ökonomie. Irrational bedeutet aber nicht, dass solche Abweichungen unsystematisch erfolgen und sich nicht beschreiben und vorhersagen lassen. Die Prospect Theory erklärt, wie Menschen Entscheidungen treffen.

Bauchentscheidungen: Mehr als 90 % unserer Entscheidungen treffen wir auf der Grundlage des Bauchgefühls. Was aber sind Bauchentscheidungen? Und wie gut sind sie? Ist die weibliche Intuition besser als die männliche?

Wir alle streben danach, Angenehmes herbeizuführen und Unangenehmes zu vermeiden. Dieses Prinzip ist die Grundlage der Theorie des regulatorischen Fokus. Sie unterscheidet, ob Menschen danach streben das Maximum zu erreichen (Promotion Fokus) oder eher danach , möglichst keine Fehler zu machen (Prevention Fokus).

Wie kann man Menschen überzeugen? Ein schon “klassisch” zu nennendes Modell, das Elaboration-Likelihood-Model, beschreibt, wie Menschen auf Botschaften reagieren, mit denen ihre Einstellungen verändert werden sollen (z. B. in der Werbung). Dabei spielen die Motivation und die Fähigkeit, ausführlich Information zu verarbeiten, eine entscheidende Rolle.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der Wahlfreiheit und der Reaktanz? Wird dieser Effekt auch in der Werbung genutzt? Wo und wie kann man ihn im Alltag beobachten?

Intrinsisch motiviert sind Tätigkeiten, die dem eigenen Interesse entsprechen und Spaß bringen. Extrinsisch motivierte Handlungen werden ausgeführt, weil sie von außen belohnt werden, etwa durch ein Gehalt oder Schulnoten. Intrinsische und extrinsische Motivation voneinander zu unterscheiden, hilft das Verhalten von Menschen im Alltag besser zu verstehen.

Wenn Menschen überlegen, warum ein bestimmtes Ereignis eingetreten ist, führen sie Attributionen durch. Ein fundamentales Modell, das den Attributionsprozess beschreibt und erklärt, stammt von H. H. Kelley. Es wird auch ANOVA-Modell der Attribution genannt.

Prophezeiungen können Einfluss auf das Ereignis nehmen, das sie vorhersagen. Wenn ein Ereignis nur oder vor allem deshalb eintreten ist, weil es vorhergesagt wurde, spricht man von selbsterfüllenden Prophezeiung. Warum hat das im Alltag eine so große Bedeutung? Und was sind selbstzerstörende Prophezeiungen?


3. Sozialverhalten

Menschen geben sich Mühe, bei anderen einen möglichst guten Eindruck zu hinterlassen. Strategien, die dazu eingesetzt werden, werden unter dem Begriff “Impression Management” zusammengefasst. “Theater spielen” ist weit verbreitet, und “hinter die Kulissen schauen” wird negativ bewertet. Bei welchen Gelegenheiten spielen wir besonders gern Theater und welche Strategien setzen wir dabei ein?

Sozialer Vergleich: Wir alle vergleichen uns immer wieder. Mit Menschen, denen es besser geht, mit Menschen, denen es schlechter geht, und natürlich auch mit uns selbst über die Zeit hinweg. Was fühlen wir dabei? Was können wir aus dem Vergleich mit anderen lernen?

Warum ist der erste Eindruck über eine Person so wichtig? Lässt sich ein schlechter erster Eindruck korrigieren? Gehen Experten anders vor, wenn sie sich einen Eindruck bilden? Was können wir tun, damit wir einen möglichst guten ersten Eindruck hinterlassen?

Was sind Stereotype und woher kommen sie? Welche Funktion haben sie in unserem täglichen Leben und wie helfen sie uns dabei, kognitive Energie zu sparen?

Der Schönheitsstereotyp: Werden schöne Menschen anders beurteilt? Sind sie intelligenter, erfolgreicher und sozial kompetenter? Warum haben es „die Schönen“ häufig leichter im Leben?

Diskriminierung bedeutet Verweigerung der Gleichbehandlung auf Grund der Gruppenmitgliedschaft einer Person unter Vernachlässigung ihrer individuellen Eigenschaften, Verdienste usw. Auch Sprache kann diskriminieren.

Neu: Das Minimalgruppen-Paradigma beschreibt eine experimentelle Vorgehensweise, bei der Menschen ganz beliebig in völlig unbedeutende Gruppen eingeteilt werden, z. B. in Klee- oder Kandinski-Fans. Obwohl die Gruppen keine Geschichte haben, die Mitglieder vollkommen anonym bleiben usw., reagieren Menschen in mancher Hinsicht ganz unerwartet.

Ein Stigma ist ein negativ bewertetes Merkmal einer Person – Beispiele sind körperliche oder geistliche Gebrechen, Langzeitarbeitslosigkeit, ungewöhnliche sexuelle Neigungen usw. Stigmatisierung enthält generalisierte Annahmen über Menschen mit Stigma mit weitreichenden Konsequenzen für die Betroffenen und das Zusammenleben als Ganzes. Warum ist Selbststigmatisierung nicht weniger problematisch?

Lügen ist ein sehr häufiges Alltagsphänomen. Woran kann man erkennen, ob bzw. wann jemand lügt? Gibt es unterschiedliche Arten von Lügen? Lügen Frauen anders als Männer und gibt es tatsächlich notorische Lügner?

Reziprozität: “Wie du mir, so ich dir” ist eine im Alltag wichtige Regel, die das Zusammenleben der Menschen entscheidend beeinflusst. Die soziale Norm, dass man Gefallen zurückzahlen muss, wirkt unbewusst und lässt sich nur schwer überwinden.


4. Soziale Beeinflussung

Sozialer Einfluss im Alltag: “Foot- in-the-door” oder “Door-in-the-face” sind zwei Techniken, die beim Verhandeln häufig eingesetzt werden. Wie funktionieren sie, wie kann man sie nutzen oder sich ggf. davor schützen?

Der autokinetische Effekt ist der Name für eine optische Täuschung, bei der sich ein Lichtpunkt in dunkler Umgebung zu bewegen scheint, obwohl er in Wirklichkeit feststeht. Der autokinetische Effekt wurde in einem klassischen Experiment zum Thema „soziale Beeinflussung“ genutzt, um zu demonstrieren, wie innerhalb von Gruppen Normen entstehen und aufrechterhalten werden.

Gruppendenken oder auch “Group Think” beschreibt ein Phänomen, bei dem bei Gruppenentscheidungen der Zusammenhalt innerhalb der Gruppe wichtiger erscheint als die Beachtung realer Fakten. Unter Gruppendenken entscheiden Kommissionen, Vorstände aber auch Freundeskreise und Familien oft schlecht und an der Realität vorbei. Welche Bedingungen führen zum Gruppendenken und wie können Gruppen sich davor schützen?

Arbeiten Menschen besser in Gruppen oder alleine? Wie so oft bei solchen Fragen lautet auch hier die Antwort: Es kommt darauf an. Soziale Erleichterung findet man, wenn Aufgaben einfach zu erledigen sind. Geht es um schwierige Aufgaben, arbeiten Menschen dagegen besser alleine.

Soziales Faulenzen: Bei der Arbeit in Gruppen, neigen Menschen dazu, sich auf die Leistung der anderen zu verlassen. Wie stark der Kraftaufwand beim Einzelnen sinkt, lässt sich – beim Tauziehen zum Beispiel – sogar messen.

Emotionale Ansteckung: Menschen tendieren dazu, die Gefühle anderer Menschen unbewusst zu übernehmen. Wir imitieren Mimik, Gestik, Körperhaltung usw. eines Gegenübers und empfinden schließlich dasselbe.

Emotionen

Neu: Schlechte Laune? Was sind eigentlich Stimmungen und wie unterscheiden sie sich von Emotionen wie Freude oder Ärger? Und wenn wir einmal schlechte Laune haben, was können wir dagegen tun?

Was ist eigentlich Liebe? Menschen lieben ihre Partnerin oder ihren Partner, Familienmitglieder, Gott, die Natur, Haustiere oder ganz banale Objekte wie Autos oder Musikinstrumente können Objekt der Liebe sein. Merkmale sind Bindung, Nähe, Vertrautheit, Leidenschaft und vieles mehr.

Neu: Untreue ist ein Vertragsbruch zwischen Partnern. Unter welchen Bedingungen und in welchen Situationen werden Menschen untreu? Gibt es Menschen die eher zu Untreue tendieren? Und wie reagieren die Betrogenen?

Einerseits ein Liebesbeweis, andererseits eine Belastung für die Beziehung: Eifersucht kennen wir alle! Was verbirgt sich hinter dem Gefühl und was kann man dagegen tun?

Kann Gewalt in den Medien aggressives Verhalten begünstigen? Oder können Menschen vielleicht sogar ihr aggressives Potenzial durch Gewaltkonsum abbauen? Und über welche psychische Mechanismen wirkt Gewalt in den Medien auf das Verhalten?

Neu: Unsere Gespräche im Alltag folgen ihren eigenen Regeln – den Konversationsregeln. Diese Regeln lassen sich formulieren. Und manchmal werden sie auch bewusst verletzt, zum Beispiel um einen Witz zu produzieren. Denn was gesagt wird, ist noch lange nicht gemeint.


5. Fehlurteile & Selbsttäuschungen

Die Tendenz, das Verhalten anderer Menschen auf deren Persönlichkeitseigenschaften zurückzuführen, wird fundamentaler Attributionsfehler genannt. Wie kommt es dazu und welche Konsequenzen hat das?

Wenn eine Eigenschaft einer Person alles “überstrahlt”, spricht man in der Sozialpsychologie vom Halo-Effekt (deutsch Heiligenschein-Effekt).

Objektive Bewertungen vorzunehmen, fällt uns Menschen nicht immer ganz leicht. Der Rosenthal-Effekt beschreibt, wie sich unsere Erwartungen auf unsere Beurteilungen auswirken können.

Täglich begegnen wir unzähligen Menschen und Objekten. Unsere Bewertung derselben hängt auch davon ab, wie oft wir sie sehen bzw. wie oft wir sie schon gesehen haben. Dahinter verbirgt sich ein Phänomen, das Mere Exposure Effect genannt wird.

Priming bezeichnet einen Vorgang, bei dem ein Konzept (z. B. Tisch) ein anderes Konzept (z. B. Stuhl) aktiviert. Verwandte Konzepte rufen sich gegenseitig auf und beeinflussen so unsere Urteile und Verhaltensweisen, ohne dass es uns bewusst wird. Es können auch soziale Inhalte “geprimt” werden. So aktiviert etwa das Konzept “Professor” das verwandte Konzept “zerstreut”. Das kann unser Urteil über eine andere Person beeinflussen, insbesondere dann, wenn sie mehrdeutige Verhaltensweisen zeigt.

Im Nachhinein ist man immer klüger. Der Rückschaufehler (Hindsight-Bias) beschreibt das Phänomen, dass sich Menschen verzerrt an ihre Prognosen erinnern, sobald sie das tatsächliche Ergebnis kennen. Wie kommt es zu dem Gefühl, dass wir am Ende unsere Fähigkeit zur Prognose überschätzen? Und welche Konsequenzen hat diese Selbstüberschätzung?

Menschen tendieren dazu, Information bevorzugt zu verarbeiten, die dem entspricht, was sie schon immer gedacht und geglaubt haben. Wie führt uns der Confirmation Bias im Alltag in die Irre? Lassen sich eigene Urteile und Entscheidungen verbessern, wenn man auch nach Informationen sucht, die nicht dem entsprechen, was man bereits glaubt zu wissen?

Klingelt bei Ihnen auch immer das Handy, wenn sie gerade unter der Dusche stehen? Oder ist die Katze immer dann im Weg, wenn es am meisten stört? Tatsächlich haben Menschen häufig das Gefühl, dass zwei Ereignisse gemeinsam auftreten, auch wenn das objektiv gar nicht stimmt. Dieses Phänomen wird “Illusorische Korrelation” genannt. Was steckt dahinter und wie kann die Illusorische Korrelation dazu führen, dass Vorurteile gegenüber Minderheiten entstehen?

Dunning-Kruger-Effekt: Arbeite ich von allem im Team am meisten? Bin ich eine weit überdurchschnittlich gute Autofahrerin? Das glauben zum Beispiel 90 % aller Befragten. Wie kommt es zu dieser Art Selbstüberschätzung? Und welche Konsequenzen hat die Selbstüberschätzung? Warum überschätzen sich gerade diejenigen am meisten, die am wenigsten kompetent sind.

Mit künstlich erzeugter Sympathie, mit angeblicher Expertise und mit dem Hinweis, dass viele andere etwas auch gut finden, können menschliche Urteile und Entscheidungen im Alltag beeinflusst werden. Viele Verkäufer und Werbetreibende nutzen die Sympathie-, Experten- und Konsensheuristik, um ihre Waren und Dienstleistungen zu verkaufen.

Wie typisch ist ein Exemplar für eine Kategorie? Welche Lottozahlen sollte man also tippen? Die Repräsentativitätsheuristik führt Menschen manchmal aufs Glatteis.

Bei (Ein-)Schätzungen orientieren wir uns oftmals an Werten, die uns aktuell präsent sind. Zum Beispiel schätzen wir den Eiffelturm höher, wenn wir unmittelbar vorher an eine große Zahl gedacht haben, und niedriger bei einer kleinen Zahl. Dieses Phänomen wird Anker-Effekt genannt.

Neu: Das “Asian Disease Problem” ist eine Entscheidungssituation, bei der sich demonstrieren lässt, dass ein und dasselbe Problem unterschiedliche Reaktionen auslöst, je nachdem ob die Konsequenzen von Entscheidungen als Verlust oder als Gewinn “geframt” werden.

Dieser Blog-Artikel wird fortlaufend um neue Themen erweitert.

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Das Innere Team der Psychohygiene

Haben Sie manchmal den Eindruck, Ihre Gedanken würden sich immer wieder im Kreis drehen? Dann könnte es sein, dass Sie nicht nachdenken, sondern grübeln. Das Grübeln scheint kaum kontrollierbar zu sein und führt in der Regel zu unangenehmen Gefühlen, beeinträchtigt unsere Konzentration oder raubt uns den Schlaf.

Was können Sie dagegen tun?

  • Nehmen Sie sich einen Zettel sowie einen Stift und notieren Sie sämtliche Gedanken, die Ihnen beim Grübeln so durch den Kopf gehen bzw. gegangen sind.
  • Durch das Aufschreiben der Gedanken kann es (leichter) gelingen, sie zu strukturieren und sich ggf. von ihnen zu lösen, sie also “loszulassen”.
  • Anschließend ist es hilfreich, sich bestimmte Fragen zu den jeweiligen Gedanken zu stellen und dabei verschiedene Perspektiven einzunehmen.

In dem Modell des Inneren Teams von Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun wird davon ausgegangen, dass die Persönlichkeit eines Menschen aus verschiedenen (teilweise widersprüchlichen) Anteilen besteht, die ganz unterschiedliche Aufgaben und/oder Bedürfnisse haben.

“Das Denken ist das Selbstgespräch der Seele.” Platon

In jenen Situationen, in denen wir zum Grübeln neigen, können wir uns nun vorstellen, dass verschiedene Persönlichkeitsanteile das Problem, um das unsere Gedanken kreisen, aus einer jeweils ganz spezifischen Perspektive betrachten (“Aufgaben”) und entsprechende “Fragen” stellen. Um nun einen inneren Dialog mit ihnen zu führen, wird empfohlen, diesen Anteilen einen Namen zu geben und sie zu visualisieren. Die Fragen, die zu Ihren Gedanken passen, können Sie sich aber auch einfach so beantworten.

Persönlich hat es mir zum Beispiel sehr geholfen, einen Anwalt in mein Inneres Team einzuberufen, den ich Ben Matlock genannt habe. Er hat seitdem die Aufgabe, mich vor mir selbst (d. h. vor meinem inneren Richter und Ankläger) zu verteidigen und mich von irrationalen Schuldgefühlen zu befreien.

Literatur:

  • Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden 3 – Das „Innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation. Sonderausgabe, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011 (Die Originalausgabe erschien erstmals 1981).

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„Sprechstunde“ beim Betriebspsychologen

Den Statistiken der Krankenkassen zufolge haben psychische Erkrankungen seit Jahren Hochkonjunktur. So berichtete z. B. der Karriere SPIEGEL im Juli 2019, dass sich die Zahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme laut DAK Psychoreport 2019 in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdreifacht hat. “Der DAK-Psychoreport ist eine Langzeit-Analyse, für die das IGES Institut die anonymisierten Daten von über zwei Millionen erwerbstätigen Versicherten ausgewertet hat. Demnach erreichten die Krankschreibungen von Arbeitnehmern aufgrund von psychischen Leiden im Jahr 2019 mit rund 260 Fehltagen pro 100 Versicherte einen Höchststand. Der Blick auf die Einzel-Diagnosen zeigt, dass Depressionen und Anpassungsstörungen die meisten Ausfalltage verursachten.” (Quelle: https://www.psychologie-aktuell.com/news/)

Die meisten Unternehmen investieren viel Geld für die Aus- und Weiterbildung ihrer Fach- und Führungskräfte. Von Mitarbeitern, die zu “Problemfällen” werden, trennt man sich hingegen lieber schleunigst. Führungskräfte sind im Alltag mit vielen Aufgaben betraut und tragen in der Regel eine hohe Verantwortung. Dass sie ihren Mitarbeitern deshalb nicht immer die volle Aufmerksamkeit widmen können, ist verständlich. Viele Gespräche werden eher zwischen Tür und Angel geführt und kleinere Probleme bleiben meist unausgesprochen. An wen können Beschäftigte sich aber wenden, wenn sie in eine Krise geraten? Gibt es der Geldbeutel her, findet man im Internet etliche Coaches, Berater und Therapeuten, die sich als Gesprächspartner anbieten und schnelle Hilfe versprechen. Ob solche Angebote in Anspruch genommen werden, hängt meiner Erfahrung zufolge allerdings nicht ausschließlich vom Leidensdruck ab, sondern wohl vor allem auch von den etwaigen Kosten oder Mühen, die das mit sich bringen kann.

Psychologische Beratung für Mitarbeiter/-innen und Führungskräfte

Das Wort „Krise“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet so etwas wie „Zuspitzung“. Man versteht darunter eine (problematische) Entscheidungssituation, die oftmals mit einem Wendepunkt verknüpft ist. Gerät man nun (unvorbereitet) in eine solche Situation und glaubt sich selbst nicht mehr helfen zu können, ist es gut, sich an jemanden zu wenden, der einen dabei unterstützen kann, Klarheit in den Strudel der eigenen Gefühle und Gedanken zu bringen. Im Idealfall geht man dann gestärkt aus der Krise hervor.

Zunehmender Leistungsdruck, Arbeitsverdichtung, das Gefühl der Fremdbestimmtheit sowie die Angst vor dem sozialen Abstieg führen immer häufiger dazu, dass Menschen bis zur Erschöpfung arbeiten und erkranken. Wer die Grenzen der eigenen Belastbarkeit dauerhaft ignoriert und bereits an Konzentrations- oder Schlafstörungen leidet, zum Grübeln neigt und deshalb vielleicht schon depressiv verstimmt ist, sollte also möglichst rasch etwas tun. Da eine Psychotherapie allerdings erst dann infrage kommt, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, stellt sich in vielen Unternehmen – nicht erst seit dem 2015 erlassenen Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention – die Frage, wie man die eigenen Mitarbeiter/-innen gezielt dabei unterstützen kann, auch psychisch gesund zu bleiben? Da psychische Probleme sehr vielschichtig sein können, sind Aufklärungskampagnen oder entsprechende Seminare zwar gewiss ein probates Mittel, um für diese Thematik zu sensibilisieren, ob bzw. inwieweit sie aber einer Zunahme psychischer Erkrankungen tatsächlich entgegenwirken, ist fraglich. Deshalb wird den Mitarbeitern/-innen vielerorts ggf. auch eine individuelle Unterstützung angeboten:

1. Coaching

Viele – insbesondere größere – Unternehmen engagieren dafür ausgewählte Coaches. Die sind aber in der Regel nicht gerade günstig. Stundensätze von ca. € 150 bis zu € 500 sind keine Seltenheit. Obwohl die Mitarbeiter/-innen das nicht aus eigener Tasche bezahlen müssen, überlegen diese es sich wahrscheinlich sehr genau, ob Kosten und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen? Zumindest sind die Arbeitgeber, die diese Gespräche finanzieren, daran interessiert, dass sie möglichst effizient sind. Dafür sollte es möglichst klar definiert sein, worum es in dem Coaching geht? Welche Themen werden besprochen und mit welchem Ziel? Dann muss natürlich noch ein passender Coach ausgewählt und ein Termin vereinbart werden etc. “Niedrigschwellig” ist das m. E. nicht.

2. Psychologische Beratung

Die Inanspruchnahme einer Psychologischen Beratung sollte für die Mitarbeiter/-innen eines Unternehmens hingegen auch anonym und ohne eine Offenlegung der Beweggründe bzw. der Problematik möglich sein. Um einen niedrigschwelligen Zugang zu gewährleisten, halte ich es für zweckmäßig, die Gespräche während der Arbeitszeit in unmittelbarer Nähe der Arbeitsstätte zu führen. Anbieten würde sich dafür bspw. entweder ein Employee Assistance Program oder der Einsatz eines/-r Betriebspsychologen/-in.

Doch an welchen Kriterien sollte man sich orientieren, um auf einem unüberschaubar wachsenden Markt das passende Angebot zu finden?

  • Qualifikationen: Achten Sie bei der Auswahl eines Angebots auf entsprechende Qualifikationen bzw. Ausbildungen. Diese sollten auf den Webseiten angegeben sein. Fehlen solche Hinweise, fragen Sie danach!
  • Empfehlungen: Da Zertifikate allein wenig über die tatsächliche Qualität eines Anbieters aussagen und oftmals mehr „Schein als Sein“ sind, ist es ratsam, sich an diejenigen zu wenden, mit denen andere bereits gute Erfahrungen gemacht haben.
  • Transparenz: Lassen Sie sich erläutern, wie die Unterstützung konkret aussieht bzw. was sie beinhaltet. Informieren Sie sich über die Vorgehensweise sowie über die Methoden, die in diesem Zusammenhang zum Einsatz kommen

Was hat das mit mir zu tun?

Seit einiger Zeit bin ich u. a. als “Betriebspsychologe” in drei größeren Unternehmen tätig. Dort biete ich in zwei- bzw. vierwöchigen Abständen eine „Psychologische Sprechstunde“ für die Mitarbeiter/-innen und Führungskräfte an. Die Themen, um die es in den Gesprächen geht, sind ganz unterschiedlich. Nicht selten sind es aber Probleme aus dem privaten Bereich, die die Menschen zu mir führen. Diese haben allerdings oft schon erhebliche Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit sowie die Gesundheit der Betroffenen. Möchte man also den Krankenstand in einem Unternehmen senken, macht es m. E. Sinn, einen Rahmen zu schaffen, in dem auch persönliche Themen besprochen werden können.

Beispiele bisheriger Arbeitsaufträge:

  • Konflikte oder Belastungen am Arbeitsplatz
  • Individuelles Stressmanagement und Burnout-Prävention
  • Probleme im familiären, persönlichen oder gesundheitlichen Bereich
  • Psychologische Begleitung in Krisen und Notfallsituationen
  • Unterstützung bei der Suche nach geeigneten (psychosozialen) Beratungs- bzw. Hilfsangeboten oder einem Psychotherapieplatz
  • Unterstützung und Hilfestellungen im BEM
  • Umgang mit psychischen Erkrankungen (oder Auffälligkeiten)

Hinweis: Die Inhalte der Gespräche werden absolut vertraulich behandelt („Verschwiegenheitspflicht“). Eine Weitergabe von Informationen oder (eventuell getroffener) Vereinbarungen erfolgt nur mit dem Einverständnis der Betroffenen.

Was geschieht in einer Psychologischen Sprechstunde?

Zu Beginn einer Beratung geht es mir vor allem darum, die Problematik und deren Hintergründe möglichst gut zu verstehen. In diesem Zusammenhang werden ggf. auch bisherige Lösungsversuche sowie deren Konsequenzen besprochen. Ebenfalls ermittle ich den Grad der Belastung und arbeite (vorläufige) Ziele heraus. Zur Strukturierung eines solchen Gesprächs bietet sich bspw. das SORKC-Modell an, ein Verfahren zur Verhaltensanalyse, das aus der Verhaltenstherapie stammt. Anschließend werden individuelle Strategien entwickelt.

  • Verhältnisprävention: Im Vordergrund steht die Frage, ob sich an den äußeren Umständen, die das Problem begründen, etwas ändern lässt? Und falls „ja“, wie das gelingen kann? Bringt die Umsetzung der erarbeiteten Lösungsstrategien unerwartete Schwierigkeiten mit sich oder hat sie unerwünschte Nebenwirkungen, sollte in einem Folgetermin darüber gesprochen und ggf. „nachgebessert“ werden.
  • Verhaltensprävention: Gibt es vielleicht eigene Anteile, die dazu führen oder geführt haben, dass die Situation eskaliert ist? Dann geht es um die Bewusstmachung jener Aspekte (Bewertungen, Einstellungen, Reaktionsmuster etc.), die dazu beitragen oder beigetragen haben, dass sich die Problematik so entwickelt hat, und darum, den Handlungsspielraum wieder zu erweitern. Mittels eines sokratischen Dialogs können bspw. sogenannte „irrationale Überzeugungen“ hinterfragt und dysfunktionales Verhalten ggf. modifiziert werden.

Wie es weitergeht, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab: Da der Umfang meiner Beratung in der Regel auf maximal fünf Termine pro Mitarbeiter/-in begrenzt ist, sollte ich also möglichst schnell entscheiden, ob sich das Problem in diesem Rahmen sinnvoll bearbeiten oder vielleicht sogar ganz auflösen lässt. In vielen Fällen reicht bereits ein klärendes Gespräch, gelegentlich sind weitere Termine dafür erforderlich. Manchmal ist es allerdings zweckmäßiger, auf externe Unterstützungsangebote hinzuweisen oder eine Psychotherapie zu empfehlen. Dann ermutige ich dazu bzw. helfe dabei, sich für ein entsprechendes Angebot zu entscheiden und ggf. einen Termin zu vereinbaren.

In meinen Beratungen arbeite ich vorrangig auf Grundlage verhaltenstherapeutischer Modelle, systemisch und lösungsorientiert. Dabei gehe ich – wie schon Milton H. Erickson oder Steve de Shazer – davon aus, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens bereits so viele Probleme gelöst hat, dass er oder sie für jedes noch kommende oder aktuelle Problem bereits eine Lösung in sich trägt. Meine Aufgabe sehe ich nun vor allem darin, die entsprechenden Strategien bewusst zu machen (“Ressourcen-Screening”) und dabei zu unterstützen, diese in angemessener Weise umzusetzen. Abschließen möchte ich deshalb mit einem Zitat des Schriftstellers Jonathan Swift: „Man wirft den Menschen immer vor, dass sie ihre Mängel nicht erkennen. Noch weniger aber kennen sie ihre Stärken. Sie sind wie das Erdreich. In vielen Grundstücken sind Schätze verborgen, aber der Besitzer weiß nichts von ihnen.”

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“Burnout nun doch amtlich? Eine Verschlimmbesserung!” von Prof. Dr. Matthias Burisch

Matthias Burisch, Burnout-Institut Norddeutschland (BIND)

Was für eine Überraschung. Da war gerade noch in spektrum.de zu lesen: „Seit mehr als 40 Jahren beschäftigen sich Forscher mit dem Thema Burnout, doch noch immer gibt es ihnen viele Rätsel auf. Eine genaue Definition fehlt bis heute.“ Oder, fast gleichzeitig, in einem Interview des Mitteldeutschen Rundfunks, einen prominenten Psychiater hören: „Es gibt auch keine klare wissenschaftliche Definition, was ein Burnout ist und es gibt auch keine offizielle Diagnose.“ Was heißt: Burnout gibt es eigentlich gar nicht!

Aber unmittelbar drauf diese Schlagzeilen: „Burnout-Syndrom: WHO definiert es als Krankheit“ (SPUTNIK NEWS, 26.5.19); „WHO erkennt Burn-out als Krankheit an“ (SPIEGEL ONLINE, 27.5.); „Burn-out erstmals als Krankheit anerkannt“ (ZEIT-ONLINE; 28.5.). Nanu!

Die WHO, das ist die Welt-Gesundheitsbehörde in Genf. Die gibt, alle paar Jahrzehnte neu, die ICD heraus, den internationalen Diagnoseschlüssel. In Deutschland ist das die Ärzte-Bibel. Und da soll nun, nach Jahrzehnten harter Kämpfe, Burnout aufgenommen werden?

Nein, bloß eine Zeitungsente. Noch am Dienstag gab es von SPON das folgende Dementi: „In einer früheren Version hieß es, die WHO habe Burn-out im ICD-11 erstmals als Krankheit anerkannt. Die Organisation hat die Angaben inzwischen präzisiert, wir haben den Text entsprechend korrigiert.“ Tatsächlich hat sich die WHO dazu durchgerungen, Burnout als „occupational phenomenon“ (berufsbezogenes Phänomen) zu bezeichnen, nicht jedoch als „medical condition“, was wohl „Krankheit“ bedeutet hätte. Dazu gibt es eine etwas ausführlichere Symptomliste als bisher. Und eine Einschränkung: Berufsbedingt muss die Sache sein! Diese Einschränkung gab es vorher nicht.

Verbessert sich nun die Lage für Betroffene?

Im Gegenteil. Die Krankenkassen werden Therapien weiterhin sowieso nicht übernehmen. Und: Es war schon bisher unklug, sich mit der Selbstdiagnose Burnout beim Arzt vorzustellen. Da könnte nämlich der Kontakt zum Gutachter Schaden nehmen. Zukünftig sollte man aber alle außer beruflichen Problemen gar nicht mehr erwähnen. Sonst muss der ja sofort abwinken — fällt nicht unter die offizielle Richtlinie! Arbeitslose und Hausfrauen brauchen sich sowieso gar nicht anzustellen.

Schon bisher habe ich Psychiatern und Psychotherapeuten, die Therapien verschreiben möchten, immer den Rat gegeben: Meide das B-Wort in deinem Gutachten! Denn da wird die Kasse hellhörig. Besser nimm amtliche ICD-10-Diagnosen. In Zukunft gilt zusätzlich: Alles unerwähnt lassen, was nicht arbeitsbezogen ist!

Die Regelung ist wirklich hanebüchen. Oft spielt bei Burnout die Berufsarbeit überhaupt keine Rolle. Denken wir an die Ehefrau, die die aggressive Schwiegermutter pflegt. Oder solo den hochproblematischen Nachwuchs erzieht. Auch die Liste der Symptome, wäre sie nicht eh irrelevant, ist äußerst dubios. Aber wer weiß, das war ja erst der Anfang. Vielleicht wird noch nachgebessert?

Von Ausbrennern und Einhörnern

Auch nach dem WHO-Beschluss wird voraussichtlich die Frage offen gehalten werden: Burnout — gibt’s das überhaupt? Jedenfalls in Deutschland. Dazu ein paar Argumente.

Bei Marsmenschen und Einhörnern können wir klar sagen: Nein, die gibt’s wirklich nicht. Aber der Fall Burnout ist auch nur scheinbar vergleichbar. Man kann nämlich Burnout weder sehen noch anfassen. Bei Begriffen dieser Art ist die Frage Gibt’s das? nicht sinnvoll gestellt. Sinnvoller ist die Frage: Ist es nützlich, einen neuen Begriff überhaupt einzuführen? Denn die Psychiatrie ist ja weiß Gott nicht arm an Begriffen. Nehmen wir, beispielsweise, die Depression. Burnout-Leugner sagen in der Regel: Depression, das haben wir immer schon gehabt, mehr braucht‘s nicht. Um dann im selben Atemzug zu erklären, dass Depressive ganz anders behandelt werden sollten als Ausbrenner! Die es ja angeblich gar nicht gibt. Das ist nicht frei von Komik.

In Kliniken passiert genau diese Trennung schon lange. Während man Depressionspatienten in Bewegung zu bringen versucht, auch rein körperlich, bremst man Burnout-Patienten vor übertriebenem Aktionismus aus.

Übrigens: Burnout hat es schon lange gegeben, vielleicht schon immer. Jedenfalls finden sich bereits in der Bibel zwei Fallstudien, natürlich nicht unter diesem Namen. Aber das ist ein längeres Thema.

Ab nach Holland!

Was möglich wäre, zeigt der Blick über eine nahe Grenze: In die Niederlande. Das dortige Krankenversicherungssystem ist anders aufgebaut als unseres. Dort kann man sich gegen gewisse Risiken einzeln versichern, auch gegen Burnout. Letzteres musste natürlich erst einmal definiert werden. Was in Deutschland für undenkbar gilt, gelang dort schließlich, nach einiger Vorarbeit zugegebenermaßen. Drei Spitzenverbände von Psychiatern und Psychologen einigten sich 2011 auf eine praktikable Definition (Übersetzung in meinen Büchern). Übrigens wird Burnout dort nicht auf das Arbeitsleben begrenzt.

Nicht in allen Details bin ich glücklich mit der Definition. Aber sie scheint zu funktionieren. Und Holland ist nicht in Nöte geraten. Das Gesundheitswesen ist nicht kollabiert. Auch aus Österreich und der Schweiz hörte man kürzlich ähnliche Entwicklungen. Wer weiß — vielleicht geht ja auch bei uns noch was, irgendwann?

Kontakt:

Literaturhinweise:

  • Burisch, Matthias (2014). Das Burnout-Syndrom (5. Auflage). Springer Verlag.
  • Burisch, Matthias (2015). Dr. Burischs Burnout-Kur – für alle Fälle. Springer-Verlag.

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